Mittelschichtsprobleme?
kreativ & billig Was passiert eigentlich, wenn im Arbeitsleben statt Selbstverwirklichung nur Niedriglohn winkt?
Von Jan Ole Arps und Ingo Stützle
Nicht erst mit Beginn der Hartz-Reformen vor zehn Jahren sind Arbeit und Leben auch in Deutschland erheblich prekärer geworden. Die Kurzzusammenfassung: Löhne sind gesunken, Mieten gestiegen, unsichere Arbeitsverhältnisse haben sich ausgebreitet, Depressionen nehmen zu. (Siehe Seite 29)
Das Gefühl von Unsicherheit und sinkendem Einfluss auf die Gestaltung des eigenen Lebens hat sich quer durch die Arbeitsgesellschaft ausgebreitet. Seit nunmehr 20 Jahren verkünden Zeitdiagnosen die »Wiederkehr der Proletarität« (Karl-Heinz Roth 1994), erforschen den »flexiblen Menschen« (Richard Sennet 1998), untersuchen das »unternehmerische« oder das »erschöpfte Selbst« (Ulrich Bröckling bzw. Alain Ehrenberg), die OptimistInnen beschwören das politische Potenzial des »Prekariats« oder der »Multitude«. Doch weder das »neue Proletariat«, noch das Prekariat noch die nebulöse Multitude haben sich bisher erhoben und alle Verhältnisse umgeworfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes ... usw., im Gegenteil: Egal ob im »Betrieb« oder in der akademischen (ehemaligen) Mittelschicht - die Klagen über Burnout, Überforderung und Zukunftsangst häufen sich. Ariane Brenssell schrieb in ak 571 über diese »Krankheiten der Verantwortlichkeit«: »Wir sind für alles selbst verantwortlich, ohne jedoch über die Bedingungen bestimmen zu können.« An der Ohnmacht ändern auch die besten Analysen nichts, das wissen alle Linken, die sich trotz gründlicher marxistischer Schulung im Jobcenter auf die Zunge beißen, um nicht vor ihrem Sachbearbeiter in Tränen auszubrechen.
Was tun gegen Ohnmacht und Prekarität?
Aus soziologischen Begriffen werden nicht ohne weiteres kämpferische Subjekte der Geschichte, das ist ein Problem solcher Schlagworte. Ein zweites besteht darin, dass sie oft mehr verschleiern als erklären. Wenn alle »prekär« sind, verschwinden die Fragen nach dem Wie und Warum ebenso wie die nach den Auswegen, die die »Prekären« suchen. Im Heuhaufen des statistischen Elends suchen wir deshalb nach glänzenden Stecknadeln. Dabei möchten wir den Blick auf das Naheliegende richten, denn Alltag, Arbeit(slosigkeit) und Leben, das haben wir doch alle.
Wozu das Ganze? Weil die Geschichte noch immer eine von Klassenkämpfen ist, von offenen und verdeckten, und weil das gesellschaftliche Sein nach einem beliebten marxistischen Kalenderspruch immer noch das Bewusstsein der Individuen bestimmt, oder zumindest mitbestimmt. Weil aber auch, anders als MarxistInnen lange meinten, die Stellung im Produktionsprozess nicht allein darüber entscheidet, ob jemand rebelliert oder nicht - und weil solidarische gesellschaftliche Praktiken mit Emanzipationspotenzial oft an unerwarteten Orten entstehen, man denke an die Freie-Software- und Open-Source-Bewegung.
Zudem folgt aus Bekenntnissen zu linken Forderungen nicht zwangsläufig, dass man auch die eigenen »privaten« Berufsentscheidungen als Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen begreift oder sich im Arbeitsleben kollegial, solidarisch oder gar rebellisch verhält. Für eine akademisch geprägte mehr oder weniger radikale Linke ist daher die Frage durchaus interessant, wie die einstige »Mittelschicht« die Prekarisierung erlebt und wie ihre Angehörigen mit der unfreiwilligen Proletarisierung umgehen.
Die heute 25 bis 45jährigen Kinder der »Mittelschicht« sind mit der Prämisse aufgewachsen, dass sie sich umfassend bilden, möglichst viel kennenlernen und interessante Dinge tun sollen, um sich in der Arbeit »selbst zu verwirklichen«. Sie haben im Ausland studiert, sprechen mehrere Sprachen und sind neuen Lernerfahrungen gegenüber stets aufgeschlossen, denn auch dass Lernen eine lebenslange Angelegenheit ist, haben sie von klein auf verinnerlicht. Die meisten SoziologInnen, GermanistInnen und KulturwissenschaftlerInnen finden trotzdem nicht den Traumjob, sondern pendeln zwischen Projekten und Jobcenter oder fahren nun, weil das Geld eben irgendwo herkommen muss, täglich 50 Minuten zu einer ungeliebten Arbeit im »Umland«, jedenfalls für die nächsten anderthalb Jahre. »We were brought up on the Space-Race, now they expect you to clean toilets«, sang die Band Pulp bereits 1998 - und brachte damit die Kehrseite der Bildungsexpansion (mit ihren mittlerweile rund 2,5 Millionen StudentInnen allein in der Bundesrepublik) auf den Punkt: »Tolle Jobs« für alle gibt es nicht. Ein großer Teil der UniabsolventInnen erfährt nun am eigenen Leib, was berufstätige Frauen schon länger wissen: Nur weil du theoretisch »alles werden« kannst, heißt das nicht, dass das auch praktisch möglich ist.
Doppelter Stress durch Selbstverwirklichung
Trotzdem hallt der Aufruf zur Selbstverwirklichung nach und verdoppelt den Stress des Arbeitslebens. Zum ökonomischen Druck kommt das schlechte Gefühl, nicht das Richtige gefunden zu haben, die Angst, bei der Suche nach einem geeigneten Platz in der Arbeitsgesellschaft versagt zu haben.
