Die große Sinnstiftung
Kultur Die Fantasyserie »Game of Thrones« ist nicht nur herrlich anzuschauen, sie bedient unsere Lust am Sehen und Verstehen
Von Jane Fränzel
Fernsehserien galten lange als Hintergrundrauschen für Verkorkste, kaum mehr als eine weitere Wucherung des »Unterschichtenfernsehens«. Seit einiger Zeit allerdings werden anspruchsvolle Serien produziert, die gängige Regeln und Gesetze der Mehrheitstauglichkeit und Familienfreundlichkeit von TV-Serien regelrecht annullieren. Sie erzählen episch langsam wie Romane des 19. Jahrhunderts und sehen aus wie Kinofilme. Seitdem haben wir ein Kultur-Statussymbol mehr, um das wir uns identifikatorisch sammeln können wie ums Lagerfeuer.
Ein aberwitziges Projekt dieser Art ist die US-Serie »Game of Thrones«, die Verfilmung der mehrbändigen (und noch nicht abgeschlossenen) Fantasysaga »Das Lied von Eis und Feuer« von George R.R. Martin. Auf dem mittelalterlich anmutenden Kontinent Westeros bricht nach Jahren des Sommers der zerstörerische Winter an, obendrein stirbt der König, und das Reich bröckelt und bröselt an allen Ecken und Enden. Kriege, Arglisten, Zersetzung und Umstürze, so weit das Auge reicht. Von außen droht Unbekanntes, Unfassbares: In der Kälte jenseits einer endlosen Mauer aus Eis, die das Königreich nach Norden begrenzt, leben unfeudale, rohe Wilde (»Wildlinge«). Dort rotten sich auch »Weiße Wanderer« zusammen, unheimliche, übernatürliche Wesen, eine Armee zombiehafter Kreaturen im Schlepptau. Auf dem Nachbarkontinent Essos schlüpfen derweil feuerspeiende Drachen. Es ist nicht zu übersehen: Eine alte Welt fällt in sich zusammen, eine Gesellschaft ist im Angesicht nie geahnter Probleme gezwungen, sich neu auszurichten.
Die Fantasywelt, Zuflucht vor der Wirklichkeit?
Es ist leicht, »Game of Thrones« zwei etwas plumpe Gedanken anzuhängen: Die Fernsehserie als Abbild unserer Welt spiegelt die globale Krise (so Johannes Himmelreichs Interpretation in der taz). Andererseits bietet die Fantasywelt eine Fluchtmöglichkeit, Entrückung aus dem vermaledeiten Alltag (Fantasy als Einladung zum Realitätsverlust zu beschreiben, ist eine beliebte Genrekritik). Beides ist insofern wahr, als das, was als »kluge« Serie und damit gehobene Kulturtechnik gilt, endlos selbstreferienzell dahinwabert und uns als hilflos süchtige RezipientInnen hinterlässt. Die Sache ist dennoch weitaus verworrener.
Man kann »Game of Thrones« kaum vorwerfen, bloßes Fantasy-Glanzbildchen ohne Inhalt zu sein. Wer Fantasy als oberflächlichen Eskapismus in komplizierten Zeiten abhakt, übersieht, dass Ausflüchte für den, der nur will, überall zu finden sind. Es soll ja Menschen geben, die sich gern von Mathematikproblemen, Philosophie, Sekundärliteratur, Alkohol und anderen Substanzen verschlingen lassen.
Die Ästhetik von »Game of Thrones« mag poliert und ausgeklügelt sein, die Settings atemberaubend, doch das Fantastische an der Serie ist das, was beiläufig geschieht. Die Schwerter sind schwer, die Ritterrüstungen eine Last, die Intrigen herzzerreißend böse; Dreck klebt überall, das Töten ist brutal. Und neben monströsen Personen tauchen auch Untote, Hellsichtige, MagierInnen, Drachen und anderes unwahrscheinliches Getier auf. Wichtig ist aber nicht, dass »Game of Thrones« trotz des genretypischen Inventars als »realistisch« dargestelltes Fantasyspektakel, garniert mit einem Quentchen Horror und Soft Porn, inszeniert wird. Interessant ist die Serie vor allem aus einem anderen Grund: Sie ist eine Soap.
Nun spielen auch andere Serien mit den Zutaten, die Soaps zu amüsantem Kitsch machen, zu dem, was Susan Sontag als Camp bezeichnet hat. Doch nicht das leichte Kippen in Pathos und Kitsch machen »Game of Thrones« dazu, nicht die Intrigen, das Leid, die überraschenden Tode, sondern die Struktur der Episoden. Klassische Soap Operas unterteilen parallel laufende Handlungsstränge mehrerer ProtagonistInnen in handhabbare, aneinander gereihte Blöcke. In jeder Folge schaut man bei allen kurz vorbei, das Geschehen webt sich immerwährend fort. Selbst Höhepunkte führen nicht zum Ende, zur Auflösung, sondern weiter und weiter.
Die Masse an ProtagonistInnen, Schauplätzen und Ereignissen in »Game of Thrones« erlaubt kaum eine andere Erzählform als die in handlichen Blöcken. Damit es genug zum Interpretieren gibt, gruppiert sich seit der zweiten Staffel jede Episode um ein Schlagwort oder eine Frage. Diese Debattenklammer kann innerhalb der Handlung und der Dialoge ganz explizit zum Beispiel ein moralisches Thema aufgreifen: Was heißt es, ein Ritter, eine Frau, ein »Krüppel«, ein »Bastard« zu sein, was bedeuten Loyalität, Ehre usw.
