Im Strafraum der Global Player
Südasien Das indische Entwicklungsmodell ist eine Kampfansage an die Mehrheit der Bevölkerung
Von Dominik Müller
Die »größte Demokratie der Welt«, wirtschaftlich prosperierend, kulturell vielfältig - das ist das Bild, das die amtierende Regierung in Delhi gerne von Indien zeichnet und das viele Medien in Europa bereitwillig übernehmen. Hunger und Ausbeutung kommen bisweilen auch zur Sprache. Aber sie gelten in der Regel nicht als Preis, der für den wirtschaftlichen Erfolg bezahlt wird, sie werden nicht in Verbindung gebracht mit dem exorbitanten Reichtum, den westliche Konzerne auf Kosten der Bevölkerung generieren - bzw. die indischen Global Players, die auch vom Elend profitieren. Wie in vielen Ländern der Welt besteht eine enge Verflechtung der Institutionen der bürgerlich-repräsentativen Demokratie mit Banken und Konzernen.
Macht wird dabei völlig unverblümt zur Schau gestellt. Ein Symbol dafür ist der Tempel, den sich der indische Großindustrielle Mukesh Ambani 2011 in Mumbai gebaut hat, der Stadt, die auch als Hauptstadt der Slums in Südasien bezeichnet wird. Ambani, dem zusammen mit seinem Bruder der Reliance-Konzern gehört, hat sich dort ein 27-stöckiges Hochhaus errichten lassen, mit drei Hubschrauberlandeplätzen, neun Aufzügen, 600 DienstbotInnen und allein vier Stockwerken, in denen seine Autosammlung steht.
Demgegenüber gilt ein Drittel der indischen Bevölkerung als chronisch unterernährt, das sind 400 Millionen InderInnen. Obwohl es als Schwellenland bezeichnet wird, ist Indien nach wie vor geprägt durch die typische Ökonomie eines »Drittweltlandes«: Nur etwa zehn Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Indien sind im formellen Sektor beschäftigt; 90 Prozent arbeiten im informellen Sektor, d.h. ohne Kranken-, Renten- oder Unfallversicherung. Sie arbeiten als MüllsammlerInnen, StraßenhändlerInnen, DienstbotInnen oder HilfsarbeiterInnen auf Baustellen, aber auch in den sogenannten Schwitzbuden, die für globale Konzerne produzieren - z.B. im Textilsektor. In der verarbeitenden Industrie wird mittlerweile auch mit LeiharbeiterInnen operiert, die ebenfalls kaum sozial abgesichert sind.
Die geringe Zahl der Beschäftigten im formellen Sektor ist unter anderem eine Folge des Abbaus vergleichsweise sicherer Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Sektor, die im Zuge der Privatisierung - zum Beispiel im Energiesektor- und Telekommunikationssektor - stark ausgedünnt worden sind. Die neuen Arbeitsmöglichkeiten im IT-Bereich und in Call-Centern wiegen das nicht auf.
Etwa die Hälfte der Bevölkerung, also 600 Millionen Menschen, lebt vom primären Sektor, d.h. der Landwirtschaft, der Fischerei oder dem Sammeln von Nahrungsmitteln. Vor allem sie leiden unter der kapitalistischen Globalisierung, werden millionenfach vertrieben und ihrer Existenzgrundlage beraubt. Verschuldung, Landraub, erzwungene Urbanisierung und regelrechte Selbstmordwellen von KleinbäuerInnen sind Ausdruck dieser Entwicklung.
Massenklagen wegen »aufrührerischer Aktivitäten«
Dagegen regt sich Widerstand: FischerInnen, KleinbäuerInnen, UreinwohnerInnen (Adivasis) wehren sich gegen industrielle Großprojekte und eine weitere Industrialisierung der Landwirtschaft u.a. durch genmanipuliertes Saatgut. Organisationen wie die National Alliance of People's Movements (siehe Interview in ak 582) oder das Indian Social Action Forum versuchen, diese Kämpfe miteinander zu vernetzen. Sogenannte »Unberührbare« (Dalits) wehren sich gegen das Kastensystem, das sie nach wie vor sozial, politisch und wirtschaftlich benachteiligt. Das drückt sich auch im Umgang mit Vergewaltigungen aus: Während die indische Presse endlich die Fälle aufgreift, bei denen Angehörige der urbanen Mittelschicht oder Touristinnen Opfer sind, schweigen sie noch immer zu den weit verbreiteten Vergewaltigungen von Dalits und Angehörigen »niedriger« Kasten durch Landbesitzer und Paramilitärs.
