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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 583 / 17.5.2013

10 Jahre danach

Deutschland Vom Fordern und Fördern der Hartz-Gesetze bleiben Niedriglohn, Disziplinierung und Altersarmut

Von Christian Brütt

Am 15. März 2002 hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die »Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« unter der Leitung des damaligen VW-Personalchefs Peter Hartz eingesetzt. Über den Bericht hinaus formte die rotgrüne Bundesregierung die sogenannte Agenda 2010, deren zentrale Botschaft Bundeskanzler Schröder in einer Regierungserklärung vorstellte: »Wir werden die Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.«

Mit den Hartz-Gesetzen und der Agenda 2010 trieb die rot-grüne Bundesregierung einen grundlegenden Wandel des deutschen Sozialstaats voran. »Eigenverantwortung« und »Fördern und Fordern«, oder, wie es die Hartz-Kommission als Leitidee formulierte, »Eigenaktivitäten auslösen - Sicherheit einlösen« waren die zentralen Schlagworte. Doch die geforderte Eigenverantwortung war bereits in den konzeptionellen Grundlagen gleich doppelt eingeschränkt. Denn sie setzt zum einen ein gewisses Maß an Selbstbestimmung voraus. Nur wer etwas zu entscheiden hat, kann in letzter Konsequenz auch verantwortlich für sein Tun oder Lassen sein. Doch die Selbstbestimmung, der auch die Frage unterliegt, welche Arbeit zumutbar ist oder nicht, ist mit den Hartz-Gesetzen radikal eingeschränkt worden. Zum anderen sind gleichzeitig die Handlungsmöglichkeiten der Geförderten und Geforderten von vorneherein auf ein bestimmtes Handlungsfeld, nämlich auf den Arbeitsmarkt, eingeschränkt worden.

Fördern und Fordern

Sozialpolitik wird seitdem immer weniger als Grundlage, Voraussetzung oder Ressource selbstbestimmten Handelns in der Demokratie und auf dem Arbeitsmarkt verstanden, sondern als enge Leitplanke eines flexibilisierten Arbeitsmarktes und zunehmend prekärer Beschäftigung. Sozialpolitik nach Hartz ist insofern nichts weiter als ein Paternalismus mit Marktzufuhreffekt.

In einem Strategiepapier formulierten Bundeskanzler Gerhard Schröder und der damalige britische Premierminister Tony Blair die neue Zielsetzung der »neuen« Sozialdemokratie: »Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behindert, muss reformiert werden. Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln.«

Die Begriffe »Sprungbrett« und »Eigenverantwortung« als Attribute des neuen, noch zu schaffenden aktivierenden Sozialstaats zielten auf eine scharfe Abgrenzung zum alten, zu überwindenden Sozialstaat. Die Attribute des Neuen verweisen auf die Problemdiagnose des Alten: Das institutionelle Arrangement des alten Sozialstaats bismarckscher Prägung habe statt Eigenverantwortung Abhängigkeit geschaffen. Zudem habe es kein Sprungbrett aus der Arbeitslosigkeit und Armut geboten, sondern Ansprüche generiert, die als eine Arbeitslosigkeits- oder Armutsfalle wirkten.

Die Konsequenzen aus dieser Diagnose schienen klar: Fehlanreize, die durch zu generöse Sozialleistungen bestünden, müssten beseitigt werden. Fehlverhalten, also der Mangel an Arbeitswilligkeit, müsse durch Kontrolle und Sanktionen unattraktiv gemacht werden. Zugleich könne damit die Ursache mangelnder Nachfrage nach der Arbeitskraft Erwerbsloser beseitigt werden. Ursächlich seien die vermeintlich zu hohen Anspruchslöhne der Erwerbslosen, die aus den zu attraktiven Bedingungen der Sozialhilfe wie des Arbeitslosengeldes entstünden. Denn das Angebot schaffe sich seine eigene Nachfrage - es sei denn, es ist zu teuer.

