Jede Handlung erweitert den Spielraum
International Asef Bayat über die Rolle des Alltagshandelns in den arabischen Revolutionen
Interview: Juliane Schumacher
Ende Mai stellte Asef Bayat auf einer Rundreise sein Buch »Leben als Politik« erstmals in Deutschland vor. Der Soziologe und Nahostwissenschaftler untersucht seit Jahren die kleinen Schritte, mit denen die Menschen im Nahen Osten ihren Alltag umgestalten. Sein Buch liefert einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Arabellion.
ak: Ihr Buch »Life as politics« über die Strategien der Armen und Marginalisierten im Nahen Osten ist Ende 2010 erschienen - und kurz darauf stürzten Revolutionen einen Machthaber nach dem anderen. Haben Sie die Aufstände erwartet?
Asef Bayat: (Lacht) Als das Buch herauskam und kurz darauf all das geschah, da schrieben auf einmal alle Kommentatoren: Er hat es vorhergesehen! Aber ganz ehrlich: Niemals hätte ich mir vorstellen können, was da passiert ist. Diese Heftigkeit der Umbrüche, diese Geschwindigkeit, mit der sie sich ausgebreitet haben, und auch nicht diese wunderbare Art!
Aber anders als andere Autoren haben Sie durchaus auch schon vor 2011 viel Bewegung im Nahen Osten wahrgenommen. Nicht nur bei den gebildeten Mittelschichten, sondern auch unter den Armen und Marginalisierten ...
Die Forschung sucht nach Bewegungen, wie es sie in westlichen Ländern gibt: Soziale Bewegungen, die eine klare politische Agenda haben, als Kollektiv agieren, Anführer oder Sprecher haben, und offen politischen Druck auf die Machthaber ausüben. Oder nach Nachbarschaftsinitiativen, Stadtteilgruppen, Suppenküchen, die sich als politische Akteure verstehen. Aber unter den Bedingungen, die bis 2011 in den meisten Ländern des Nahen Ostens herrschten, haben sich andere Strategien herausgebildet, die nicht in dieses Raster passen.
Sie sprechen von Nicht-Bewegungen ...
Ja. Der Begriff sollte zeigen, dass es sich nicht um Bewegungen im Sinn der Bewegungsforschung handelt. Die Akteure handeln nicht als Teil einer Gruppe, sondern individuell. Die Marginalisierten versuchen, auf sehr verschiedene Weise ihr Leben zu verbessern. Sie ziehen in die Städte, besetzen Land und bauen darauf. Sie zapfen Stromleitungen an oder Wasserleitungen. Straßenhändler nutzen die Innenstädte, um dort vor den Läden ihre Waren zu verkaufen. Frauen gehen studieren und arbeiten, sie ziehen vor Gericht und legen das Recht sehr kreativ in ihrem Sinn aus. Das sind alles Einzelhandlungen, aber jede Handlung erweitert den Spielraum und erleichtert es den anderen, dasselbe zu tun. Und damit verändern sie den Handlungsspielraum und verschieben die Grenzen, die ihnen gesetzt sind. Ohne großes Aufheben, ohne laute Parolen. Deshalb spreche ich von »quiet encroachment«, von »stillem Vordringen«.
Aber kann man denn von politischem Handeln sprechen, wenn die Akteure einfach nur die Möglichkeiten nutzen, die sich ihnen bieten, um zu überleben?
Oh, viele haben durchaus ein Bewusstsein für das, was sie tun. Die Straßenhändler, die in Kairo die Cornichte besetzen, die Uferpromenade, und dort illegal ihre Waren verkaufen und wieder und wieder von der Polizei geräumt werden, die sagen ganz klar: Gebt uns ein Gesetz, nach dem wir verkaufen können und genug verdienen, gebt uns ein Gesetz, das uns Gewerkschaften erlaubt! Dann zahlen wir Steuern! Was sollen wir sonst tun? Wir haben ein Recht zu leben!
Aber warum haben sich etwa die Straßenhändler dann nicht organisiert und ihre Rechte auch politisch eingefordert?
