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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 584 / 21.6.2013

Politik im Modus der Zuspitzung

International Der von oben eskalierte Konflikt in der Türkei hat eine demokratische Bewegung freigesetzt

Interview: Ingo Stützle

Die türkische Regierung entschied im Mai 2013, dass Teile des beliebten Istanbuler Gezi-Parks einem Einkaufszentrum weichen sollen. Der Konflikt eskalierte, nachdem es zu massiver Polizeigewalt kam. Aktivist und Sozialwissenschaftler Serhat Karakayali ist deshalb nach Istanbul geflogen. ak sprach mit ihm nach seiner Rückkehr und noch vor einer weiteren Eskalation in der Nacht zum 12. Juni 2013.

ak: Was hast du uns aus Istanbul mitgebracht?

Serhat Karakayali: Noch nie habe ich eine so positive Bewegung erlebt, die so lebendig, kreativ und humorvoll ist. Wir erleben gerade in der Türkei eine dieser Revolutionen, auf der Emma Goldman gerne tanzen würde.

In welchem Sinne hat sie eine soziale Dimension?

Auf den ersten Blick geht es zunächst um politische Freiheiten und um die Lebensweise. Aber es geht auch um mehr. Zum einen verändern sich derzeit die Produktionsbedingungen von Subjektivität. Die Identitätskonstruktion der letzten 80 Jahre wird zurückgewiesen. Die neuen Subjektivitäten sind zudem eng mit den Formen der Reichtumsproduktion verknüpft. Istanbul ist mit Paris, Berlin oder New York vergleichbar. Es ist eine Stadt, in der geistig-kreative Arbeit stattfindet und wesentlicher Teil der Reichtumsproduktion ist. Diese Tätigkeit wird nun aus ihren engen Fesseln der Werbung oder Kunst freigesetzt und zum gesellschaftlichen Produktionsmittel. Drittens geht es nicht allein um ein paar Bäume. Es geht auch um das, was man Commons oder öffentliche Güter nennen könnte. Es formiert sich eine breitere gesellschaftliche Kritik an Privatisierung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raums und der Natur.

Wie sehen die organisierten Formen auf dem Taksin-Platz aus?

Alles das, was wir vom Tahrir-Platz kennen, aus Spanien oder vom Syntagma-Platz findet auch hier statt. Es gibt zwar eine koordinierende Taksim-Plattform, aber die Leute managen weitgehend alles selbst - basisdemokratisch und dezentral. Es ist eine Infrastruktur entstanden und man kümmert sich um eine Kultur der Zivilität und Solidarität. Es gibt medizinische und sanitäre Versorgung, Lebensmittel etc. Eine landesweite Plattform gibt es bisher nicht.

Gibt es eine Skepsis gegenüber Organisierung?

Ja, so ist es. Als ich dort war, wollten einige, dass eine Delegation mit der Regierung verhandelt. Es war aber klar: Niemand kann für die Leute sprechen. Dieses Selbstverständnis ist stark verankert. Das zeigt ein Beispiel. Ein die Proteste unterstützendes AKP-Mitglied sagte bei einer Versammlung: Nein, die Leute wollen hier nicht vertreten werden. Genau das ist es, was wir verstehen müssen. Das ist doch der Grund, warum die Leute auf der Straße sind: Sie weisen die Repräsentation zurück, wollen nicht von uns hören, was sie machen sollen. Ich bin fast aus den Latschen gekippt! Für diese wenigen Sätze gab es Applaus.

Welche Form der Organisierung und Repräsentation wird gewollt?

Das sind Fragen, die anstehen, aber noch nicht gestellt werden können. Es steht eher die Frage im Raum, wie man das, was jetzt passiert, verstetigen kann. Wie kann man den Moment retten? In der Frage gibt es sehr unterschiedliche Stimmen. Die einen wollen eine Partei gründen, die anderen sagen, dass man die Erfahrungen in den Herzen tragen sollte.

Aber genau am Punkt der Organisierungsfrage ist Occupy Wall Street in den USA und die Proteste in Spanien an ihre Grenze geraten - sie konnten de facto die Frage nicht beantworten.

Der Modus der Politik ist derzeit der der Zuspitzung. Es stellt sich die Frage, wie man die Versammlungsmacht institutionalisieren kann. Dabei darf es auch nicht zu einer einseitigen Entwicklung kommen, d.h., dass sich die sogenannten unpolitischen Menschen politisieren. Sondern auch die Linken in den klassischen linken Organisationen müssen lernbereit sein.

Spielt der Widerspruch zwischen den Darstellungen der Regierung und eigenen Erfahrungen für den Prozess eine Rolle?

Der Widerspruch war total wichtig für die Wendung in der Auseinandersetzung auf der Straße. Viele Menschen waren empört. Die Regierungserklärungen und die medial verbreitete Ideologie passten nicht mehr mit den eigenen Erfahrungen und der realen Polizeigewalt und -praxis zusammen. Weil die empörten Leute nachts zu den Aktivisten auf der Straße hinzustießen, konnten alle bis zum nächsten Tag bleiben und mussten nicht, wie in der Vergangenheit, nach Hause gehen - das war ein entscheidender Moment für den Protest.

Findet inzwischen Medienkritik statt?

Ja, auf vielen Ebenen und in verschiedenster Form. Am Tag der ersten heftigen Auseinandersetzungen lief auf dem wichtigsten Fernsehsender eine Dokumentation über Pinguine, anstatt dass über den Protest und die Polizeigewalt berichtet wurde. Ein Showmaster hat in unmittelbarer Reaktion in seiner Quiz-Show subversiv protestbezogene Fragen eingebaut, in anderen Shows saßen Leute mit Pinguin-T-Shirts. In all diesen Praktiken äußert sich eine sehr deutliche Medienskepsis und -kritik.

Die Medienskepsis ist selbst Resultat einer sehr wichtigen Erfahrung. Es gibt eine Szene von zwei Kurden mit zwei Satellitenschüsseln auf dem Kopf und einem Schild, auf dem zu lesen ist: Jetzt wisst ihr, warum wir immer zwei Antennen haben. Mit der Erfahrung, wie die Medien über die Polizeigewalt berichten, setzt eine generelle Skepsis gegenüber den Medien ein - auch in anderen Fragen kann den Medien nicht mehr geglaubt werden.