Kein Ersatz für jahrelanges Fehlverhalten der Behörden
Deutschland Im Prozess gegen den Nationalsozialistischen Untergrund geht es der Nebenklage um »maximale Aufklärung«. Interview mit Rechtsanwalt Peer Stolle
Interview: Martin Beck
Am 6. Mai 2013 begann der Prozess in Sachen Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) - und wurde gleich am ersten Verhandlungstag für eine Woche unterbrochen. Die gerichtliche Aufklärung der Neonazi-Mord- und Anschlagsserie beginnt schleppend. Das ist vor allem für die rund 80 Hinterbliebenen oder Geschädigten belastend, die in dem Prozess als NebenklägerInnen auftreten. Der Berliner Anwalt Peer Stolle vertritt als Nebenklagevertreter einen der Söhne von Mehmet Kubasik. Als achtes Mordopfer des NSU wurde Mehmet Kubasik am 4. April 2006 in seinem Kiosk in Dortmund erschossen. Wir sprachen mit Peer Stolle über die Erwartungen seines Mandanten, die Besonderheiten dieses Strafverfahrens sowie Grenzen und Möglichkeiten, die Mordtaten des NSU und die staatliche Verstrickung aufzuklären.
ak: Dass die Verteidigung Befangenheitsanträge stellt, war zu erwarten. Aber wie bewerten Sie die damit begründete Unterbrechung der Hauptverhandlung.
Peer Stolle: Die Unterbrechung ist natürlich ein weiterer Schlag ins Gesicht der Nebenkläger. Schon die Verschiebung des Beginns der Hauptverhandlung vom 17. April auf den 6. Mai 2013 war eine enorme Belastung für die Angehörigen, die sich wochenlang auf diesen Termin vorbereitet haben. Sie hatten Flüge gebucht und Unterkünfte organisiert. Jetzt wurde durch den Senat nach drei erwartbaren Befangenheitsanträgen die Fortsetzung der Hauptverhandlung um eine weitere Woche verschoben. Solche Anträge sind nicht unüblich und keinesfalls überraschend. Darüber hätte der Senat auch am 7. oder 8. Mai entscheiden können. Eine Vertagung auf den 14. Mai hätte nicht sein müssen.
Wird die Posse um die Vergabe von Presseplätzen Einfluss auf das Verfahren haben, weil sich das Gericht nun gegen weitere Ansprüche von außen behaupten muss?
Nein, das glaube ich nicht. Natürlich war es eine Ohrfeige des Bundesverfassungsgerichts für den Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München, dass er das Platzvergabeverfahren für die Journalisten neu aufrollen musste. Das wird aber nicht dazu führen, dass der Senat jetzt vorsichtiger agieren wird. Davon lässt er sich nicht beeindrucken. Das konnte man am ersten Hauptverhandlungstag gut beobachten.
Die Zeit hat das Verfahren als »Stammheim gegen rechts« bezeichnet ...
Der Prozess gegen den NSU ist kein »Stammheim gegen rechts«. Im Stammheimer Verfahren - und in den meisten anderen Staatsschutzverfahren - war und ist die Verhängung von Untersuchungshaft Standard. Anders hier: Drei der fünf Angeklagten befinden sich auf freiem Fuß, obwohl ihnen unter anderem Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und Beihilfe zum zehnfachen Mord vorgeworfen wird. Auch die Situation in der Hauptverhandlung unterscheidet sich ganz wesentlich von Verfahren beispielsweise gegen vermeintliche oder tatsächliche Mitglieder der RAF oder der PKK. Die Angeklagten Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben sitzen im Gerichtssaal an einem Tisch neben ihren Verteidigern, ohne Trennscheibe, ohne Behinderung. Diese rechtsstaatlichen Standards sucht man vergeblich, wenn es in Staatsschutzverfahren gegen Linke oder Kurden geht. Verstehen Sie mich nicht falsch; mir geht es nicht darum, diese Be- und Einschränkungen auch für Beate Zschäpe und die anderen Angeklagten zu fordern. Ganz und gar nicht. Vielmehr ist zu fordern, dass diese Bedingungen auch in anderen Staatsschutzverfahren gelten.
Wie wirkte Beate Zschäpe bei ihrem ersten Auftritt vor Gericht auf Sie?
Nicht überraschend. Ich hatte nicht erwartet, dass sie sich von dem Geschehen im Gericht beeindrucken lässt. Und das Bild, das ein Teil der Öffentlichkeit von ihr gezeichnet hat - dass sie nur ein kleines Rädchen gewesen sei und immer die Offene und Warmherzige war - wird jetzt endlich wieder korrigiert. Als überzeugte Rassistin und Rechtsextremistin war nicht zu erwarten, dass sie Reue oder Scham zeigen wird.
Was erwarten Ihre Mandanten von diesem Verfahren?
Die Erwartungen unserer Mandanten sind natürlich hoch. Sie wollen wissen, wie der NSU entstehen konnte, wer dabei geholfen und wer dabei weggesehen hat. Sie wollen wissen, welchen Anteil staatliche Stellen daran haben, dass über zehn Jahre lang eine beispiellose rassistische Terror- und Mordserie unaufgeklärt stattfinden konnte. Und sie wollen natürlich wissen, warum gerade ihr Vater, Bruder oder Sohn ermordet worden ist.
Wie wollen Sie diesen Erwartungen gerecht werden?
Wir wollen maximale Aufklärung. Uns ist natürlich klar, dass der Wahrheitsfindung in einem Strafverfahren Grenzen gesetzt sind. Aber ein solches Verfahren bietet auch Chancen. Vor allem, weil wir es hier auch mit einem sogenannten Strukturverfahren zu tun haben. Das heißt Fragen, wie wer an der Gründung des NSU beteiligt war, wer den NSU unterstützt hat, wer die Helfershelfer bei den Taten waren, sind Gegenstand des Prozesses. Wir werden diese Fragen stellen, und das Gericht kann sie auch nicht einfach beiseite wischen.
