An eine Nation in Flammen
International Ein Versuch, die Hand zu verstehen, die Steine wirft - offener Brief der antirassistischen schwedischen Organisation Pantrarna
Ende Mai kam es in mehreren Stadtteilen Stockholms zu tagelangen Unruhen, die auch international ein starkes Medienecho auslösten. (Siehe Kasten) Anlass war der Tod eines 69-jährigen Mannes während eines Polizeieinsatzes im Stockholmer Vorort Husby. Die BewohnerInnen Husbys sind zu ca. 80 Prozent MigrantInnen erster und zweiter Generation. Die 2010 in Husby gegründete Stadtteilgruppe Megafonen forderte eine unabhängige Untersuchung des Polizeieinsatzes und rief zu einer Demonstration gegen Polizeigewalt am 15. Mai auf. Diese Demonstration gilt vielen als Auslöser der Unruhen, nicht zuletzt deshalb kam Megafonen in der Berichterstattung besondere Aufmerksamkeit zu. Am 23. Mai äußerten sich Mitglieder von Pantrarna, der Göteborger Schwesterorganisation von Megafonen (siehe ak 577), zu den Unruhen in einem offenen Brief in Aftonbladet, einer der größten schwedischen Tageszeitungen. Wir dokumentieren ihn in leicht gekürzter Form.
Von Homa Badpa und Murat Solmaz
Wir wenden uns in erster Linie an unsere Geschwister von Megafonen. Unser letztes Telefongespräch musstet ihr mitten im Satz abbrechen: »Jetzt brennt schon wieder ein Auto, wir müssen los!« Ihr steht im Zentrum eines Sturms. Wir schreiben euch, weil wir wissen, was ihr durchmacht, und wir bewundern euren Umgang mit den Ereignissen der letzten Tage. Vor ein paar Jahren brannten auch bei uns Autos. Die Polizei tat, was sie wollte, und die Politiker sagten, was sie wollten.
Die verkohlten Autowracks, das zerschlagene Glas: Es ist so einfach, das alles zu verurteilen. Und genau das wird jetzt von euch erwartet: Ihr sollt nichts erklären, sondern einfach in den Chor der Verurteilung einstimmen. Doch egal, was ihr sagt, es wird ihnen niemals reichen. Ihr werdet nie oft genug das sagen können, was ihr schon mehrmals deutlich gesagt habt: Die Gesellschaft lässt sich mit diesen Methoden nicht verändern. Aber diejenigen, die eine Handlung verurteilen, ohne sie zu erklären, verurteilen auch die Gefühle und Erfahrungen, die zu einer solchen Handlung führen. Daher habt ihr völlig recht, wenn ihr auf Erklärungen besteht und von Verurteilungen Abstand nehmt.
Wir wenden uns auch an alle, die die Ereignisse von außen beobachten. Euch wollen wir fragen: Könnt ihr die Hand verstehen, die einen Stein auf Polizisten wirft? Könnt ihr es zumindest versuchen? Stellt euch vor, ihr werdet als Kind wegen eures Akzents und eures Aussehens verspottet. Eure Rolle ist die des Außenseiters. Eure Lehrer sitzen unmotiviert hinter ihrem Tisch. Um Anerkennung zu finden, zündet ihr euch eine Zigarette an und streift mit euren Freunden durchs Viertel. Ihr werdet von dem geformt, was euch umgibt.
Es ist schwierig, stark zu sein, wenn es keine Vorbilder gibt. Ihr habt vielleicht nicht den besten Kontakt zu eurer Familie. Ihr habt eure Mutter oder euren Vater im Krieg im Irak verloren. Oder eure Geschwister im Krieg in Afghanistan. Niemand hört euch zu, ihr könnt euch an niemanden wenden. Ihr versucht, euer Leben in Ordnung zu bringen, aber ihr findet keinen Job, weil Daniel Svensson ihn euch jedes Mal vor der Nase wegschnappt. Ihr verliert die Hoffnung. Manche stehen das durch, andere landen auf der schiefen Bahn.
