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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 582 / 19.4.2013

Wir sind in einer wichtigen Phase des Experimentierens

Krisenproteste Michael Hardt über Organisationsprozesse, Frustration und die Besonderheiten der Occupy-Bewegung

Interview: Susanne Lang

Michael Hardt ist mit »Demokratie« auf Lesereise. Pünktlich zur Leipziger Buchmesse präsentierte der Campus-Verlag den Literaturtheoretiker mit einer von ihm und Antonio Negri verfassten Streitschrift, die im Februar in deutscher Übersetzung erschienen ist. Unter dem Titel »Demokratie - Wofür wir kämpfen« beschreiben die beiden Autoren auf handlichen 127 Seiten die Protestbewegungen von 2011 und ziehen Bilanz. Von Tunesien und Ägypten über Griechenland, Spanien und London bis nach New York analysieren Hardt und Negri Verbindendes: den Willen zur demokratischen Gestaltung, die Sehnsucht nach einem gemeinsamen großen Ganzen und den Mut, Prinzipien und Ideen einer neuen Welt zu verkünden. Jetzt gehe es darum, diesen Gestaltungswillen in einen Konstituierungsprozess zu überführen. Doch bleiben wir auf dem Teppich. Vorerst auf dem einer tristen tageslichtlosen Berliner Hotellobby, wo Michael Hardt zwischen eincheckenden Touristengruppen und zankenden Familien im 20-Minuten-Takt Interviews über Revolutionen, Protest und Demokratie absolvieren muss. Bedeutungsproduktion am Fließband.

ak: Ihr beginnt euer Buch mit dem Satz: »Dies ist kein Manifest.« Als ich das las, hatte ich zwei Assoziationen. Erst dachte ich, das klingt wie eine Abgrenzung von »dem« Manifest der kommunistischen Partei von Marx und Engels. Aber ich habe nicht ganz verstanden, warum ihr euch davon abgrenzen wollen würdet, es ist ja schließlich ein gutes Buch. Meine zweite Assoziation war René Magrittes Bild der Pfeife, mit der Unterschrift »Ceci n'est pas une pipe« - das ist keine Pfeife. Kurzum: Warum beginnt ihr euer Manifest mit diesem Satz?

Michael Hardt (lacht): Genau, das mit der Pfeife war meine erste Assoziation! Den Satz haben wir in der Tat mit einem kleinen Augenzwinkern geschrieben, darum die Magritte-Referenz. Aber wir meinen das durchaus auch ernst. Eine Aufgabe des kommunistischen Manifests war es, die Menschen zu erschaffen, die in der Lage wären, eine Revolution anzuzetteln und eine neue Gesellschaft hervorzubringen. In diesem Sinn entwirft das kommunistische Manifest die Proletarier: Es adressiert die Proletarier nicht, sondern erschafft sie. Wir denken, dass diese Ebene eines Manifests als Prophezeiung oder als Erschaffung einer bestimmten Art von Menschen obsolet ist. Denn die Menschen sind bereits da. Sie sind auf der Straße, und sie protestieren nicht nur, sondern sie gestalten auch. Sie haben bereits die Prinzipien und Wahrheiten hervorgebracht, auf denen eine neue Gesellschaft aufbauen sollte. Was unseres Erachtens nun ansteht, ist der Schritt von den Wahrheiten hin zu einem konstituierenden Prozess, also eine alternative Gesellschaft zu erschaffen, die darauf basiert. Wir sehen hier auch gewisse Ähnlichkeiten mit der Zeit zwischen der Erklärung der Unabhängigkeit in den Vereinigten Staaten und der Verabschiedung der Verfassung der USA. Damals ging es nicht nur um die Erklärung der Unabhängigkeit, es ging auch darum zu sagen: Dies sind die Wahrheiten und Prinzipien, auf denen wir aufbauen - Gleichheit, Recht auf Freiheit und Glück.

Bislang haben die Bewegungen noch keine Möglichkeit gefunden, ihre Erfahrungen zu verstetigen und sie in eine neue soziale Ordnung zu verallgemeinern. Das ist die Prämisse unseres Buches: Die Bewegungen waren sehr erfolgreich, wenn es darum geht, einen Platz für mehrere Monate zu besetzen. Aber sie waren noch nicht erfolgreich, eine allgemeinere soziale Transformation voranzubringen.

Genau an diesem Punkt setzte ja ursprünglich die Idee der Partei an: für diesen Prozess Ideologie und Organisierung bereitzustellen oder zumindest eine Idee davon zu entwickeln, entlang welcher Linien wir uns organisieren können. Ihr unterstreicht in eurem Buch immer wieder, dass Parteien heutzutage keine Option mehr sind. Gleichzeitig wird mir nicht klar, wie wir dann alternativ die Frage nach Ideologie und Organisierung angehen wollen. Ihr macht die Perspektive der Commons auf, und sicherlich ist das etwas, was wünschenswert zu erreichen ist. Aber wie sollen wir dorthin kommen, und wer übernimmt die Rolle und Funktion der Partei?

Ich glaube, dass eine bestimmte Form der Partei heute tot ist. Eine zentralisierte Partei, die die intellektuelle Linie, die ideologische Linie und die Mandate der Organisation diktiert. Ich glaube, wenn man das unter Partei versteht, dann würde ich zwar nicht sagen, dass das keine Option ist. Aber ich würde sagen, dass das keine wünschenswerte Option ist, und ich denke, dass es nicht effektiv wäre. Das bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass wir keine Form der Organisation hätten. Darum könnte es nützlich sein, eine Partei zu entwickeln, die horizontal organisiert ist und nach gemeinsamer, kollektiver Entscheidungsfindung strebt. Wenn das, was wir Partei nennen, das macht, was du gerade aufgezählt hast, dann können wir das doch als etwas denken, das kollektiv und gleichberechtigt von uns gemacht wird. Wenn man das so denkt, bin ich nicht gegen die Form der Partei. Das Problem ist eher, dass wir Partei anders denken und ausfüllen müssen. Wie siehst du das?

