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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 583 / 17.5.2013

Standortfaktor Gerechtigkeit

Deutschland Gerechtigkeit ist Wahlkampfthema Nr. 1, und der Diskursstar Chancengerechtigkeit legitimiert jede Ungleichheit

Von Anna Blume und Nick Sinakusch

»Die SPD wird Deutschland regieren: besser und gerechter als es CDU, CSU und FDP vermögen«, schreiben die Sozialdemokraten in ihr neues Regierungsprogramm. »Soziale Gerechtigkeit ist das Programm der LINKEN«, proklamiert Parteivorsitzende Katja Kipping. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen hält dagegen: »Soziale Gerechtigkeit ist ein Ur-CDU-Thema«. Da kann sich auch die FDP nicht zurückhalten: »Wir brauchen mehr Leistungs- und Chancengerechtigkeit«, fordert Außenminister Guido Westerwelle.

Gerechtigkeit hat keine Feinde. Sie ist wie Demokratie, wie Frieden oder Nachhaltigkeit - fraglos gut. Also arbeiten alle Parteien daran, den Begriff zu kapern. Und die Unternehmen und ihre Freunde und Freundinnen versuchen, ihn so zu definieren, dass er ihren Interessen dient. Das hat das Konzept »Gerechtigkeit« nachhaltig verändert.

Anlässe für Gerechtigkeitsfragen gibt es genug. Wer trägt die Kosten der Krise? Warum ist für die Banken so viel Geld da? Warum ist das Geldvermögen so ungleich verteilt, der Hartz-IV-Satz so niedrig? Warum verdienen Frauen weniger als Männer und Menschen im Osten weniger als im Westen? Der Gerechtigkeits- und Verteilungs-Diskurs fragt nicht nach den Ursachen von Arm und Reich, fragt nicht danach, wozu die Bankenrettungen taugen, warum sich die Einkommen spreizen oder wozu Hartz IV dient. Es ist kein ökonomischer Diskurs, sondern ein moralisch-ideologischer. Erst nachdem der Markt sein Werk getan hat und alles verteilt ist, wird die Frage gestellt: Ist die Verteilung gerecht? So wird der Anschein erweckt, »Gleiche würden sich um ihren Anteil an einem gemeinsamen Kuchen streiten«. (1).

Genug Anlässe für Gerechtigkeitsfragen

Was ist Gerechtigkeit? Sie bedeutet irgendwie »angemessen«. Der Begriff ist undeutlich. Also versucht jeder, ihn zu besetzen. Bei diesem Vorhaben ist es nützlich, dass der Begriff Gerechtigkeit nicht nur vielseitig ist, sondern widersprüchlich. (Siehe Kasten) Grundsätzlich stehen sich zwei Konzepte gegenüber: Leistungsgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit. Wenn ein Chefarzt Hunderttausende Euro verdient, gilt dies als leistungsgerecht. Wenn Teile seines Einkommens auf Ärmere umverteilt werden, gilt dies als verteilungsgerecht. Beide Konzepte stehen gegeneinander. Die eine Gerechtigkeit folgt den Marktgesetzen. Die andere will genau diese Gesetze korrigieren.

Klassisch wurde unter Gerechtigkeit die Umverteilung von oben nach unten verstanden. Doch seit Mitte der 1990er definieren die Parteien den Begriff in ihren Programmen um. Ziel: dafür zu sorgen, dass bei »Gerechtigkeit« niemand mehr an Gleichheit von Vermögen oder Einkommen denkt. So gilt das klassische Umverteilungsinstrument, der Sozialstaat, vielfach inzwischen selbst als ungerecht. Nicht etwa, weil die Armen kaum etwas abbekommen. Sondern weil er erstens der Leistungsgerechtigkeit entgegensteht: Der Sozialstaat finanziert sich aus den Beiträgen der »LeistungsträgerInnen«, höhere Sozialabgaben sind dementsprechend nicht »leistungsgerecht«. Und da die Arbeitslosen ohnehin nicht arbeiten, mithin nichts leisten, verdienen sie - eigentlich - auch nichts.