Oder es wird gleich auf der Bildebene diskutiert. Die erste Folge der gerade angelaufenen dritten Staffel ermisst Ge- und Befangenheit der HeldInnen: Königsmutter Cersei und ihr Bruder Tyrion, die KonkurrentInnen um Einfluss auf das Schicksal des Reichs, eingezwängt in den Rahmen einer vergitterten Türklappe. Der tyrannische Jungkönig Joffrey voller Unbehagen in einer käfigartigen Sänfte, sein Blick hinter Gittern, während seine Zukünftige, Lady Margaery, beschwingt und unbesorgt, ja Lady-Di-haft Waisenkinder beglückt. Sansa, die mit Joffrey verlobte Tochter eines der Lords von Westeros, und ihre Zofe Shae erträumen sich Geschichten über in die Ferne segelnde Schiffe, sie sitzen auf einem Dock am Hafen der Königsstadt, eine Sackgasse in alle Richtungen: um sie herum Wasser, hinter ihnen ein schwer bewaffneter Wächter.
Niemand hier scheint frei zu sein, im Gegensatz zur weißen Weite hinter der Eismauer. Jon Snow, der Halbbruder Sansas, der an ebenjener Mauer seinen Dienst bei den Grenzern der »Nachtwache« verrichtet, läuft gezwungenermaßen zu den Wildlingen über. Die erste Lektion, die ihm dort erteilt wird: Hierarchien, wie er sie kennt, mit ihren Huldigungen und Gesten der Unterwürfigkeit, bedeuten jenseits der Mauer nichts. Sie seien frei, sagen die Wildlinge, während sich die Gruppe Nachtwächter, die die Eismauer bewachen, in der Weite der Schneelandschaft verliert.
Woher kommt das Serienfieber?
Trotz der einfachen Struktur entsteht hier Dichte. »Game of Thrones« als Soap zu bezeichnen, wertet die Serie nicht ab. Die Ausbreitung der vielen Handlungsfäden, der Geschichten so vieler Figuren, ermöglicht uns, sie zu sezieren und nach Gründen für das Handeln dieser und jener Person zu suchen. Diese Struktur kommt unserer Beobachtungssucht entgegen, sie füttert unsere Gier nach Aufklärung und Durchblick. Bei »Game of Thrones« (und all den anderen groß angelegten Serien) geht es gerade nicht um Rückzug und Flucht, es geht darum zu verstehen. Wir wollen Hintergründe ausloten, die Inszenierung durchblicken, bis ins kleinste Detail das Spiel durchleuchten - und uns so vorm Verzweifeln am Wahnwitz des Weltgeschehens bewahren. Darin könnte ein Grund für das grassierende Serienfieber liegen: Sie packen uns beim Wunsch, die entwischende Welt wieder unter Kontrolle zu bringen. Gerade in Zeiten, in denen es uns oft an Durchblick mangelt.
Die dänische Serie »Borgen«, die in der Kopenhagener Regierungspolitik heutiger Tage angesiedelt ist, verdeutlicht gleich in der Eröffnungssequenz, was uns erwartet - und was wir zu sehen wünschen: Wir stehen hinter den Kameras einer Politiksendungen, wir beobachten, wie die Protagonistin vor dem Auftritt geschminkt wird, es ist von Spielen und Schachzügen die Rede. »Game of Thones« geht ähnlich mit Aufdeckung um: In den ersten Minuten der ersten Folge begleiten wir einen Suchtrupp der Nachtwache hinter die Mauer und erhalten Einblick in das von Westeros Verdrängte, sozusagen in das Unbewusste, das Es des Reiches.
Besonders deutlich allerdings wird der Wunsch nach Sehen und Verstehen im Vorspann der Serie: Kunstvoll entfaltet sich dort die für Fantasy obligatorische Landkarte. Folge um Folge enthüllt sie mehr, mit jedem Schritt, den die ProtagonistInnen auf ihren Reisen, Quests und Kriegszügen durch das Land tun, zeigt sie weniger weiße Flecken. Und sie sprengt die Grenzen der klassischen Kartographie: Die Handlungsorte auf ihr schrauben sich dreidimensional in die Höhe, überall Türme, die Überblicke erlauben. Plötzlich können wir Zusammenhänge herstellen und erhalten neue unerträgliche, unerhoffte Einblicke.
Und tatsächlich, das alles zeigt doch hübsch, wo wir uns gerade wirklich befinden: Der Raum, den wir durchschreiten können, hat sich in die Vogelperspektive ausgedehnt, seitdem Kabel und Vernetzung globale Nähe und Verständnis suggerieren. Das Internet hat eine weitere Dimension der Enthüllung und des Weltverständnisses ins Spiel gebracht. Die Landkarte, die der Vorspann zu »Game of Thrones« präsentiert, erfasst diese Beobachtungsstrategie ganz wunderbar. Unserer Erkenntniswut kommt die Struktur einer Soap nur entgegen.
Es ist dabei völlig egal, wo und wann die teils märchenhaften Geschehnisse von »Game of Thrones« ausgelebt werden und welchen Anstrich sie bekommen. Auf Youtube finden sich Fan-Videos wie »School of Thrones«, in denen die grundlegenden Konflikte ins Jetzt und an eine High School versetzt werden. Sansa als nölendes Hipstermädchen, Joffrey als unerträglicher Justin Bieber. Wie im richtigen Leben. Aber mal ehrlich: Mit ein paar Drachen ist es einfach toller.
Jane Fränzel ist Kulturwissenschaftlerin und Sinologin und erfreut, dass sie der Forschung zuliebe ausgiebig ihrer Seriensucht frönen darf.