Bisherige Antworten in Zweifel ziehen
Diskussion Fallstricke und Herausforderungen linker Geschichtspolitik
Von Renate Hürtgen
»Eine linke Geschichte«, so nannten vor einigen Jahren die Grips-Theatermacher eines ihrer Bühnenstücke und hatten damit auf witzige Weise eine Metapher dafür gefunden, dass eine linke Geschichtsschreibung nicht frei ist von zweifelhaften Deutungen. Dieses Problem hat auch die AutorInnen des Artikels »Im Zweifel für den Zweifel. Eine Montage zu den Möglichkeiten linker Geschichtspolitik« (siehe ak 570) umgetrieben.
Sie zweifeln mit Recht daran, dass ein Geschichtsbild schon allein dadurch wahrhaftiger wird, dass es von Menschen mit einer linken Gesinnung gezeichnet wird. Führt die Entgegnung auf einen herrschenden Mythos, fragen sie, nicht wieder zu einem solchen, nun mit umgekehrtem Vorzeichen, aber nicht weniger unhistorisch? Die AutorInnen sind offensichtlich misstrauisch gegenüber einer Linken, die der Geschichte, namentlich ihrer eigenen, nicht kritisch gegenübersteht. Und sie haben guten Grund für ihre Befürchtung.
Reflexartige Abwehr statt Aufarbeitung
Geradezu reflexartig reagiert ein Teil der Linken auf jede Kritik an den Gesellschaften des sogenannten realexistierenden Sozialismus. Sie versuchen zu retten, was nicht mehr zu retten ist, indem sie die »guten Seiten« in der Art von Verteidigungsritualen immer und immer wieder aufzählen. Das streichelt die Volksseele und verleiht einer solchen Geschichtsbetrachtung den Anschein von Verbundenheit mit den Massen, wenigstens mit denen im Osten.
Demgegenüber ignoriert dieselbe Linke - im schlimmsten Fall verteidigt siesie sogar - viel zu häufig die politische Verfolgung durch die DDR-Staatssicherheit und die Schüsse an der Grenze und erinnert die ehemaligen Beschäftigten im VEB mit erhobenem Zeigefinger daran, wie gut es ihnen damals gegangen sei.
Hier hört die Massenverbundenheit allerdings auf. Denn mit einem solchen Urteil über den Betriebsalltag in der DDR lässt sich kaum erklären, warum die Bevölkerung dieses Regime zum Teufel gejagt hat. Ein historisch erklärender Zugang zum überraschenden Wahlergebnis im März 1990 bleibt einer Linken jedenfalls verschlossen, die nicht zur Kenntnis nehmen will, dass eine Mehrheit in der DDR schon seit langem frustriert und unzufrieden mit ihrem Leben geworden war.
Überhaupt scheint 1989 kein günstiger Augenblick für einen großen Teil der Linken gewesen zu sein, endlich mit der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte zu beginnen. Enttäuscht über den Ausgang der Massenbewegungen - wieder einmal hatte das Ergebnis einer revolutionären Erhebung wenig mit dem zu tun, weswegen die Akteure mobil geworden waren, und noch weniger mit dem, was sich die Linke erhofft hatte -, fanden viele unter ihnen einfach kein Verhältnis zu den Demonstrierenden. Was sie wollten, blieb ihnen fremd, deren Begehren nach einem westlichen Leben völlig unverständlich.
Ich gehöre zu denen, die verzweifelt über den Ausgang der Revolution 1989 und entsetzt über den folgenden Einheitstaumel waren. Eine historische Aufarbeitung ersetzen diese Gefühle jedoch nicht. Und nur wenige Linke haben sich an diese Arbeit gemacht.
Die nach 1989 aufkommende Fokussierung auf den faschistischen Charakter der (bevorzugt Ost-)Deutschen hatte mit einer historisch-kritischen Analyse dessen wenig zu tun, was die Mehrheiten so und nicht anders hatte handeln lassen. Häufig ersetzen derartige Zuschreibungen eine genaue Darstellung der Ereignisse und der Motive ihrer Akteure, die auf diese Weise der Einfachheit halber auf zwei, drei Eigenschaften reduziert werden.
Tatsächlich waren die Jahre 1989/90 voller widersprüchlicher, oft unerwarteter Ereignisse, so dass es einiger Anstrengungen bedurft hätte, sich in diesem Wirrwarr zurechtzufinden. Zu wenig Linke haben sich dieser Mühe unterzogen; ihre Fremdheit gegenüber der DDR-Bevölkerung und ihre eigene Betroffenheit über den Ausgang der Geschichte waren zu groß.
Die Situation war 1989/90 für die Linke in jeder Hinsicht schwierig. Im Kampf der beiden imperialen Mächte hatte der Westen den Osten geschlagen. Es war nicht zu übersehen, wer als »Sieger der Geschichte« daraus hervorgegangen war. Die bürgerliche Welt triumphierte und begann von Stund an, die bisherige Entwicklung so zu deuten, als wäre alles bisherige Geschehen ein Markstein auf dem Weg zum vereinigten Deutschland gewesen.