Viele sagen, ihr müsst einfach kämpfen. Aber das ist nicht so leicht. Die Bullen schauen euch immer über die Schulter. Eure Hoffnung schwindet und schwindet, und die Versuchung wird immer stärker. Drogen gibt es überall. Der Gruppendruck wächst und ihr fühlt euch gezwungen, Sachen zu tun, an die ihr früher nie gedacht hättet. Irgendwann steht ihr da mit einem Stein in der Hand. Werdet ihr ihn werfen?
Zurück zu Megafonen: Ihr habt recht, wenn ihr das, was diese Woche geschehen ist, als »Vorortsrevolte« bezeichnet. Es handelt sich nicht um »Jugendkrawalle« oder »unpolitische Aufstände«, sondern um eine Reaktion auf all das, von dem ihr in eurer letzten Pressemitteilung gesprochen habt: »Arbeitslosigkeit, schlechte Schulen und strukturellen Rassismus«.
Wenn ihr zweifelt, stellt euch die folgende Frage: Wenn es euch nicht gäbe, was wäre diese Woche geschehen? Vielleicht wäre ein Pensionär in einem Vorort erschossen worden, ohne dass sich jemand darum gekümmert hätte. Wenn ihr den Leichensack, der mitten in der Nacht hinausgetragen wurde, nicht fotografiert hättet, nachdem die Polizei behauptet hatte, der Mann sei im Krankenhaus gestorben, wäre womöglich alles seinen gewohnten Weg gegangen. Aber es ist richtig, sich zu kümmern, wenn jemand stirbt. Es ist richtig, von der Polizei zu verlangen, dass sie nicht lügt, wenn es um eine Leiche geht.
Ihr hattet Recht, die Demonstration zu organisieren, von der manche nun meinen, sie sei der Grund für die Revolte. Die Frage ist doch: Welche Verbindung besteht zwischen Menschen in verschiedenen Vororten Stockholms und einem Mann, der in einer Wohnung in Husby erschossen wurde? Welche Verbindung besteht zwischen Megafonen und diesem Mann? Er war kein Freund, kein Verwandter. Aber es gibt eine Verbindung zwischen allen Menschen. Wir trauern, wenn jemand stirbt. Wir sind solidarisch. Wir sind alle Teil derselben Gesellschaft. Wir unterstützen euch in jeder Hinsicht. Wir wissen, wie schwierig es ist, eure Position einzunehmen: zu erklären und nicht zu verurteilen.
In manchen Vororten stehen Polizeipferde am Hauptplatz. In anderen gibt es in jedem Innenhof Überwachungskameras. Heute abend hörten wir die ersten Berichte von Unruhen auch in Göteborg. Wird sich die Revolte hierher ausdehnen? Die Probleme sind die gleichen: eine Militarisierung der Vororte, Polizeigewalt, Sozialabbau; das Gefühl, dass niemand zuhört, dass niemand die Berichte von rassistischen Polizisten, Übergriffen und Gewalt hören will, dass es vielleicht brennen muss, damit unsere Stimmen gehört werden. Jetzt brennt es. Und wir halten zusammen.
Wenn es uns nicht gäbe, wer würde sich darum bemühen, die Schatten zu verstehen, die sich auf unseren Straßen mit Steinen in den Händen bewegen? Diese Schatten, die in schwedischen Krankenhäusern geboren wurden und in schwedischen Jugendzentren aufwuchsen, die in diesem Land arbeiten und Steuern bezahlen und sterben wollen, aber von unserem Staatsminister zu Fremden gemacht werden, wenn er ihre Handlungen als das Resultat von »kulturellen Hindernissen« beschreibt. So als ginge es um wütende junge Männer, denen der Eintritt in die schwedische Gesellschaft nicht gelingt. Es erübrigt sich zu erläutern, wie banal und rassistisch diese Aussage ist.
An alle Politiker dieses Landes: Ihr wurdet von der Bevölkerung gewählt. Die Bevölkerung sind wir, alle zusammen. Die Polizei missbraucht ihre Macht und behandelt uns wie Dreck. Politiker sagen alles Mögliche und es bedeutet nichts. Tut etwas, anstatt zu reden! Macht euch nützlich! Setzt eine unabhängige Instanz ein, um das Vorgehen der Polizei zu untersuchen.
