Alarm auf der Elbinsel
Aktion In Hamburgs Süden wehren sich LehrerInnen, Eltern und SchülerInnen gegen immer schlechtere Bedingungen an den Schulen
Interview: Maike Zimmermann
SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg haben die Nase voll. »Wir schlagen Alarm!«, rufen sie und machen darauf aufmerksam, dass auch in der schönen neuen IBA-Welt bei weitem nicht alles rosig aussieht. Bereits im Dezember 2012 hatten die Schulleitungen von 16 Schulen in einem Brandbrief auf die unhaltbare Situation an den Schulen der Elbinsel aufmerksam gemacht.
ak: Was ist los, warum schlagt ihr Alarm?
Ramses Oueslati: Weil die Situation immer unhaltbarer wird. Ich bin Lehrer an der Nelson-Mandela-Schule, einer von 16 Schulen hier auf der Elbinsel. Wir haben uns von einer sogenannten sozialen Brennpunkt-Schule zu einer Vorzeigeschule entwickelt. Wir hatten innerhalb von drei Jahren hamburgweit die besten Ergebnisse bei der Schulinspektion. Wir individualisieren, wir versuchen, jedem einzelnen Schüler gerecht zu werden. Wir differenzieren, gucken nach dem unterschiedlichen Leistungsniveau, versuchen, genau dort bei den Schülern anzuknüpfen. Wir tun schon alles, und es klappt trotzdem nicht. Unsere Schüler liegen teilweise zwei Jahre zurück. Wenn wir daran etwas ändern wollen, geht es nur mit kleineren Klassen, Doppelbesetzung, Entlastung für die Lehrkräfte. Die Probleme sind weder neu, noch auf diesen Stadtteil beschränkt. Aber richtig brisant ist es, seit vor drei Jahren die sogenannte Inklusion in Hamburg eingeführt wurde. Das ist an sich eine sehr gute Sache. Es geht um Menschenrechte, es geht darum, dass Schüler mit Behinderungen nicht in Förderschulen gesteckt werden und damit exkludiert werden, sondern dass sie gemeinsam mit allen anderen lernen. Das Problem ist nur, dass hierfür nicht genügend Ressourcen zur Verfügung stehen.
Aber die Inklusion wurde doch nicht ohne Änderungen eingeführt, oder?
Nein, so dreist war es nicht. Es gibt pro Woche zwei oder drei Mal für ein paar Stunden eine zusätzliche Lehrkraft. Den Rest macht man allein mit 21 bis 24 Schülern. Da ist es kaum möglich, allen gerecht zu werden. Am Anfang haben wir alle gesagt: Ja, die Ressourcen sind schlecht, aber wir probieren das mit der Inklusion. Und am Ende mussten wir feststellen: Es reicht nicht, nur die Haltung zu ändern. Es gibt so psychologische Modelle, die wir besprochen haben. Zuerst gerät das Schulkollegium in eine Schockphase. Dann kommt langsam die Konsolidierungsphase - das ist ja alles empirisch belegt, das nennt sich Change-Management. Und dann merkt man, es geht doch, und dann kommt man in sowas wie die Performance-Phase. Das haben zwar nicht alle geglaubt, aber wir haben gesagt: Okay, wir probieren das. Und irgendwann mussten wir feststellen: Nein, wir kommen nicht in die Performance-Phase.
Was habt ihr dann gemacht?
Wir haben mit anderen Schulen einen Brandbrief geschrieben, in dem wir die Lage geschildert haben. Als der an die Öffentlichkeit kam, gab es plötzlich viel Wirbel. Ansonsten haben wir alle ins Boot geholt: die Eltern, die Schüler, teilweise den Stadtteil. Das war nicht schwierig, weil die Bedarfslage allen klar war. Es gab dann mehrere Gespräche zwischen dem Senator und allen 16 Schulleitungen. Das Ergebnis waren zehn Millionen Euro und ein Maßnahmenkatalog, in dem es vor allem um schulentwicklerische Dinge geht. Allerdings wirkt das ein oder andere in diesem Katalog eher wie eine Art Pflicht- und Kontrollberatung. Der Senator sagt: Ihr braucht jetzt einfach eine gute Schulberatung. Hallo? Wir sind bereits bestens aufgestellt, das hat seine eigene Schulinspektion bestätigt. Wenn diese 16 Schulen jetzt explizit beraten werden sollen, klingt das so wie: Wir nehmen unsere Störenfriede mal hier raus. Das, was wir brauchen, sind Ressourcen. Und die gibt er eben nicht in dem Umfang, wie wir sie haben wollen.