Hauptsache Arbeit

Neu an der Politik nach Hartz ist nicht, dass Sozialpolitik nunmehr ökonomische, auf den Arbeitsmarkt und den Verkauf der Arbeitskraft ausgerichtete Funktionen hat. Der Neuigkeitswert steckt in der Art der Umsetzung sowie in der Zielbestimmung. Die Post-Hartz-Sozialpolitik setzt auf Flexibilität der Beschäftigungsverhältnisse, das Auffüllen nicht-existenzsichernder Markteinkommen durch Sozialleistungen, das Anheben der Beschäftigungsfähigkeit vor allem durch Absenken der Ansprüche und vermehrt auf eine minimale Grundversorgung.

Die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist dementsprechend ausgestaltet worden. Qualitative Aspekte wie die Verbesserung der Qualifikation treten dabei hinter Aspekten der preislichen und quantitativen Beeinflussung der Arbeitskraft zurück. Die Qualifizierung der Arbeitskräfte weicht einer Politik des Billiger und Williger oder anders gesagt: Hauptsache Arbeit, egal welche. Deswegen sind mit dem ersten Hartz-Gesetz die Zumutbarkeitsregelungen verschärft worden. Flankiert wird diese Regelung durch eine Umkehr der Beweislast: Nicht mehr das Amt muss die Zumutbarkeit, sondern die Erwerbslosen müssen die Unzumutbarkeit eines verfügbaren Jobs nachweisen (Hartz I). Wer dennoch aufbegehrt, dem kann mit der neuen Sperrzeitenregelung schneller und stufenweise länger das Arbeitslosengeld gestrichen werden (Hartz I und III).

Aber es stimmt: Laut Bundesagentur für Arbeit ist von Juni 2003 bis Juni 2012 die Anzahl der sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigten um etwa 12 Prozent gestiegen. Der Anstieg der Beschäftigung ergibt sich nicht aus mehr sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjobs, sondern aus mehr sozialversicherungspflichtiger Teilzeitbeschäftigung und aus mehr Minijobs. Und während die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um gut sieben Prozent anwuchs, stieg die Zahl der MinijobberInnen um knapp 40 Prozent. Zudem arbeiten heute gegenüber dem Jahr 2002 etwa 15,5 Prozent mehr Menschen im Niedriglohnsektor, also für weniger als 9,15 Euro brutto pro Stunde.

Die Minijobs, wie sie seit Hartz II heißen, sollen im Wesentlichen drei Funktionen erfüllen: Sie sollen erstens Arbeitslose in Arbeit bringen. Das ist die »Brückenfunktion«. Sie sollen, zweitens, Menschen einen ökonomisch attraktiven Weg aus vorhandener illegaler, zumeist im Privathaushalt ausgeübter Beschäftigung in einen legalen Minijob weisen. Das ist die »Legalisierungsfunktion«. Und drittens sollen sie nach damaliger Auffassung der rotgrünen Bundesregierung für Arbeitgeber »flexible Gestaltungsmöglichkeiten für Beschäftigungen im Niedriglohnbereich« schaffen. Das ist die »Nachfragefunktion«.

Was die Legalisierungs- und die Nachfragefunktion betrifft, sind Minijobs wirksam. Denn es gibt mehr legale, prekäre Jobs. Die Brücke Minijob führt in die Niedriglohnfalle und verdrängt insbesondere in kleineren Betrieben reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.

Hinter dem Anstieg der Beschäftigtenzahl verbirgt sich des Weiteren die gewachsene Anzahl an LeiharbeiterInnen um 177 Prozent. Für Arbeitslose ist Leiharbeit allenfalls ein schmaler Steg in eine reguläre Beschäftigung, der zudem mit Beginn der Wirtschaftskrise weggebrochen ist. Für ArbeitgeberInnen ist Leiharbeit eine weidlich genutzte Gelegenheit, Tarifstandards zu unterlaufen.