Ein Paradebeispiel für diese Art von Umdeutung liefern die alljährlich stattfindenden Feierlichkeiten zum 17. Juni 1953. Sehr schnell war mit dem Begriff des »Volksaufstandes« sein Charakter als Arbeiteraufstand verdrängt und alle Motive und Forderungen der Aufständischen auf den Wunsch nach Wiedervereinigung à la 1990 reduziert.
Wo war die Linke im Kampf um die Deutungshoheit?
Aber wo blieb die Linke? Was hatte und hat sie dieser teleologischen Geschichtsbetrachtung entgegenzusetzen außer Empörung darüber, dass damit zugleich die heutige als die beste aller Welten gelobpreist wird? Die einzig richtige Antwort wäre gewesen, sich selber mit dem Charakter dieses Juniaufstandes zu befassen, mit den zahlreichen, auch linken Mythen, die dieses Ereignis bis heute begleiten. Er eignet sich hervorragend, um die Frage zu diskutieren: Wie sozialistisch war die DDR überhaupt?
In der Historikerzunft tobte nach 1989 ebenfalls der Kampf um die Deutungshoheit. Auch wenn es dabei ganz wesentlich um die Geldtöpfe ging, um Professuren und Projekte: Es ging auch um die Methoden und Inhalte, es ging darum, nunmehr festzuschreiben, wie diese Gesellschaften einzuschätzen sind.
In der öffentlichen Wahrnehmung haben eher die VertreterInnen einer totalitarismustheoretischen Herangehensweise das Rennen gemacht. Aber auch ihre theoretischen KontrahentInnen, die sozialdemokratisch orientierten SozialwissenschaftlerInnen und AlltagshistorikerInnen, konnten mit ihren Arbeiten die Büchertische füllen.
Die ZeithistorikerInnen sämtlicher Couleur haben wichtige, dank der nach 1990 geöffneten Archive auch neue Erkenntnisse über die DDR geliefert. Nur zu einer historisch-materialistischen Analyse der DDR-Gesellschaft hat es nicht gereicht: Die einen verblieben auf der Ebene politischer Herrschaft und reduzierten die DDR häufig auf die Stasi. Die anderen verloren sich in der empirischen Beschreibung der DDR-Gesellschaft, bei der die Strukturen, namentlich die vertikalen der Herrschaft, zu kurz kamen.
Und wo war die Linke in diesem Streit? Sichtbar wurde sie zunächst eigentlich nur in Gestalt einer Reihe von DDR-ProfessorInnen, deren »natürliche« Erkenntnisgrenze sich mit ihrer Funktion in der DDR erklärt: Entweder verteidigten sie diese Gesellschaft oder sie gehörten zu den ReformerInnen, die nicht über die Logik der Verbesserung des Parteistaates hinauskommen. Zu einem radikalen Neuansatz reichte es einfach nicht.
Leider schlossen sich viele Linke diesem Verständnis an bzw. machten sich nicht daran, es zu widerlegen. Sie waren vielmehr damit beschäftigt, die politisch diffamierenden Einschätzungen der Totalitarismusforschung zu verdammen, ohne deren richtige und wichtige Befunde zur Kenntnis zu nehmen. Empört wiesen sie zurück, wenn von politischer Unterdrückung in der DDR gesprochen wurde, statt sich an die theoretische Arbeit zu machen, nicht nur die politischen, sondern vor allem die ökonomischen Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen in der DDR aufzudecken. Statt also 1989 als Chance zu begreifen, aus der Logik der Systemkonfrontation auszubrechen und damit zu einem Neuanfang linker Geschichtsaufarbeitung zu gelangen, machte sich vielerorts die alte Bunkermentalität breit.
Inzwischen hat sich einiges geändert; die von mir nur skizzenhaft angedeutete Situation einer linken Geschichtsaufarbeitung am Ende der sogenannten Systemauseinandersetzung ist am Aufbrechen. Fragen nach der Tradition der Linken und nach der kommunistischen Alternative werden gestellt, gezweifelt wird an der Gültigkeit der bisherigen Antworten. Die im ak angestoßene Diskussion über den zeitgemäßen Umgang mit linker Geschichte ist nur eine von vielen, die aktuell innerhalb der Linken geführt werden. Machen wir uns an die Arbeit.
Renate Hürtgen, linke Ostbürgerbewegte, ist Zeithistorikerin und in zahlreichen sozialen und betrieblichen Bewegungen aktiv.
Anmerkung:
Was Renate Hürtgen konkret unter historisch-kritischer Aufarbeitung versteht, kann in ihrem Aufsatz »Wie sozialistisch war der real-existierende Sozialismus? oder: Es ist nicht immer drin, was draufsteht« nachgelesen werden, erschienen in dem Band »Was tun mit Kommunismus?!« im Unrast Verlag.
Die Loukanikos-Debatte
Das AutorInnenkollektiv Loukanikos entwickelte seine Thesen zu linker Geschichtspolitik in dem Artikel »Im Zweifel für den Zweifel« (ak 570) und in dem Interview »Wir brauchen keine linken Mythen« (ak 578). Jens Renner nahm in ak 580 mit dem Beitrag »Antworten, die neue Fragen aufwerfen« darauf Bezug. In ak 581 setzte David Begrich mit dem Artikel »Erzählung statt Mythos« die Diskussion fort.