Der Vorsitzende des Staatsschutzsenats Manfred Götzl hat deutlich gemacht, dass er den »Verstrickungen« der verschiedenen Verfassungsschutzämter und dem »Versagen« der Polizei nicht explizit nachgehen will. Kann das gelingen?
Nein, das wird nicht gelingen. Der Generalbundesanwalt hat in seiner Anklageschrift die ganzen Fragen einer möglichen staatlichen Beteiligung zwar ausgeblendet, aber das war auch nicht anders zu erwarten. Eine Hauptverhandlung folgt aber nicht zwangsläufig der Logik einer Anklageschrift. Es wird daher auch Aufgabe von uns als Nebenklagevertreter sein, durch Befragungen von Zeugen und das Stellen von Beweisanträgen die Verwicklung von Polizei und Verfassungsschutz in diese Taten zu thematisieren.
Können die Interessen der Angehörigen in einem solchen Verfahren, das ja nicht zuletzt auch staatspolitischen Interessen dient, überhaupt angemessen Berücksichtigung finden bzw. anders ausgedrückt, drohen sie nicht von vorneherein unter die Räder zu geraten?
Die Institution der Nebenklage bietet die Möglichkeiten, als Verletzter einer Straftat oder als Angehöriger eines Mordopfers eigene prozessuale Rechte wahrzunehmen, um zu verhindern, dass deren Interessen verloren gehen. Wir wissen aus vielen Verfahren gegen Rassisten und Neonazis, dass Staatsanwaltschaft und Gericht viel zu oft die Gesinnung und die Umstände der Tat auszublenden versuchen. Allerdings konnte die Nebenklage diese Strategie in solchen Verfahren oft vereiteln. Dass das NSU-Verfahren nicht zu einer Reinwaschung der deutschen Gesellschaft verkommt, ist insofern auch Aufgabe der Nebenklage.
Neben Beate Zschäpe sind lediglich vier weitere NSU-Unterstützer angeklagt. Laut Recherchen der Antifa umfasst das Umfeld des NSU weitaus mehr Personen. Ist diese Beschränkung nicht ein deutliches Indiz dafür, dass mit dem Verfahren ein bestimmtes Bild des NSU festgeklopft werden soll?
Wir finden die schnelle Festlegung, dass der NSU nur aus drei Personen besteht, sehr problematisch. Das Bundeskriminalamt hat unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Existenz des NSU am 4. November 2011 seine Ermittlungsgruppe »BAO Trio« genannt, obwohl es keinerlei Gewissheit darüber gab und gibt, dass der NSU tatsächlich nur aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bestanden hat. Diese Festlegung, dass es sich nur um drei Mitglieder gehandelt haben soll, versperrt den Blick auf das Umfeld. Wir sollten aber auch bedenken, dass die Bundesanwaltschaft gegen weitere Beschuldigte ermitteln wird. Sie geht von rund 129 Personen aus, die dem Umfeld des NSU zugerechnet werden können. Dort mehr Licht ins Dunkel zu bringen, wird unter anderem unsere Aufgabe sein.
Es wird sicherlich eine partielle Interessengleichheit zwischen Nebenklage und Verteidigung geben. Beiden wird daran gelegen sein, das Versagen von Polizei und Geheimdienst zu thematisieren. Wie geht man damit als Nebenklagevertreter um? Und welche Auswirkungen hat das auf das Verhältnis zu Ihren Mandanten?
Diese Interessengleichheit ist wirklich nur partiell. Zwar wird sich die Verteidigung auch für den Anteil von Polizei und Geheimdiensten an Entstehung und Fortbestand des NSU interessieren. Ihr wird es aber nicht um Aufklärung gehen. Es ist zu erwarten, dass sie versuchen wird, das wenige Licht noch mehr zu verdunkeln, um am Ende sagen zu können: Wir wissen gar nichts oder zumindest zu wenig für eine Verurteilung. Das Ziel von uns als Nebenklagevertretern wird es dagegen sein - ich wiederhole mich -, maximale Aufklärung zu erreichen. Und dazu gehört natürlich auch, die Verstrickungen von Polizei und Verfassungsschutz zu thematisieren.
Dieser Prozess soll richten, was die deutschen Behörden über 15 Jahre, zwei Sprengstoffanschläge und zehn Morde hinweg versäumt haben. Muss das nicht schiefgehen, bzw. ist damit nicht schon der Ausgang festgelegt?
Der Prozess kann natürlich kein Ersatz für jahrzehntelanges Fehlverhalten der Behörden sein. Das ist nicht möglich. Damit wären die Erwartungen an den Prozess tatsächlich überzogen. Aber er kann ein wichtiger Teil sein - neben der Arbeit der Untersuchungsausschüsse, der journalistischen und antifaschistischen Recherche - für die Aufklärung und Aufarbeitung. Zwar geht es in einem Strafverfahren immer um die Feststellung der (Un-)Schuld der Angeklagten und nicht um die historische Aufarbeitung. Aber - das haben ja auch viele andere große Prozesse in der Vergangenheit gezeigt - die prozessualen Mittel, die in einem Strafprozess den Prozessbeteiligten zur Verfügung stehen, bieten viele Möglichkeiten, Fragen zu stellen, die über den Prozess hinaus von Bedeutung sind.
Peer Stolle
ist Strafverteidiger in Berlin und Mitglied im Vorstand des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV). Im NSU-Prozess vertritt er einen der Söhne von Mehmet Kubasik.