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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 583 / 17.5.2013

Wessen Frieden, welche Bedingungen?

International Nach Öcalans Angebot, den bewaffneten Kampf in Kurdistan einzustellen, verlassen die ersten PKK-KämpferInnen die Türkei

von Ekrem Ekici

Am 21. März hat Abdullah Öcalan, der inhaftierte Anführer der PKK, sich an die KurdInnen in der Türkei gewandt und das Ende des bewaffneten Kampfes gegen den türkischen Staat erklärt: »Endlich beginnt eine neue Ära, nicht die Waffen, sondern die demokratische Politik wird im Vordergrund stehen.«

Der Brief wurde von Abgeordneten der BDP einer großen Menschenmenge vorgelesen, die in Amed (Diyarbak?r) Newroz feierte: »Heute wachen wir in einer neuen Türkei, einem neuen Mittleren Osten auf und sehen in eine neue Zukunft. Unser Kampf war niemals gegen ein Volk, eine Religion, eine Konfession oder Gruppe gerichtet, das könnte niemals der Fall sein. Unser Kampf richtete sich gegen Unterdrückung, Unwissen, Ungerechtigkeit und erzwungene Rückständigkeit, gegen alle Formen von Repression und Knechtschaft.«

Laut Öcalan hat der bewaffnete Kampf seit 1984 bedeutende und substanzielle Errungenschaften für die kurdische Bewegung erkämpft. Nun sei es an der Zeit, in eine neue Phase einzutreten: »Der Kampf ist nicht zu Ende, sondern ein neuer, anderer Kampf beginnt.« Damit diese neue Phase beginnen kann, sollen sich die KämpferInnen der PKK, die sich noch auf türkischem Staatsgebiet befinden, hinter die Grenzen nach Nordirak zurückziehen, sagte Öcalan.

Der Brief von Öcalan wurde von den KurdInnen und in linksliberalen Kreisen in der Türkei begeistert aufgenommen. Dafür gibt es gute Gründe: Für beide Konfliktparteien waren die Kosten sehr hoch. Zwischen 1984 und 2012 wurden 21.800 KämpferInnen der PKK durch die türkische Armee getötet, 7.000 Soldaten wurden durch die PKK getötet, und etwa 6.500 Zivilisten starben in diesem Konflikt. Außerdem wurden während dieser 28 Jahre mehr als 200.000 Menschen unter der Anklage der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation inhaftiert.

Was bedeutet Öcalans Ruf nach Frieden?

Was ist seine Motivation angesichts dessen, dass die PKK in der letzten Zeit militärisch sehr erfolgreich war? Die allgemeine positive Reaktion in der türkischen Öffentlichkeit ist aufgrund der oben genannten Fakten verständlich. Aber der Friedensprozess wird nicht so einfach und linear verlaufen, wie es scheint. Kurz nach Öcalans Erklärung gab Murat Karay?lan, der militärische Kommandeur der PKK, ein Interview, in dem er darauf hinwies, dass es sehr schwierig sein wird, die KämpferInnen der PKK von diesem Prozess zu überzeugen: »Als Führungsorgan stimmen wir alle dem generellen Anliegen von Öcalans Aufruf zu.(...) Aber: Als ich mit den Anführern der mittleren Ebene sprach, wollte ich mit dem Prozess der Überzeugung anfangen. Die Reaktionen und Befürchtungen dort sind legitim. Sie sagen, wir sind hierhergekommen, um einen Krieg zu führen. Das ist das, was wir seit Jahrzehnten tun, und wir sind darin bis zu einem Punkt gekommen, der es uns ermöglichen könnte, etwas Konkretes zu erreichen. Und nun sagst du uns, wir sollen aufhören.« Karay?lan betont, dass für einen dauerhaften Waffenstillstand Rechtsgarantien durch das türkische Parlament notwendig seien, dass die KämpferInnen der PKK straffrei ausgehen.

Neben der Vorsicht der KämpferInnen einer gut organisierten und etablierten bewaffneten Organisation berührt Karay?lans politischer Einsatz eine entscheidende Frage: Was ist der Gegenstand der Verhandlungen?

Die geostrategischen Träume der AKP

Die PKK führt seit 1984 einen bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat. Neben der Forderung nach Bodenreformen waren zuletzt vor allem die Rechte auf Schulunterricht in der kurdischen Sprache, Meinungsfreiheit sowie Anerkennung der KurdInnen als Volk in der Verfassung die wichtigsten Forderungen. Keine dieser Forderungen wurde bisher erfüllt. Stattdessen hat der türkische Staat je nach politischer Konjunktur die Angriffe gegen die KurdInnen und die PKK mal intensiviert, mal abgeschwächt. Die AKP-Regierung hat in den letzten zehn Jahren bewiesen, dass sie die allgemeine Tendenz der türkischen Staatsideologie »Eine Nation, ein Staat, eine Flagge« fortführt. Was hat sich dennoch in der politischen Konjunktur geändert, dass Öcalan zum Träger eines Friedensprozesses wird, ohne konkrete Forderungen zu stellen?

Die AKP-Regierung scheint diesem Prozess ebenfalls mit einer zwar vorsichtigen, aber dennoch positiven Perspektive gegenüberzustehen. Nach Öcalans Newroz-Botschaft sagte Erdogan, dass es keine Repression geben werde, wenn die KämpferInnen der PKK die Türkei verlassen. Es gehört ebenfalls zu den typischen Wendungen der türkischen Regierungspolitik, dass Erdogan eine Woche später sagte: »Ja, sie (die KämpferInnen) können die Türkei verlassen, aber nur unter der Bedingung, dass sie ihre Waffen abgeben.«

Wie verhält sich all dies zu den Träumen der AKP, zu einer regionalen imperialistischen Macht im Mittleren Osten zu werden? Nützt es dieser Strategie der AKP, wenn sie die Kurdinnen anerkennt, da diese ebenfalls einen Machtfaktor im Irak und besonders in Syrien darstellen? Und könnte diese Situation mit dem zusammen hängen, was gerade in Syrien vor sich geht? Die Antwort auf diese Fragen ist ein definitives Ja.