Neue, parteiunabhängige Basisgewerkschaften wie die New Trade Union Initiative sind dabei, prekär Beschäftigte im urbanen Raum zu organisieren. SlumbewohnerInnen verteidigen ihre informellen Siedlungen gegen den Zugriff von ImmobilienspekulantInnen. LandarbeiterInnen besetzen brachliegende Ländereien, und KleinbäuerInnen legen Saatgutbanken an, um das traditionelle Wissen gegen die Begehrlichkeiten der westlichen Agrarindustrie zu verteidigen. Auch die NaxalitInnen, die in unterschiedlichen revolutionären Parteien organisiert sind, bewaffnete Einheiten unterhalten und die in Nord-, Zentral- und Ostindien mehrere Regionen kontrollieren, erfahren viel Unterstützung durch die einfache Bevölkerung und einige Intellektuelle.
Die indische Zentralregierung und - bis auf wenige Ausnahmen - die Bundesstaatsregierungen reagieren mit harter Repression: Polizeiüberwachung, Hausarrest, Einfrieren von Konten, Massenklagen wegen »aufrührerischer Aktivitäten«, auf die eine lebenslängliche Haftstrafe folgen kann, Inhaftierungen von AnführerInnen sozialer Bewegungen, Demonstrationsverbote und scharfer Munition gegen Protestierende. Es kommt zu Folter im Polizeigewahrsam, extralegalen Tötungen, Einsatz von Paramilitärs und Drohnen gegen die NaxalitInnen und ihre AnhängerInnen. Auch kritische Stimmen aus dem Ausland sind unerwünscht: WissenschaftlerInnen und JournalistInnen, die kritisch über die Politik der indischen Regierung forschen oder berichten, erhalten keine Visa mehr.
Win-Win-Situation für die globale Elite
Die Regierung kopiert mehr oder weniger das westliche Entwicklungsmodell, das auf dem Primat des Wirtschaftswachstums fußt. Viele indische BefürworterInnen dieses Modells stellen folgende Gleichung auf: Je kleiner der Anteil der Bevölkerung, der mit der Produktion bzw. dem Sammeln von Nahrungsmitteln beschäftigt ist, umso fortschrittlicher sei ein Staat. Dies ist eine offene Kampfansage an die Mehrheit der indischen Bevölkerung.
An der Spitze der Bewegung gegen den globalisierten Kapitalismus stehen die vielen Millionen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern. Viele von ihnen setzen auf Ernährungssouveränität, d.h. sie wollen die Kontrolle über ihre Produktionsmittel erhalten bzw. wiedererlangen.
Ihnen geht es nicht um Wirtschaftswachstum, sondern darum, in Würde leben und überleben zu können. Ihr Schicksal wird auch die Weichen für die globale Landwirtschaft stellen. Nicht nur die Kämpfe der KleinbäuerInnen bedienen sich dabei eines Potpourris aus anarchistischen, sozialistischen, maoistischen und gandhianischen Elementen. Anstatt Alleinvertretungsansprüche und theoretische Reinheitsgebote aufzustellen, versuchen viele Organisationen, die besten Ansätze verschiedener radikaldemokratischer und revolutionärer Traditionen zur Anwendung zu bringen.
Ob sie Erfolg haben werden, wird u.a. davon abhängen, ob z.B. das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien zustande kommt. Geht es nach der Regierung in Delhi, liegt seine Verabschiedung im »öffentlichen Interesse«. Dieses Wortpaar steht seit der Marktöffnung Indiens als Synonym für Wirtschaftswachstum, und vor allem die Regierung unter Manmohan Singh betrachtet jeden Widerstand gegen industrielle Großprojekte und Wirtschaftsabkommen als staatsfeindlichen Akt.
Westliche Investoren - von Supermarktketten bis hin zu Autobauern - sehen in den 300 Millionen Mittelschichts-InderInnen Kompensationspotenzial für die arm gesparten Märkte in südeuropäischen Ländern. Die indische Regierung setzt auf neue Absatzmärkte für die heimische Software- und Textilbranche in Europa - eine Win-Win-Situation für die wohlhabenden Eliten hier wie dort. Den Preis müssen diejenigen bezahlen, denen nichts anderes übrig bleibt, als ihre Haut zu Markte zu tragen.
Dominik Müller reist seit vielen Jahren regelmäßig nach Südasien. Im Frühjahr 2014 ist ein Buch zu den aktuellen Entwicklungen in Indien bei Assoziation A geplant.