Es scheint, dass unter den in den arabischen Staaten herrschenden Bedingungen das »stille Vordringen« für die weniger Privilegierten attraktiver ist. Die meisten Armen sind, eben weil sie arm sind und über wenige Sicherheiten verfügen, sehr verletzlich. Offenes politisches Agieren ist für sie vielleicht zu riskant. Vor allem aber verspricht das »stille Vordringen« unmittelbare und sichtbare Erfolge. Würde eine politische Bewegung Erfolge bringen? Das ist nicht sicher. Und selbst wenn, ist nicht klar, ob der Einzelne davon profitieren würde.
Die Marginalisierten suchen also vor allem nach materiellen Verbesserungen ihres Lebens?
Das »stille Vordringen« ist eine Praxis. Und das bedeutet, dass es die Menschen verändert. Die Menschen, ganz allgemein, wollen ein Leben in Würde. Sie wollen nicht bloß überleben. Bloßes Leben, das ist entwürdigend. Aber die Bedeutung davon, was ein würdevolles Leben ist, verändert sich. Eine Frau ist in ihrem Dorf vielleicht jeden Tag weit gelaufen, um Wasser vom Brunnen zu holen. Aber wenn sie in der Stadt wohnt, sieht sie es als ihr Recht an, fließend Wasser und Strom zu haben. Sie sieht es als ihr Recht an, dass ihre Kinder zur Schule gehen können, auch wenn sie vielleicht selbst nicht lesen und schreiben gelernt hat.
Unter welchen Bedingungen bilden sich solche Nicht-Bewegungen?
Es findet meist in autoritären Staaten statt, wo die Bedingungen für kollektive Bewegungen sehr hart sind, oppositionelle Gruppen etwa offiziell verboten sind. Aber es muss auch Raum da sein für das Vordringen. Dieser Raum kann legal sein, er kann auch praktisch sein. Wichtig ist, dass er vorhanden ist. Die Staaten im Nahen Osten sind ja meist autoritär, aber zugleich sind es schwache Staaten, die ihre Kontrolle nicht sehr effektiv ausüben können. Gerade an den Rändern verfügen sie über wenig Legitimität und Macht. In einem totalitären Staat, der alle Schlupflöcher kontrolliert und in dem es keine freien Orte gibt, wäre das »stille Vordringen« sehr, sehr schwierig. Und es ist auch schwierig in einem demokratischen Staat, in dem es zwar mehr politische Freiheiten gibt, aber zugleich das Gesetz streng durchgesetzt wird. Die Ränder in weniger kontrollierten Gesellschaften können ja auch Räume der Freiheit sein, in denen die Normen weniger stark gelten und alternatives Verhalten leichter möglich ist.
Die Nicht-Bewegungen sind also eine Spezifik des arabischen Raumes?
Das habe ich zunächst gedacht. Inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher. Ich war lange an der Amerikanischen Universität Kairo. Aber jetzt bin ich in den USA und sehe bei meinen Studenten dieselben Probleme. Viele der jungen Menschen haben keine Zukunft. Sie sind gebildet, aber sie gehören einer Schicht an, die wirtschaftlich absteigt. Diese »armen Mittelschichten«, Abstieg, Enteignung - das sind globale Probleme.
Die Medien im Westen haben die Revolutionen 2011 teils darauf zurückgeführt, dass die Jugend in den arabischen Staaten in den letzten Jahrzehnten von einem besseren Bildungssystem profitiert habe und die jungen, gut ausgebildeten und informierten Menschen jetzt Demokratie verlangten. Das klingt eher nach Aufstieg als nach Abstieg.