Ein genaues Lesen von Öcalans Botschaft zeigt, dass er nicht nur die türkische und die kurdische Bevölkerung anspricht, sondern auch auf die aggressive Großmachtstrategie der AKP eingeht.

In seiner Ansprache an das »verehrte Volk der Türkei« im zweiten Teil des Briefes betont er »das beinahe tausendjährige Zusammenleben mit den Türken unter der Flagge des Islam« und nennt KurdInnen und TürkInnen »die beiden grundlegenden, strategischen Mächte des Mittleren Ostens«. Der Aufruf an die AKP zur gemeinsamen Hegemonieausübung nach außen betont zunächst das gemeinsame Schicksal im türkischen Nationalstaat: »Türken und Kurden sind gemeinsam bei Canakkale gefallen, sie haben den Befreiungskrieg zusammen geführt, 1920 das Parlament gemeinsam eröffnet. (...) Es ist, als erlebten wir eine aktualisierte, kompliziertere und verschärfte Version des Befreiungskriegs, der sich in der jüngeren Geschichte im Rahmen des Nationalpaktes (1920) unter Führung der Türken und Kurden entwickelte.« Der militärische Sieg gegen die Briten in Canakkale im Westen der Türkei im März 1915 ist auch heute noch ein wichtiges Element im türkischen Nationalmythos. Das Ziel des Nationalpaktes der jungtürkischen Bewegung im Jahr 1920 war die Verhinderung eines armenischen Staates, der im Friedensvertrag zwischen dem Osmanischen Reich und der Entente für das Gebiet um Kars und Erzurum vereinbart worden war.

Nach diesen Beteuerungen Öcalans, die Grundlagen der türkischen Republik anzuerkennen, kehrt er zu Fragen der Außenpolitik zurück: »Der Mittlere Osten und Zentralasien sind auf der Suche einer zeitgemäßen Moderne und einem demokratischen Konzept, das ihrer eigenen Geschichte entspricht. (...) Es ist unvermeidlich, dass wieder Anatolien und Mesopotamien, die dortige Kultur und Zeit, Vorreiter bei seinem Aufbau sein werden.« Hintergrund dessen ist: Die kurdische Widerstandsbewegung in Syrien konnte durch den Rückzug der Truppen von Assad aus den kurdischen Gebieten Syriens eine autonome Regierung in dieser Region aufbauen. Dies hat die türkische Regierung, die sehr früh den Widerstand in Syrien unterstützt hat, vor enorme Probleme gestellt. Die Anerkennung der kurdischen Bewegung in der Türkei soll nun der türkischen Regierung ermöglichen, in Syrien freier agieren zu können. Mit seinen Formulierungen von einer gemeinsamen Gestaltung des Mittleren Ostens durch TürkInnen und KurdInnen gibt Öcalan zwischen den Zeilen der türkischen Regierung das Okay für deren Pläne in Syrien.

Diese geopolitische Bedeutung des kurdischen Frühlings hängt eng mit der multidimensionalen regionalen Dynamik im Nahen Osten zusammen. Angesichts des Bürgerkriegs in Syrien und der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung der autonomen kurdischen Region im Irak haben die KurdInnen als politische Kraft in der Türkei, im Irak und in Syrien erheblich an Bedeutung gewonnen. Der Handel der Türkei mit der kurdischen Region im Irak hat inzwischen ein großes Gewicht für beide Seiten, ebenso der mögliche Transport von Öl aus Irakisch-Kurdistan durch Syrien (über das Mittelmeer) in die Türkei. In Syrien haben die Kurden mit der Organisation PYD eine autonome Region etabliert, die den Ausgang des Konflikts zwischen dem Assad-Regime und den RebellInnen beeinflussen könnte. Während die PYD lange Zeit eher mit dem Assad-Regime verbündet war, deutet sich in den letzten Wochen an, dass sie die Seiten wechselt und mit den RebellInnen kooperiert. Diese Aspekte machen die Position der türkischen Regierung verständlich, die versucht, die KurdInnen auf ihre Seite zu ziehen, anstatt in Konflikte mit ihnen verwickelt zu sein. Dennoch bleibt die Frage, ob der kurdische Frühling eine Win-Win-Situation für beide Seiten darstellen wird.

Im Angesicht der außenpolitischen Kalküle sind Öcalans Phrasen von einer »demokratischen Moderne« als »neue Option des Wegs aus der Unterdrückung« nicht allzu ernst zu nehmen. So war es auch kein Zufall, dass wenige Tage später, am 25. März, Benjamin Netanjahu sich während des Besuchs von US-Außenminister Kerry in Israel telefonisch bei Erdogan für die vor drei Jahren getöteten Aktivisten der Mavi Marmara entschuldigte. Die taz notierte dazu am 26. März: »Die schnelle Annäherung zeigt, dass beide Seiten eine Normalisierung der Beziehungen für überfällig hielten. Das gilt, wie Netanjahu ausdrücklich sagte, vor allem angesichts des Bürgerkriegs in Syrien.«

Ekrem Ekici promoviert an der FU Berlin zum Materialismus von Louis Althusser.