Zweitens gilt der Sozialstaat als ungerecht, weil er die Chancen- bzw. Teilhabegerechtigkeit behindert. Sozialabgaben verteuern Arbeit, heißt es, bürden damit den Unternehmen hohe Kosten auf und verhindern so Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen. »Die größte Ungerechtigkeit in Deutschland ist die Massenarbeitslosigkeit«, so der CDU-Spitzenpolitiker Ronald Pofalla, »Gerecht ist, was Arbeit schafft.«

Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung ist verletzt

Sozialabbau ist somit der einzige Weg zu mehr Kapitalakkumulation, mehr Investitionen, mehr Jobs, damit zu mehr Jobchancen und damit zu mehr Gerechtigkeit. In diesem Sinne argumentierte auch im Jahr 2000 der spätere SPD-Arbeitsminister Wolfgang Clement für einen Umbau der Sozialsysteme: »Begrenzte Ungleichheit« biete die Aussicht auf »ein realistisches Mehr an Gerechtigkeit.« (2)

Derweil werden in Deutschland die Armen ärmer und die Reichen reicher, was das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung verletzt. Laut Umfragen glaubt nicht mal mehr die Hälfte der Deutschen, dass die soziale Marktwirtschaft Gerechtigkeit ermöglicht. Diese Skepsis gefällt den PolitikerInnen nicht. Denn das gefährdet den sozialen Frieden im Land. »Wenn sich auf der einen Seite die Gewinne des Aufschwungs mehren, während am unteren Einkommensrand die Reallöhne sogar sinken, stehen auch das Gerechtigkeitsempfinden und der Zusammenhalt der Gesellschaft in Frage«, so Arbeitsministerin Ursula von der Leyen.

Konservative Kreise machen sich daher daran, dem Volk die Bedeutung von Gerechtigkeit zu erklären nach dem Motto: »Eine Gerechtigkeitsdebatte ist willkommen, darf aber nicht mit Umverteilung verwechselt werden« - so Westerwelle gegenüber der BILD.

Derzeit prescht die vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall finanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) vor. Denn sie vertritt diejenigen, die eher etwas mehr verdienen. »Die Diskussion über Gerechtigkeit bestimmt das Wahljahr 2013«, so die INSM und stellt fest: »Gleichheit mindert Leistungsanreize, behindert Wettbewerb und beschneidet Wachstumschancen - und kann darum mit den meisten anderen Gerechtigkeitsprinzipien nicht koexistieren.«

Zu viel Gerechtigkeit wirkt demotivierend

Von diesen »anderen Gerechtigkeitsprinzipien« gibt es viele. Das ebenfalls arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft (IW), das in Berlin im selben Haus sitzt wie die INSM, hat aus nicht weniger als sechs »Gerechtigkeitsdimensionen« mit 34 Teilindikatoren einen internationalen Gerechtigkeitsmonitor erstellt. (3) Ergebnis: Deutschland ist das siebtgerechteste Land. Oder in den Worten von Bayern-München-Manager und Wurstfabrikant Uli Hoeneß: »Deutschland ist im Großen und Ganzen ein Paradies« - allerdings kein Steuerparadies.

Umverteilung ist ungerecht - mit diesem Argument plädiert die INSM gegen einen gesetzlichen Mindestlohn. Denn der erhöhe die Lohnkosten, Unternehmen würden daher Arbeitsplätze abbauen bzw. nicht einrichten. »Die Folge: Durch den Wegfall vieler Stellen würde einem großen Teil des Nachwuchses der Berufseinstieg verbaut«, so die INSM. Ein staatlicher Mindestlohn sei daher »ungerecht«. Wahre Gerechtigkeit gehe vielmehr so: »Statt den erwirtschafteten Reichtum aufzuteilen, ist es die Aufgabe des Staates, Chancengerechtigkeit zu schaffen.«

In der Chancengerechtigkeit ist alles vereint, was als gut gilt: Chancen, Kinder, Bildung, Investition in die Zukunft, Gerechtigkeit. Dabei ist »Chance« - als pure Möglichkeit - ein ärmliches Gut. Jeder darf sich bemühen im großen Wettlauf. Und die Arbeitgeber wünschen »bonne chance« (»viel Glück«).

Durch gleiche Chancen entstehen nicht mehr Jobs

Dennoch ist für 90 Prozent der Deutschen das Ziel, allen Kindern gleiche Bildungschancen zu geben, ausschlaggebend für soziale Gerechtigkeit. (4) Hier will die Politik ansetzen. »Ein Land ist dann gerecht, wenn persönlicher Aufstieg durch gute Bildung nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängt«, sagt Westerwelle. Chancengerechtigkeit soll also »allen Menschen Teilhabe ... ermöglichen - und so die Kluft zwischen Arm und Reich ... verringern«, so die INSM.

Tatsächlich glauben viele Menschen, gleiche(re) Chancen würden zu geringeren sozialen Unterschieden führen. Das ist Quark. Gleiche Startchancen bei einem 100-Meter-Lauf führen ja auch nicht zu mehr GewinnerInnen. Und auch durch gleiche Chancen entstehen nicht mehr gute Jobs. Allerdings legitimiert das Ideal der Chancengleichheit die Herstellung von Ungleichheit.