Was ist denn euer Problem mit den zehn Millionen Euro?
Der Senator hat gesagt: zehn Millionen Euro für 15 bis 20 Schulen aus ganz Hamburg - denn die Probleme gibt es ja nicht nur auf der Elbinsel. Diese zehn Millionen sollen aber im Haushalt umgeschichtet werden. Vermutlich werden die also von anderen Schulen abgezogen. Das haben alle 16 Schulen abgelehnt. Wir wollen nicht, dass anderen was weggenommen wird. Wir wollen uns nicht spalten lassen. Zehn Millionen reichen nicht, weil sie beim einzelnen Schüler im praktischen Unterricht nicht ankommen. Damit sollen sich zwei Jahre aufholen lassen? Von anderen Schulen, die das auch brauchen, reden wir da noch gar nicht.
Hat sich durch euren Protest etwas an dem Bewusstsein der Leute im Stadtteil verändert?
Dadurch, dass man sich an einem gemeinsamen Punkt organisiert hat, also an einer Sache und nicht aus einer Institution oder Organisationslogik heraus, hat man es geschafft, alle Leute zu erreichen. Wäre es nur von unten gekommen, hätte man vielleicht Schulleitungen gegen sich gehabt. Wäre es nur von oben gekommen, hätte es auch nicht diese Wirkung entfaltet. Dass es möglich war, 16 Schulen an einen Tisch zu kriegen, liegt vor allem daran, dass sich diese Schulen schon seit Jahren treffen und es ein gegenseitiges Vertrauen gibt. Jetzt muss man abwarten, ob das sogar ein Startschuss sein könnte - der Groll über die Art und Weise der Umsetzung der Inklusion ist überall groß. Das ging so weit, dass wir gesagt haben: Wenn unsere Forderung nach Ressourcen nicht erfüllt wird, werden wir bei der Eröffnung der IBA unseren Protest zeigen. Und da hat der Senator kurz vorher seinen Brief geschickt - da hat er nochmal Glück gehabt.
Was hältst du denn von der Bildungsoffensive Elbinsel?
Was ich persönlich davon halte? Aus Bildungsperspektive gesagt: Nun ja, Kirchdorf hat halt ein paar Brotkrumen abbekommen, ein Gebäude, das steht neben der Nelson-Mandela.
Ihr habt doch auch ein kleines Gartenstückchen auf dem igs-Gelände gekriegt - auch so ein Brotkrumen?
Ja. Und mehr kann man dazu eigentlich nicht sagen. Das Einzugsgebiet der Nelson-Mandela-Schule ist nicht das, was man gentrifizierungswürdig nennt: Kirchdorf-Süd, bei der Autobahn, und Alt-Kirchdorf. Ganz anders sieht das im Vogelhüttendeich-Viertel aus, wo es noch Altbausubstanzen gibt und wo es jetzt auch schöne Cafés gibt. Wenn über Gentrification diskutiert wird, muss man sagen: Es gibt da klar Betroffene. Und das sind eben zum Teil die Eltern der Kinder, die bei mir in der Klasse sitzen.
Aber mit eurem Protest gebt ihr euch nicht mit Brotkrumen zufrieden?
Nein, auf keinen Fall. Mich interessieren keine Brotkrumen, mich interessieren hard facts. Und das sind gute Schulabschlüsse, und dass die Leute eine Perspektive haben, und zwar eben nicht in einem durchmischten Stadtteil zu leben, in dem sie gucken können, wie neue Leute zuziehen und sie selber arm bleiben. Sondern dass sie selber eine Perspektive haben, aus ihrer Armut herauszukommen. Das interessiert mich. Nachdem wir hier in Hamburg versucht haben, die Eine-Schule-für-alle einzuführen, haben wir jetzt eine weiter verkappte Gesamtschule, die Stadtteilschule, und nach wie vor das Gymnasium. Und alle, die es nicht auf das Gymnasium schaffen, kommen auf die Stadtteilschule. Die wiederum hat so wenig Ressourcen, dass sie Gefahr läuft, eine neu angemalte Hauptschule oder Resteschule zu werden. Eine Stadtteilschule sollte eigentlich dazu führen, dass sie alle Schulabschlüsse ermöglicht. Selbst progressive Eltern in meinem Freundeskreis versuchen alles, um ihre Kinder auf's Gymnasium zu schicken und entsolidarisieren sich so mit schulbildungsfernen Milieus. Kann ich es ihnen zum Vorwurf machen? Seit über zehn Jahren wird in kaum noch zählbaren Studien nachgewiesen, dass der soziale Aufstieg in Deutschland katastrophal schlechter ist als in vielen anderen Ländern. Eltern, die einen Hauptschulabschluss haben, werden Kinder haben, die einen Hauptschulabschluss haben, Realschule gleich Realschule, Gymnasium gleich Gymnasium. Diese Selektion ist in unserem Schulsystem einfach drin - wenn man das verändern will, geht das nicht mit ein paar didaktischen Konzepten, die noch dazu fragwürdig sind. Diese neoliberalen Bildungsforscher haben in den letzten zehn Jahren bewiesen, dass ihre Konzepte mit Empirie für betriebswirtschaftliche Standards und Kompetenzen nicht funktionieren. Es ist Zeit, dass sie nach Hause gehen.
