Was tun gegen die Besatzung?
Diskussion Anmerkungen zur Boykott-Kampagne gegen Israel
Von Achim Rohde
Vor acht Jahren rief ein breites Spektrum palästinensischer zivilgesellschaftlicher Organisationen und Einzelpersonen die BDS-Kampagne ins Leben; BDS ist die Abkürzung für Boykott, Desinvestment, Sanktionen. Ihr Ziel ist es, angesichts ausbleibender Fortschritte auf dem Weg zu einer politischen Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts neue Wege zu beschreiten, um eine Reihe palästinensischer Kernforderungen durchzusetzen, denen sich Israel bislang verweigert: ein Ende der Besatzung, die volle Gleichberechtigung palästinensischer BürgerInnen Israels sowie die Umsetzung des sog. Rückkehrrechtes palästinensischer Flüchtlinge, die 1948 im Zuge der Staatsgründung Israels aus ihrer Heimat vertrieben wurden oder flohen.
Die Kampagne ruft dazu auf, Israel als Apartheidstaat einzustufen, nach dem Vorbild des Anti-Apartheid-Kampfes international zu isolieren und durch einen ökonomischen, kulturellen wie akademischen Boykott und internationale Sanktionen unter Druck zu setzen. Mittlerweile existiert auch ein deutschsprachiger Zweig der Kampagne. (www.bds-kampagne.de) Der Deutschlandbesuch eines prominenten Gründungsmitglieds der Kampagne, Omar Barghoutis, im März illustriert die Bemühungen der BDS-AktivistInnen, das Thema auch hierzulande stärker zu profilieren. (1)
Doch die öffentlichen Auftritte Barghoutis in Berlin und Leipzig vermochten kaum mediales Echo zu erzeugen. Deutschland ist ein schwieriges Diskursumfeld für die Kampagne, weckt ihre Forderung nach einem Boykott Israels doch unweigerlich Assoziationen mit der Boykottkampagne der Nazis gegen Juden und Jüdinnen. Auch der nicht als Freund israelischer Regierungspolitik bekannte Micha Brumlik, der auf einer Veranstaltung der taz mit Barghouti diskutierte, bezeichnete zwar die Zustände in den besetzten Gebieten als mit dem Apartheidsystem vergleichbar, nahm aber Israel in seiner Gesamtheit gegen diesen Vorwurf in Schutz. Zugleich begründete er seine kategorische Ablehnung der BDS-Kampagne mit dem Argument, in Deutschland dürfe man aufgrund der Naziverbrechen keinesfalls zu einem Boykott israelischer Waren und Institutionen aufrufen. (taz, 30./31.3./1.4.2013)
Universelle Werte
Unter der Wucht dieser von beiden Seiten mit großer moralischer Verve geführten Auseinandersetzung droht die Debatte, kaum eröffnet, in identitätspolitischer Symbolik zu erstarren: hier die aufrechten AntifaschistInnen und geschichtsbewussten »guten Deutschen«, dort die als MenschenrechtsaktivistInnen verkappten AntisemitInnen. Oder andersrum: hier die blinden ParteigängerInnen Israels, dort die KämpferInnen gegen das letzte direkte Überbleibsel des europäischen Kolonialismus. Das Verharren in diesen gut befestigten Frontlinien wird weder der Situation in Israel/Palästina gerecht, noch hilft es bei der Suche nach konkreten Handlungsmöglichkeiten zur Überwindung der Besatzung. (2)
Nur vernagelte IdeologInnen werden die Realität der Militärbesatzung mit all ihren brutalen und kafkaesken Facetten abstreiten oder gar als rechtmäßig verteidigen, und nur ganz besonders gute »FreundInnen« Israels werden behaupten, die Knechtung der PalästinenserInnen und die schleichende Annektierung der Westbank infolge des Siedlungsausbaus stellten keine Gefahr für das Überleben Israels als demokratischer Staat dar. Das primäre Ziel einer an universellen Werten und an palästinensischen wie jüdisch-israelischen Interessen gleichermaßen orientierten Politik muss daher die Überwindung der Besatzung sein. Über Spezifika einer derartigen Regelung - ein binationaler Staat oder zwei Staaten, die Art der praktischen Umsetzung des Rückkehrrechts u.a. - sowie über die zu ihrer Durchsetzung probaten Mittel ist zu diskutieren.