Ihr habt die Macht, der Bevölkerung zu helfen, die euch gewählt hat. Ihr verdient Millionen, während die Löhne der Lehrer so beschissen sind, dass auch sie jede Hoffnung verlieren. Ursache und Wirkung. Wenn ihr darauf besteht, jede politische Frage auf eine polizeiliche Frage zu reduzieren, können wir Polizisten statt Politiker wählen.
An alle Kinder der Vororte, unsere Geschwister: Lasst euch nicht verschaukeln! Wenn in euren Vierteln wieder Ruhe eingekehrt ist, werden auch die Medien wieder verschwinden. Sie sind nicht an euren Ansichten zu Polizeigewalt, schlechten Schulen, renovierungsbedürftigen Wohnungen, geschlossenen Jugendzentren und täglicher Diskriminierung interessiert, sondern an brennenden Autos und zerschlagenen Scheiben. Wenn die Revolte vorbei ist, liegt es an euch, weiter von eurem Leben zu berichten. Die Medien werden die Wahrheit immer verdrehen. Lasst euch das nicht gefallen!
Unsere Stimmen zählen. Und wenn niemand sonst zuhören will, dann tauschen wir uns zumindest untereinander aus. Die Schwedendemokraten werden dann vielleicht ein paar Extrastimmen bekommen, aber seid niemals still! Wir dürfen nicht still sein, wir müssen sprechen, gemeinsam. Unsere Taschen sind leer, aber unsere Augen sind reich. Die Macht gehört allen!
Homa Badpa und Murat Solmaz sind Mitglieder der antirassistischen Selbstorganisation Pantrarna aus Göteborg (siehe ak 577).
Übersetzung: Gabriel Kuhn
Zum Weiterlesen
In der Juli-Ausgabe (Nr. 31) der Gai Dào erscheint ein Überblick über die Ereignisse in Stockholm, in der Direkten Aktion Nr. 218 (Juli/August) ein Interview mit Basar Gerecci, Mitbegründer von Megafonen. Auf www.alpineanarchist.org findet sich (auf Englisch) ein Ende 2012 geführtes Interview mit Mitgliedern der Pantrarna. Pantrarna und Megafonen im Netz: pantrarna.wordpress.com und megafonen.com.
Chronologie der Unruhen in Schweden
13. Mai: Eine Spezialeinheit der Polizei dringt im Stockholmer Vorort Husby in die Wohnung eines 69-jährigen Mannes ein, der Nachbarn mit einem Messer bedroht haben soll. Im Zuge des Einsatzes wird der Mann erschossen. Die Polizei berichtet kurz danach im Internet, er sei seinen Verletzungen im Krankenhaus erlegen. Tatsächlich wird die Leiche erst mehrere Stunden später aus der Wohnung transportiert. Die Polizei gibt die fehlerhafte Berichterstattung zu. 14. Mai: Die Stadtteilgruppe Megafonen verlangt eine unabhängige Untersuchung des Polizeieinsatzes und ruft für den nächsten Tag zu einer Demonstration gegen Polizeigewalt auf. 19. Mai: Erste Brandstiftungen und Straßenschlachten in Husby. 20. Mai: Die Unruhen breiten sich auf mehrere Stockholmer Vororte aus. Sie halten auch am 21. Mai an. 22. Mai: Megafonen richtet einen Solidaritätsfonds für die BewohnerInnen Husbys ein, deren Autos oder Geschäfte im Laufe der Unruhen beschädigt wurden. Die Unruhen breiten sich weiter aus, auch auf Orte außerhalb Stockholms. Teile des öffentlichen Verkehrs in der Hauptstadt werden lahmgelegt. 25. Mai: Die Lage normalisiert sich. Insgesamt wurden in Zusammenhang mit den Unruhen über vierzig Menschen verhaftet und mehr als ein Dutzend für Brandstiftung, Vandalismus und Widerstand gegen die Staatsgewalt angeklagt. Etwa 200 Autos brannten aus und mehrere Geschäfte, Polizeidienststellen, Schulen und andere öffentliche Einrichtungen wurden beschädigt.
Gabriel Kuhn