Hartz IV vollendete die Wiederbelebung einer Unterscheidung, die seit dem Mittelalter mal mehr, mal weniger grundlegend für die Politik mit der Armut ist: die zwischen würdigen und unwürdigen Armen. Zu den Unwürdigen zählen dabei all jene, die als erwerbsfähig angesehen werden, aber auch alle, die als »Ortsfremde« nicht als dazugehörig anerkannt sind.

Die entsprechende sondergesetzliche Ausgliederung nach unten begann mit dem vor zwanzig Jahren beschlossenen Asylbewerberleistungsgesetz. Hartz IV bildete den Abschluss dieser wiedererstarkten Differenzierung nach »Würdigkeit«, indem es die Mindestsicherung für Erwerbsfähige, also für potenziell »unwürdige Arme«, sozialrechtlich fixierte. Die strikten Sanktionen bis zum vollkommenen Entzug der monetären Leistungen, die strikte Überprüfung sowohl der moralischen (Arbeitswilligkeit) als auch finanziellen (Einkommen und Vermögen) Bedürftigkeit und nicht zuletzt die bis heute nicht ausreichende Höhe des Arbeitslosengeldes II wirken weit über die Gruppe der unmittelbar Betroffenen hinaus. Hartz diszipliniert auch all jene, die noch eine Erwerbsarbeit haben, indem es das unmissverständliche Signal sendet: Jede auch noch so prekäre Arbeit ist besser als Hartz IV.

Hartz IV diszipliniert

Hartz IV ist zudem eine Stütze des Niedriglohnbereichs, weil Erwerbstätige, deren Einkommen nicht zum Leben reichen, »aufgestockt« werden. Im Juni 2012 gingen 30 Prozent aller erwerbsfähigen Hartz-IV-EmpfängerInnen einer Erwerbstätigkeit nach. Doch es sind die Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung alias Ein-Euro-Jobs, die in den ersten Hartz-IV-Jahren die Haupt- und inzwischen immer noch eine tragende Rolle unter den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Grundsicherung für Arbeitssuchende spielen.

Ein-Euro-Jobs sind bürokratisch verordnete Leiharbeit: Null Lohn für Arbeit. Entleihfirmen oder -organisationen müssen nicht nur nichts zahlen, sie erhalten für die Tatsache, dass sie die Arbeitskraft der Hartz-IV-BezieherInnen nutzen dürfen, sogar eine finanzielle Entschädigung von durchschnittlich 266 Euro. Und: Weil Ein-Euro-Jobber nicht als arbeitslos gelten, fallen sie aus der Arbeitslosenstatistik.

Bereits heute müssen weitere Folgen der Aktivierungspolitik in den Blick genommen werden. Denn es ist absehbar, dass aus den heute erwerbslosen wie auch arbeitenden Armen die ArmutsrentnerInnen von morgen werden. Damit werden die Ansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung immer größer, »Reparaturleistungen« zu erbringen. Dazu war sie stets nur eingeschränkt in der Lage. Bestimmte Instrumente, wie die Aufwertung von Zeiten niedrig entlohnter Beschäftigung oder die Anerkennung von Ausbildungszeiten, sind zudem abgeschafft oder drastisch eingeschränkt worden. Für Langzeiterwerbslose werden zudem keine Rentenbeiträge mehr gezahlt. Und eine Mindestsicherungsfunktion hat die gesetzliche Rente ebenfalls nicht. Statt aber den Arbeitsmarkt zu entprekarisieren und zugleich die Lebensstandardsicherung wieder in der Rente zu verankern, soll auch nach Plänen der schwarzgelben Bundesregierung das Prinzip der sozialpolitischen Marktzufuhr gelten. Die Rente würde dann immer weniger eine Lohnersatzleistung und immer mehr eine Lohnergänzungsleistung werden. Die KombilöhnerInnen müssten dann übergangslos in die Kombi-Rente gehen.

Christian Brütt schrieb in ak 553 über die Kombi-Rente.