Doch genau dies versuchen die israelische Diplomatie und ihre UnterstützerInnen in den USA und Europa zu verhindern, indem sie die Besatzung als nebensächliches Problem zu verharmlosen und Israel als Hort liberal-demokratischer Werte zu stilisieren suchen, während sie gleichzeitig die BDS-Kampagne als gefährlichen Ausdruck eines »neuen«, d.h. gegen Israel gerichteten Antisemitismus brandmarken. Mit mäßigem Erfolg, wie sich an der weltweit steigenden Akzeptanz der BDS-Kampagne ablesen lässt, deren AktivistInnen zunehmend zu legitimen Akteuren avancieren, auch wenn bislang keine Staaten oder internationalen Organisationen sich ihre Agenda zu eigen gemacht haben. Eine gewaltfrei agierende zivilgesellschaftliche Initiative lässt sich tatsächlich nur schwer als existentielle Gefahr für den Kraftprotz des Nahen Ostens darstellen, zumal ihre Ziele und Methoden von international gültigen Rechtsnormen gedeckt sind. Der schrille Ton der Kritik gegen die von der Kampagne propagierten Mittel soll offensichtlich vor allem dazu dienen, eine Auseinandersetzung mit den Argumenten der BDS-AktivistInnen zu vermeiden.
Dabei wurde das von der BDS-Kampagne gewählte und von Brumlik als Nazi-Methode skandalisierte Mittel des Boykotts schon in zahlreichen anderen Kontexten für politische Zwecke eingesetzt. Nicht zuletzt von der zionistischen Bewegung selbst, als sie in den 1920er Jahren das Prinzip der Avodah Ivrith (jüdische Arbeit) im Yishuv durchsetzte, also den Boykott arabischer ArbeiterInnen durch jüdische ArbeitgeberInnen und damit die Trennung des Arbeitsmarktes im britischen Mandatsgebiet Palästina entlang ethnischer Linien.
Auch heute noch setzen israelische Regierungen dieses Mittel ein, um ihre politischen Ziele gegenüber PalästinenserInnen durchzusetzen: Die Strangulierung der palästinensischen Wirtschaft in den Autonomiegebieten, die unter anderem zum frustrierten Rücktritt des vom Westen wie von Israel hochgelobten ehemaligen Ministerpräsidenten Salam Fayad im April geführt hat, ist Folge einer israelischen Politik, die das Entstehen einer lebensfähigen und nicht komplett von Israel oder den Geberländern abhängigen palästinensischen Ökonomie boykottiert. Und was soll die heutige israelische Politik gegenüber der Bevölkerung des Gazastreifens anderes sein als eine radikalisierte Form des Boykotts, nämlich eine Belagerung, welche die Menschen dort von der Außenwelt abschneidet und jedweder Entwicklungsmöglichkeiten beraubt?
Innerhalb des israelischen Staatsgebietes warten beduinische Siedlungen im Negev teilweise seit Jahrzehnten auf eine offizielle Anerkennung seitens des Staates - und damit auf Wasserleitungen, Stromversorgung, Müllabfuhr etc. Die Liste ließe sich fortsetzen. Insofern stellt die BDS-Kampagne eine Antwort auf eine seit Langem etablierte israelische Politik des Boykotts gegenüber PalästinenserInnen dar und keine Aggression aus heiterem Himmel gegen friedliebende Israelis. Da die Fortführung und Vertiefung der Besatzung und Kolonisierung palästinensischer Gebiete in der israelischen Politik zu einem Selbstgänger geworden ist und weder die jetzige noch absehbare zukünftige Regierungen diese Dynamik aus eigenem Antrieb durchbrechen dürften, ist externer Druck nach meiner Auffassung das einzige verbleibende Mittel, um Bewegung in die festgefahrene Situation zu bringen.
Schwachpunkte der BDS-Kampagne
Doch die BDS-Kampagne fordert nicht etwa einen palästinensischen KonsumentInnenboykott gegenüber israelischen Produkten, wie er während der ersten Intifada zeitweise durchgesetzt werden konnte, sondern propagiert weitergehende Ziele und wendet sich an ein internationales Publikum. Sie benötigt daher Verbündete und muss sich auf die unterschiedlichen Kontexte einstellen, in denen sie agiert. So betonen BDS-AktivistInnen denn auch den dezentralen Charakter der Kampagne und die Möglichkeit, sich ihre Forderungen auf unterschiedliche Weise zu eigen zu machen.
Doch wenn KritikerInnen der BDS-Kampagne in Europa und den USA auf die Gefahr verweisen, diese könne Antisemitismus im Mantel der Israelkritik schüren bzw. salonfähig machen und antisemitisch motivierte UnterstützerInnen anziehen, fällt ProtagonistInnen der Kampagne nicht viel mehr ein als mantraartig zu wiederholen, diese richte sich allein gegen die Besatzung und damit gegen israelische Institutionen, nicht gegen israelische Individuen und schon gar nicht gegen Jüdinnen und Juden, das Antisemitismus-Argument sei daher hinfällig. Die Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfes durch die israelische Diplomatie ist jedoch kein hinreichender Grund, sich einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den genannten Argumenten von KritikerInnen der BDS-Kampagne zu verweigern. Schon gar nicht in Deutschland.