Es ist richtig, dass die jungen Menschen heute sehr viel gebildeter sind - aber zugleich bricht die Mittelklasse weg. Man muss das vor dem Hintergrund der Entwicklung der arabischen Staaten betrachten. Heute verfolgen die meisten Länder ein Modernisierungsmodell wie die westlichen Staaten, basierend auf Konsum und Marketing. Aber vor einigen Jahrzehnten war das anders: Die meisten Staaten, die auf ein sozialistisches Modell setzten, bauten den Wohlfahrtsstaat stark aus. Sehr viel mehr Menschen hatten Zugang zu Bildung, eine Mittelklasse bildete sich heraus. Ab 1990 begann mit der Wende zum Neoliberalismus der Niedergang von Teilen der Mittelschichten. Und jetzt prallt die wirtschaftliche Realität zusammen mit den Hoffnungen vieler junger Menschen auf Aufstieg, mit ihrem Wissen, ihren Kenntnissen, die sie nicht einsetzen können. Das macht sie wütend, frustriert. Und das ist eine Triebfeder für Revolten.
Waren es dann diese »verarmten Mittelschichten«, die die Revolutionen 2011 getragen haben? Oder die Armen, die sie mit ihrem »stillen Vordringen« vorbereitet haben?
Die Revolutionen gingen nicht von den ganz Armen und Marginalisierten aus. Den Protest begonnen haben junge Aktivisten, Teile der neuen arabischen Öffentlichkeit, die sich in den letzten Jahren gebildet hat. Aber an einem gewissen Punkt haben die Marginalisierten sich angeschlossen. Sie müssen also irgendwie »bereit« gewesen sein. Und als es eine Chance gab zu gewinnen, waren sie auf einmal dabei. Das hat alles verändert. Damit wurde es eine Revolution.
Was hat den Unterschied gemacht? Warum wurden die Nicht-Bewegungen auf einmal doch politisch?
Was den Unterschied ausgemacht hat? Das würde ich auch gern wissen. Ich frage mich bis heute, warum es im Iran 2009 nicht funktioniert hat: Millionen von Menschen gehen in Teheran auf die Straße - und die Armen, die Bewohner der informellen Viertel, die Arbeiter schließen sich eben nicht an. 2011 hat es funktioniert. In Ägypten sind die Arbeiter in den Streik getreten, in Tunesien haben Gewerkschaften das Rückgrat der Revolution gebildet. Die Armen, die Marginalisierten, waren mit auf den Straßen. Ich glaube, dass dafür die »gebildeten Armen« zentral waren. Diese jungen Menschen waren mit ihren Freunden und Mitstreitern über soziale Medien vernetzt, sie bekamen die Informationen, was geschah. Aber sie redeten auch mit ihren Familien, ihren Eltern, Onkeln, Tanten, und man glaubte ihnen, weil man sie kannte. So konnte sich der Aufstand ausbreiten.
Werden diese Gruppen von den Revolutionen profitieren? Oder sind sie am Ende die Verlierer?
Das lässt sich jetzt noch nicht sagen. Ich glaube, dass sie beginnen, abzuwägen. Am Rande der Gesellschaft zu sein, bedeutet ja auch ein gewisses Mehr an Freiheit, und gesellschaftliche Festigung ist mit Kosten verbunden: Dann muss man Steuern bezahlen, Regeln einhalten, sich nach festen Zeiten richten. Das erste Ziel der Marginalisierten ist Sicherheit: Die Menschen in den informellen Siedlungen wollen Nutzungsrechte, für zehn Jahre oder mehr, um ihre Lebensverhältnisse zu sichern. Und sie werden jetzt darüber diskutieren, welche Freiheiten sie dafür bereit sind aufzugeben. Jeder für sich, aber auch als Gruppe. Die Revolution hat ja eine unglaubliche Welle von Organisierung ausgelöst, überall finden sich Gruppen, organisieren sich die Menschen und treten für ihre Interessen ein: die Arbeiter, die Frauen, die Jugendlichen, die Studenten ... Das ist die größte Errungenschaft der Revolution.
Juliane Schumacher rezensierte zuletzt in ak 581 verschiedene Bücher zu den Revolten und Revolutionen im arabischen Raum.
Asef Bayat
ist Professor der Soziologie und für Nahost-Wissenschaften an der Universität von Illinois. Sein Buch »Leben als Politik« ist im vergangenen Jahr im Verlag Assoziation A erschienen.