Bemerkenswert ist dabei: Obwohl die Erfahrung der Ohnmacht sich immer weiter ausbreitet, bleiben die Arbeitswelten selbst in den gemischten Innenstadtquartieren wie durch unsichtbare Mauern getrennt. Die (ehemalige) akademische Mittelschicht greift zur symbolischen Abgrenzung via Lebensweise. Sie isst und kauft lokal und ökologisch, kleidet sich geschmackvoll und individuell, definiert sich über eine Handvoll hochwertiger, im Internet gestreamter Fernsehserien und stürzt sich nach der Geburt des ersten Kindes mit verbissenem Perfektionismus ins Familienleben. Der Aufstieg der neuen Bürgerlichkeit geht mit der Prekarisierung ihrer TrägerInnen Hand in Hand. Je größer die materielle Kluft zu einem Leben in Wohlstand, desto größer das Bestreben, zumindest auf symbolischer Ebene den Anschluss an die Elite nicht zu verlieren.
Dass die geteilte Erfahrung der Prekarität noch keine gemeinsame (kämpferische) Identität schafft, ist bekannt. Eine solche entsteht im politischen Handeln: in der Verarbeitung von Siegen und Niederlagen. Doch Kämpfe dieser Art sind kaum in Sicht. In dem Maße, wie die Existenzsicherung individualisiert wurde (durch Privatisierung der Absicherung bei Krankheit, im Alter etc., aber auch durch den neoliberalen Aufruf zur Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung), erscheint die Möglichkeit, ein besseres Leben zu erreichen, immer mehr als individuelle Angelegenheit, schreibt die Sozialwissenschaftlerin Isabell Lorey in ihrem Buch »Die Regierung der Prekären«. Gemeinsames politisches Handeln ist dagegen kaum vorstellbar.
Doch wie immer bei MarxistInnen steckt die Möglichkeit zum Widerspruch schon in den Verhältnissen. Isabell Lorey schlägt deshalb (dabei beruft sie sich auf Judith Butler) vor, bei der Suche nach politischen Strategien nicht die Angst vor dem Prekärsein in den Vordergrund zu stellen. Wer den Staat um Schutz bitte, stärke letztlich traditionelle Mechanismen politischer Herrschaft und zementiere die eigene Schwäche. Stattdessen solle man den Blick umkehren und auf die Verbindungen mit anderen, auf die gegenseitigen Abhängigkeiten und das aufeinander Angewiesensein richten - und diese Beziehungen zum Ausgangspunkt gemeinsamen Handelns machen.
Das klingt schön - und doch reichlich vage. Denn die Frage bleibt, wie man von den Verbindungen (in Arbeit, Familie oder Nachbarschaft) zu gemeinsamen Taten kommt - und wer eigentlich.
Welche Netze sind beim Durchwursteln entstanden?
Auf interessante Widersprüche stößt man auch beim Selbstverwirklichungsdilemma. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung entstand in den 1970er Jahren als Kritik an der Fabrikgesellschaft mit ihren hierarchischen Herrschaftsbeziehungen, monotonen Arbeitstagen, trostlosen Konsumangeboten und beengenden Lebensentwürfen. Er war mit dem Anspruch verbunden, etwas gesellschaftlich Sinnvolles zu tun. Dieser Wunsch ist nicht nur in ein Instrument der immer schärferen (Selbst-)Ausbeutung verwandelt worden, sondern immer noch Motor für nicht unmittelbar verwertbare Lebenswege. Das zeigen die jüngste DIY-Welle, der Mini-Boom kooperativer Arbeitsprojekte, aber auch die aus der Not geborenen Existenzgründungen, die in erster Linie unternommen wurden, um das Jobcenter auf Abstand zu halten und etwas Förderung für eine Arbeit an den eigenen Interessen zu erhalten.
Um den Konflikten, die hier lauern, auf die Spur zu kommen, müssen wir fragen, was die ExistenzgründerInnen und ökonomischen EigenbrötlerInnen antreibt, welche Werte, Hoffnungen und Ressourcen eine Rolle spielen - und worauf die Inhalte ihrer Tätigkeit (die Gebrauchswertseite ihrer Arbeit) eigentlich verweisen. Lügen sie sich selbst in die Tasche, wenn sie »ihre Projekte« verfolgen? Oder nehmen sie bewusst Nachteile in Kauf, um sich der Konkurrenz auf dem formellen Arbeitsmarkt zu entziehen? Haben sie als Selbstständige tatsächlich mehr Einfluss auf ihre Arbeitsbedingungen, oder funktionieren diese Nischen auch nur durch hemmungsloses Lohndumping in eigener Sache? Ist »Klasse« also einfach eine Einkommensfrage? Oder gibt es eine Aufstiegsoption, die die Leute bei der Stange hält? Und was bedeutet es, wenn viele Projekte direkt oder indirekt von staatlichem Geld abhängig sind?
Also: Wie gehen unsere NachbarInnen, FreundInnen und Bekannten, wie gehen wir mit der Prekarität des Arbeitslebens um? Was verrät unsere Arbeit (oder auch das, was wir mit unserer Zeit tun, anstatt an der Karriere zu basteln) über uns? Welche Netzwerke und Beziehungen sind beim Durchwursteln entstanden, und wozu können sie nütze sein? In diesem ak-Schwerpunkt machen wir uns auf die Suche nach Klassenkonzepten, erbringen Einkommensnachweise und fragen nach Solidaritätsbeziehungen, Lebensentwürfen und Werten in der Prekarität. In den kommenden Ausgaben setzen wir die Suche fort. Wir freuen uns über Beiträge.