Dieser Schwachpunkt der Kampagne verweist auf die grundsätzliche Frage des Umgangs mit möglichen unerwünschten Nebenwirkungen und politisch untragbaren PartnerInnen bei ihrer Umsetzung. So gehört ein genereller kultureller und akademischer Boykott Israels zu den symbolträchtigsten und gleichzeitig vor Ort praktisch irrelevantesten Maßnahmen, die im Rahmen der BDS-Kampagne vorstellbar sind. Ob sie politisch dennoch sinnvoll sein könnten, sei hier dahingestellt. In Deutschland jedenfalls ist ein solches Vorgehen undenkbar, nicht nur angesichts historischer Sensibilitäten oder der Verantwortung für die in Israel beheimateten Überlebenden der Lager und ihre Nachkommen, sondern aufgrund der realen Gefahr, damit antisemitische Tendenzen in der Gesellschaft zu reaktivieren und zu stärken. Was nicht heißt, dass man sich die israelischen PartnerInnen, mit denen sich in Deutschland viele gerne schmücken, nicht ruhig etwas genauer anschauen sollte hinsichtlich ihres Verhaltens gegenüber der Besatzung.
EU-Sanktionen?
Aber am wirkungsvollsten und zugleich am ehesten vermittelbar sind gezielte Maßnahmen im wirtschaftlichen und politischen Bereich. Tatsächlich sollten deutsche und europäische Akteure keine Geschäfte mit der Besatzung machen. Entsprechende Kampagnen gegen einzelne Firmen und Investmentfonds bzw. Rentenfonds haben schon in mehreren Ländern zu Erfolgen geführt. So hat der staatliche norwegische Rentenfonds seit 2009 seine Investitionen in eine Reihe israelische Firmen zurückgezogen, die von der Besatzung profitieren. (www.whoprofits.org ) Ein Konsumentenboykott israelischer Agrarprodukte, Weine oder Kosmetikartikel, die ganz oder teilweise auf besetztem Gebiet produziert werden, dient dem eigenen moralischen Wohlbefinden, dürfte aber jenseits seiner symbolischen Aussage kaum praktische Auswirkungen haben. Es geht eher um Desinvestment in Bereichen, die für die israelische Wirtschaft von strategischer Bedeutung sind, etwa die Hightechbranche und der damit eng verbundene militärisch-industrielle Komplex. (3) In diesem Zusammenhang gehören auch die Vorzugsbedingungen für Israel bei Waffenexporten und die enge Zusammenarbeit israelischer und deutscher bzw. europäischer Behörden im Sicherheitsbereich auf die Tagesordnung.
Der Grundsatz »more for more« der EU-Politik gegenüber nordafrikanischen Ländern im Rahmen der sogenannten Mittelmeerpartnerschaft, der einen wirksamen Hebel zur Durchsetzung europäischer Interessen dort darstellt, könnte auch gegenüber Israel zur Anwendung kommen, indem die weitere ökonomische und politische Verflechtung Israels mit der EU an Fortschritte beim Abbau der Besatzung gebunden wird. Eine Verweigerung der israelischen Seite würde dann zum Einfrieren dieser Verflechtung sowie ggf. zu Sanktionen führen. (eurobserver.com)
In diese Richtung weisende Forderungen wurden im Februar bereits von verschiedenen hohen EU-RepräsentantInnen in Israel/Palästina formuliert. Doch da die Außen- und Wirtschaftspolitik der EU in hohem Maße von den Regierungen der Mitgliedsstaaten bestimmt wird und diese bislang vor einem robusteren Vorgehen gegenüber Israel zurückschrecken, bleiben solche Stimmen innerhalb der EU wirkungslos. Daher ist es auch in Deutschland unerlässlich, sich der durch BDS initiierten Debatte um praktische Interventionsmöglichkeiten in Israel/Palästina zu stellen.
Achim Rohde schrieb in ak 582 über Israels reaktionäre neue Regierung.
Anmerkungen:
1) Passend dazu wurde das programmatische Buch Omar Barghoutis zur BDS-Kampagne in deutscher Übersetzung veröffentlicht: Boykott - Desinvestment - Sanktionen. Die weltweite Kampagne gegen Israels Apartheid und die völkerrechtswidrige Besatzung Palästinas. ISP-Verlag, Köln/Karlsruhe 2012.
2) Unter diesem Begriff fasse ich die Gesamtheit der von israelischen Regierungen entwickelten Kontrollregimes gegenüber unterschiedlichen Teilen der palästinensischen Bevölkerung der Westbank, Jerusalems und des Gazastreifens zusammen: direkte Militärherrschaft, indirekte Herrschaft via palästinensische Autonomiebehörde, Annektierung, Belagerung und Isolation.
3) Für einen erhellenden Artikel zu den Zusammenhängen zwischen der Besatzung, der Enteignung von PalästinenserInnen und der Hyperausbeutung von BilliglöhnerInnen im israelischen Hightechsektor siehe http://wbk.in-berlin.de/files/matrix-bilin.pdf.