»Ungleichheit lässt sich viel leichter tolerieren, wenn jeder das Gefühl hat, dass er es schaffen kann«, so der Würzburger Wirtschaftsprofessor Norbert Berthold in der FAZ. Nicht hinterfragt werden zudem die Bedingungen für den Erfolg. »Die naive Zustimmung zu einer Veranstaltung, in der Chancen gegeben werden, befördert daher vornehmlich den objektiven Nutzen solcher Interessengruppen, die die Bedingungen der Chancen hergestellt haben und kontrollieren.« (5)

So ist die »Gerechtigkeit« da angekommen, wo die Herrschaft sie haben will. Erstens wird sie auf Abstand gebracht von der Idee der Gleichheit und aufgefächert in viele Einzelgerechtigkeiten, von der Anforderungs- über die Verteilungs- zur Generationen- und Chancengerechtigkeit. Zweitens wird klargestellt: Chancengerechtigkeit hat Vorfahrt. Und hier gilt: mehr Wirtschaftswachstum gleich mehr Chancen.

»Neue Gerechtigkeit verteilt nicht einen einzigen immer kleiner werdenden Kuchen möglichst gerecht«, so CDUler Pofalla. »Sie sorgt dafür, dass möglichst viele in der Lage sind, für sich selbst einzustehen, damit der Kuchen insgesamt wieder größer wird. Damit dies gelingt, brauchen wir wieder mehr Freiheit.« Und Freiheit bedeutet hier, die Freiheit des Privateigentums, sich zu vermehren. »Schon Ludwig Erhard wies darauf hin, die Aufgabe der Wirtschaft sei der ökonomische Erfolg«, so INSM-Chef Pellengahr.

Dass darüber immer mehr Ungleichheit entsteht, gilt damit erstens als unvermeidbar (weil die Wirtschaft nun mal so ist) und zweitens als nützlich (Ungleichheit motiviert zum Aufstieg und zur Leistung). Ungleichheit schadet nicht, solange alle sie akzeptieren. Sie geht in Ordnung, solange niemand verhungert. Und sie ist letztlich natürlich, da die Menschen nun mal unterschiedlich sind. Sprich: Ungleichheit ist gerecht und damit angemessen.

Die Wirtschaft und wie sie funktioniert, bleibt bei alledem unbehelligt. Die Gleichzeitigkeit von Arm und Reich wird zwar zuweilen noch leise kritisiert. Der Zusammenhang von beiden bleibt aber ausgeblendet. Dabei ist der schon lange bekannt: »Und der Arme sagte bleich, wär ich nicht arm wärst du nicht reich«.

Anna Blume und Nick Sinakusch schrieben zusammen in ak 569 über die Finanztransaktionssteuer.

Anmerkungen:

1) Heinz-Jürgen Dahme und Norbert Wohlfahrt: Ungleich gerecht? Kritik moderner Gerechtigkeitsdiskurse und ihrer theoretischen Grundlagen. Hamburg 2012, S. 62.

2) Ebd., S. 38.

3) Wobei das IW die »Bedarfsgerechtigkeit« praktischerweise gar nicht erst definiert als die Deckung der individuellen Bedürfnisse, sondern bloß als »Garantie der Grundbedürfnisse jedes Gesellschaftsmitglieds«.

4) Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der INSM.

5) de.wikipedia.org/wiki/Chance.

Die verschiedenen Gerechtigkeiten

sind Titel, mit denen die konkurrierenden Interessen in der Klassengesellschaft ihre Legitimation begründen können. Arme dürfen mit Verteilungsgerechtigkeit auf Umverteilung klagen. Mehr Kindergeld kann mit Familiengerechtigkeit begründet werden, die Erhöhung des Rentenalters, die Senkung der gesetzlichen Rente oder die Privatisierung der Altersvorsorge mit Generationengerechtigkeit. Der Chefarzt darf sein hohes Gehalt gegenüber der Pflegerin mit Anforderungsgerechtigkeit verteidigen. Der Manager kann auf Leistungsgerechtigkeit pochen, solange die Lohnabhängigen dem Betrieb Gewinne erwirtschaften. Lohnsenkungen und Sozialkürzungen schaffen Arbeitsplätze und damit Chancengerechtigkeit. Jede Klage über Ungleichheit kann zudem mit dem Verweis zurückgewiesen werden, in Deutschland herrsche ja Regelgerechtigkeit, sprich: für alle gelten die gleichen Regeln. Beschwerden über Ungerechtigkeit kontert die Politik mit dem Verweis auf die Widersprüche und auf die Tatsache, dass man leider nicht alle Gerechtigkeiten bedienen kann.