Für mich ist die Frage der Organisierung die zentrale Frage, aber auch eine ungelöste Frage. Wenn wir uns die Proteste von 2011 ansehen, dann sind die Zelte abgebrochen, und es erscheint, als wären die Protestierenden wieder verschwunden, was ja vermutlich nicht der Fall ist. Die Menschen sind ja noch da, einige reorganisieren sich, andere deorganisieren sich - die Frage einer gemeinsamen Organisierung bleibt ungelöst. Und die Frage der Organisierung geht Hand in Hand mit der Frage der Ideologie.

Ja, ich glaube nicht, dass ich da mehr Lösungen sehen würde. Eines der Probleme ist die Diskontinuität. Wenn Toni und ich in unserem Buch über eigene Institutionen oder einen konstituierenden Prozess schreiben, dann versuchen wir damit diese Herausforderung zu adressieren. Und ich würde weder die Camps noch die Strategie des Campierens als eine Lösung betrachten. Aber es sieht für mich nach einem sehr aufregenden Experiment aus. Ich glaube, wir sind in einer wichtigen Phase des Experimentierens mit den Problemen von Organisierung, Kontinuität und Dauerhaftigkeit. Die Frustration über unsere eigene Unfähigkeit, mehr Kontinuität und Dauerhaftigkeit zu entwickeln oder - in deinen Worten - die Aufgaben und Funktionen einer Partei zu übernehmen, ist aktuell unter Aktivisten sehr weit verbreitet.

Oder die Frustration darüber, dass wir ja kaum in der Lage sind, mehr zu artikulieren als die Aufzählung von Missständen, die uns unglücklich machen.

Sicherlich, Protest und Widerstand sind nicht genug, da sind wir uns einig. Die Idee der Commons ist für uns ein möglicher Zugang, um gemeinsam an einer umfassenden ideologischen Perspektive zu arbeiten, die sowohl materielle Ressourcen als auch Ideen und immaterielles Eigentum zusammen denkt. Was Bücher wie unseres erreichen können, ist begrenzt. Das meiste der intellektuellen Kreativität entsteht nun mal in den Bewegungen selbst. Wir versuchen, die Beiträge der verschiedenen ideologischen Diskussionsstränge, die oftmals nicht als zusammenhängend wahrgenommen werden, zur Kenntnis zu nehmen und zusammenzubringen.

Das ist ja schon fast die Antwort auf meine nächste Frage, was das Ziel des Buches ist.

Ja, das kurzfristige Ziel ist der Versuch, die Grenzen und das Erbe dieser Besetzungen und Camps zu verstehen. Das allgemeinere Ziel ist der Versuch, die verschiedenen existierenden Diskussionsstränge zusammenzubringen, die sich von der Deklaration zur Konstitution bewegen.

Ihr hattet ja in eurem Buch auch herausgearbeitet, dass die Occupy-Bewegung im Unterschied zur Anti-G8-Bewegung einen Schritt weiter geht und nicht nur reagiert, indem sie einen eigenen Ort und Zeitpunkt setzt. Ein weiterer Schritt wäre, mit eigenen Zielen und Vorstellungen darüber, wie wir leben wollen, derart wahrnehmbar zu werden, dass mehr Leute sich diesen Bewegungen anschließen können.

Daraus entsteht ja auch die Frustration: dass sich die Dinge nicht schnell genug entwickeln und wir gerne schon einen Schritt weiter wären. Es hat sich zwar viel entwickelt von den globalisierungskritischen Bewegungen bis 2011, aber wir wünschen uns natürlich, dass es schneller geht und weiter reicht. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt. Es gab und gibt viel Kritik am Gipfel-Hopping der Anti-G8-Bewegung von Menschen außerhalb und innerhalb der Bewegung. Dies haben die Occupy-Besetzungen besser gemacht, vor allem hinsichtlich der Beziehung mit dem Lokalen, ihrer Verwurzelung im urbanen Raum und ihrer Verbundenheit mit lokalen Themen. Aber es gab eine Sache an der globalisierungskritischen Bewegung, die ganz wundervoll war, und die mich an den Platzbesetzungen etwas stört. In ihrer Nomadenhaftigkeit hatte die globalisierungskritische Bewegung eine sehr deutliche globale Vision und konnte dadurch ganz andere Verflechtungen deutlich machen - zum Beispiel zwischen Sweatshop-Arbeit in Indonesien und Konsumdenken in Europa oder den USA. Durch ihre Verwurzelung im Lokalen laufen die Besetzungen Gefahr, sehr auf ihren nationalen Fokus beschränkt zu bleiben und nicht so leicht eine internationale oder globale Perspektive entwickeln zu können. Ein weiteres Ziel unseres Buches war es darum, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Besetzungen aufzuzeigen und ihren internationalen Charakter herauszustellen.

Susanne Lang schreibt in ak über gewerkschaftliche und netzpolitische Themen.

Michael Hardt

ist Literaturwissenschaftler an der Duke University in den USA. Zusammen mit Antonio Negri veröffentlichte er die Trilogie »Empire« (2000), »Multitude« (2004), »Commonwealth« (2009). Ihr neues gemeinsames Buch »Demokratie - Wofür wir kämpfen« (2013) untersucht die jungen Protestbewegungen zwischen Kairo und New York.