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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 584 / 21.6.2013

Dunkle Mächte

Deutschland In Bezug auf den NSU glauben viele an eine staatliche Verschwörung - auch Linke

Von Tomas Lecorte

Seit der Aufdeckung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im November 2011 wird die Aufklärung der tatsächlichen Geschehnisse begleitet von vielfältigen Spekulationen und Theorien zu möglichen Hintergründen, die bisher unbekannt oder sogar geheimgehalten sind. Angesichts der bisher bekanntgewordenen nachträglichen Manipulationen durch Sicherheitsbehörden sind solche Spekulationen nicht nur naheliegend, sondern durchaus auch sinnvoll. Sie können den öffentlichen Druck erhöhen und weitere schmutzige Geheimnisse ans Tageslicht bringen.

Es ist aber auch die Frage zu stellen, wo diese Art der Debatte umschlägt in das, was gemeinhin als Verschwörungstheorie bezeichnet wird. Diese abwertende Bezeichnung ist verbreitet, aber nicht wirklich treffend: Ihr haftet der Geruch des Verrückten an, was die Kontroverse emotionalisiert; es geht meist auch gar nicht um Theorien, sondern um Meinungen, die durch selektive Recherche und Versuche der logischen Herleitung mehr oder minder überzeugend bewiesen werden.

Wo aber sind die Grenzen zu ziehen zwischen kritischer Nachfrage, schlechtem Journalismus und klassischer Verschwörungstheorie? Das ist kaum objektiv zu beantworten. Wenn ein derzeit viel gelesener und auf Veranstaltungen geladener linker Blogger sich wortreich von Verschwörungstheorien abgrenzt, um sodann seitenweise genau solche zu produzieren, sind die einen überzeugt, er spreche nur aus, was offenkundig sei, während die anderen ihn nicht einmal mehr als Linken bezeichnen wollen. Der Druck, verwertbare Nachrichten zu produzieren, verführt auch kritische Medien dazu, ihre Artikel mit Behauptungen und Verkürzungen anzudicken und die Recherche zu vernachlässigen. Skandalwirkung wird nicht allein durch den Inhalt der Meldung erzielt, sondern schon dadurch, dass die Information nicht allgemein bekannt war. Dies alles wird verstärkt durch die dauernde Verfügbarkeit von Falschmeldungen im Internet, während solche früher rasch im Altpapier verschwanden.

Die eigene Ohnmacht kompensieren

Der Glaube an Verschwörungen soll im Allgemeinen die Gefühle eigener Ohnmacht kompensieren. Weil es einfach nicht akzeptabel ist, dass die Dinge so schlimm laufen wie sie laufen, muss es steuernde Mächte im Schatten geben. Dieses Grundprinzip ist in der gesamten Bevölkerung weit verbreitet und reicht vom Ärger über »Die da oben« bis zu antisemitischen Klischees. Linke sind nicht nur per se nicht frei davon, sondern haben gerade im Fall NSU zusätzliche Auslöser für solche Gefühle, die zumeist mit den Worten »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ...« eingeleitet werden.

Nüchtern betrachtet, ist im Prinzip alles, was im Rahmen des NSU geschehen ist, auch ohne geheime Manipulationen vorstellbar. Vieles von dem, was öffentlich als ungeklärt erscheint, ist in Wirklichkeit durchaus geklärt. Wut und Entsetzen über die Morde machen es aber schwer, das so hinzunehmen, da es sich wie eine Relativierung des Geschehens anfühlt. Das Böse wird banal. In Deutschland hat die gesamte Linke, unabhängig davon welche Sprache im Elternhaus gesprochen wurde, das zusätzliche Problem des schlechten Gewissens: Das Schuldgefühl, die Mordserie des NSU »blind hingenommen« zu haben, ist schwer zu ertragen. Dieses Ohnmachtsgefühl verlangt nach Rechtfertigung und Katharsis und findet sie in der Vorstellung der steuernden Mächte, ohne deren Eingreifen alles vielleicht ganz anders verlaufen wäre.

Hinzu kommt das unterstellte Motiv: Wenn der NSU eine Funktion als staatliche Verschwörung hatte, konnte diese ja offenbar nur im eher allgemeinen Bereich gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und Diskurse liegen (rassistische Stimmung, Verunsicherung von MigrantInnen etc.). Die Vorstellung einer planvollen Beeinflussung gesellschaftlicher Prozesse ist ein Grundbaustein linker Ideen, von der realsozialistischen Planwirtschaft bis zur linksradikalen Kampagne. Insofern entspringt die Idee einer geheimen staatlichen Rassismus-Kampagne à la NSU mehr dem eigenen, linken Blick auf die Gesellschaft als den Mechanismen, die sich bei näherem Hinschauen im Staat und seinen Apparaten beobachten lassen.

Um erfolgreich Politik zu machen, ist nicht unbedingt die Verbreitung objektiver Analysen erforderlich. Meinung kann oft mehr ausrichten als Aufklärung.

Solide Analyse statt schlampiger Artikel

Mir scheinen dennoch die Werkzeuge der materialistischen Analyse zumindest im Fall NSU angemessener. Zu diesen gehören die Quellenkritik und die Kritik der Medien und ihrer Funktion. In den populären Verschwörungstheorien zum NSU geht beides verloren. Schlampige Artikel der bürgerlichen und sogar der Springer-Presse werden zum Beleg linker Hypothesen herangezogen, die Angst vor der erfolgreichen Vertuschung von oben führt zu Generalverdächtigungen auf Vorrat, Vermutungen werden zu Gewissheiten, Behauptungen zu Tatsachen geradegebogen. Damit wird aber letztlich die Tür geöffnet für Desinformation und Verunsicherung und nichts wirklich aufgeklärt.

Tomas Lecorte zeigte in ak 582, dass es neben dem NSU weitere Neonazis gab, die unter den Augen des Verfassungsschutzes jahrelang Anschläge planten und durchführten.

In dem Text »Die Temme-Verschwörung, gesundgeschrumpft« untersucht Tomas Lecorte ausführlich die mögliche Verwicklung eines Beamten des hessischen Verfassungsschutzes in den Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel, siehe www.lecorte.de.