Was hältst du denn von Kompetenzorierentierung? Andreas Hellgermann hat sich ja dazu in ak 579 sehr kritisch geäußert.
Man darf nicht vergessen: Die Forderung nach Kompetenzorientierung ist eine ursprünglich linke Forderung des Bildungsforschers Wolfgang Klafki. Er hat gesagt, Kompetenzen sollen dazu führen, dass man von diesem Bulimie-Lernen wegkommt: Stoff rein, bei der Klassenarbeit wieder auskotzen und dann vergessen. Vielmehr gehe es darum, zu lernen, wie ich mir Wissen aneigne. Wichtig sind dabei auch Inhalte: Ein Rahmenplan muss ausgerichtet sein an epochalen Schlüsselproblemen dieser Welt wie Armut, Migration, Ökologie, Gender usw. . Was die neoliberalen Bildungsforscher draus gemacht haben, ist: Schlüsselprobleme weg und das Ganze aufgetakelt mit ein paar empirisch-psychologischen Konzepten. Die ganze humane Bildung, das ganze Politisch-Theoretische wurde rausgeworfen. Damit sind Kompetenzen frei verfügbar. Du kannst mit Kompetenzen ein tolles Controlling machen, wenn du weißt, wie du deine Firma optimieren willst auf Kosten von Humankapital. Du kannst aber auch Kompetenzen erlernen, um lebenslang die Welt zu verbessern.
Wie äußert sich denn so eine Kompetenzorientierung in der Schule?
Es gibt Kompetenzen, die als Standards gesetzt sind, die jeder Schüler und jede Schülerin qua Lehrplan lernen muss. Das kann man der Kompetenzorientierung nicht zum Vorwurf machen, sondern das hat etwas mit Standards und deren Überprüfung zu tun. Das ist auf der Elbinsel besonders dramatisch, weil die Schüler von uns Lehrkräften immer mehr gequält werden und die Schüler uns deswegen immer mehr quälen. Die Zeit, die Lernen braucht, die Luft, die Freiheit, das Nachdenken, das Warten im Unterricht, bis Schüler und Schülerinnen ihren Weg zu einem Thema finden, auch wenn sie Irrwege gehen und Fehler machen, diese Zeit ist weniger da. Und damit bleibt das Gefühl von Druck - auf beiden Seiten. Als Lehrkraft bist du in der Gefahr, diesen Druck dann auch zu machen. Weil du genau weißt: Scheiße, ihr müsst einen Hauptschul- oder Realschulabschluss oder auch Abi machen. Ich weiß ja, dass es nach der Schule nicht gemütlicher wird. Die Spielräume für progressive Konzepte werden enger. Die 68er hatten diese Spielräume noch eher. Die konnten sagen: Jetzt machen wir zwei Monate das Thema Atompolitik zusätzlich zum Rahmenplan. Das ist heute schwieriger, weil meine Verantwortung für die Schüler in prekären Zeiten steigt.
Und wie geht es weiter bei euch?
Am 1. Juni schließen wir uns dem gesamten Protest an, den es in Wilhelmsburg gibt. Da werden wir gemeinsam alle unterschiedlichen Perspektiven zusammenführen. Insofern muss sich der Senator weiterhin mit uns an einen Tisch setzen - immer mit dem Vorbehalt, dass wir an die Öffentlichkeit gehen.
Am 1. Juni 2013 veranstalten verschiedene Initiativen und Vereine eine Demonstration unter dem Motto »Wir sind die Elbinseln!«. Beginn: 13 Uhr Stübenplatz, Hamburg-Wilhemlsburg.
Ramses Michael Oueslati
ist Lehrer und Interkultureller Koordinator an der Nelson-Mandela-Schule in Wilhelmsburg. Darüber hinaus ist er in der Lehreraus- und -fortbildung tätig und nimmt an der Universität Hamburg Examensprüfungen für LehrerInnen ab.