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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 584 / 21.6.2013

Rückkehr des Klassenkampfs?

Wirtschaft & Soziales Dem Einzelhandel steht ein heftiger Konflikt bevor

Von Karin Zennig

eigentlich schade, dass sich die Medien bereits an das Elend der Arbeit im Einzelhandel gewöhnt haben. Schlecht bezahlte VerkäuferInnen, drangsalierte KassiererInnen, Angstregime in den Filialen, hoch flexibilisierte und prekäre Arbeitsbedingungen gehören zum Standard, so dass der bundesweit koordinierte Generalangriff der EinzelhändlerInnen auf die Arbeitsbedingungen in der Flut der Schreckensmeldungen beinahe unterging. Nun drohen grenzenlose Arbeitszeiten und massive Lohnverluste. Was steckt hinter der Kündigung des Manteltarifs, und wie können die Beschäftigten den Angriff abwehren?

Es ist kein Geheimnis: Die Situation im Einzelhandel, mit über zwei Millionen Beschäftigten die größte Branche Deutschlands, ist bereits seit Jahren katastrophal. Insbesondere die Arbeit im Lebensmittel-, Textil- und Baumarkteinzelhandel verlangt den Beschäftigten das Äußerste ab. Während die Gewinne der Unternehmen trotz Krise kräftig sprudeln, zahlt der Staat über 1,5 Milliarden Euro Aufstockerleistungen für Beschäftigte der Branche - eine Niedriglohnsubvention durch Steuermittel. In den letzten Jahren sind zunehmend klassische Handelstätigkeiten als Leiharbeit oder auf Werkvertragsbasis ausgegründet worden. Die LeihkassiererInnen und selbstständigen Regale-EinräumerInnen werden mit Billiglöhnen oft 45 Prozent unter dem normalen Tarifniveau abgespeist. Nicht nur bei ohnehin schlecht beleumundeten Unternehmen wie Kik grassieren solche Methoden, auch die Rewe Group oder die Metro Gruppe greifen gern auf sie zurück.

Ein ähnlicher Trend ist die sogenannte »Privatisierung«, die Verwandlung von Filialen in »selbstverwaltete Partnermärkte«. Die tragen zwar noch den Namen des Konzerns - Edeka, Rewe oder tegut - und ihre Gewinne werden als Konzerngewinne ausgewiesen, als selbstständige Märkte sind sie allerdings an keine tariflichen Regeln gebunden. Entsprechend niedrig ist das Lohnniveau. Selbst im Warenhausbereich werden Security, Restaurant, Reinigung bereits seit Jahren ausgelagert. Die Häuser vermieten ihre Ladenflächen direkt an die präsentierten Marken wie Esprit, die diese wiederum aus einem Pool von Freien und Selbstständigen betreiben lassen - natürlich ohne soziale oder tarifliche Absicherung.

Undokumentierte und damit unbezahlte Überstunden gibt es besonders im Lebensmittelhandel in enormem Ausmaß und flächendeckend. Die Unternehmen kalkulieren sie systematisch ein und dehnen so die Öffnungszeiten immer weiter aus. Auch Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz, das Betriebsverfassungsgesetz oder das Jugendarbeitsschutzgesetz sind im Handel keine Seltenheit. Aus Angst vor negativen Konsequenzen fordern viele Beschäftigte nicht einmal die ihnen gesetzlich zustehenden Rechte ein. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist gering, die räumliche Fragmentierung in Filialstrukturen erschwert die Organisierung zusätzlich.

Eigentlich hätte nun lediglich eine »normale« Tarifrunde angestanden, in der Unternehmen und Gewerkschaften über Entgelte verhandeln. Doch zum 30. April 2013 haben die ArbeitgeberInnen bundesweit den Manteltarifvertrag gekündigt und damit einen Generalangriff auf die Rahmenarbeitsbedingungen im Einzelhandel gestartet. Im Manteltarif sind unter anderem Arbeitszeiten, Urlaubsansprüche, Sonderzahlungen sowie Zuschläge für Spät-, Nacht- und Feiertagsarbeit geregelt. Er ist den Unternehmen schon lange ein Dorn im Auge. Doch ein solcher Angriff ist bisher einmalig.

Klassenkampf von oben

Die Arbeitgeberseite behauptet, sie wolle die Tarifverträge »modernisieren« und so die Tarifbindung erhöhen. Was sie damit meinen, zeigen die Verhandlungsgespräche, die in Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz bereits stattgefunden haben. Dort reden die ArbeitgeberInnen Tacheles. Sie fordern die Streichung aller Zuschläge, zum Beispiel für Nachtarbeit, um Rund-um-die-Uhr-Öffnungszeiten durchzusetzen. Auf der Wunschliste der EinzelhändlerInnen steht auch eine Billiglohngruppe für einfache Tätigkeiten, die eine weitere Funktionstrennung festschreiben und viele Beschäftigte massiv herabstufen und faktisch dequalifizieren würde. Auch mit der eigentlich ausgesprochen progressiven tariflichen Regelung, dass KollegInnen ohne Ausbildung nach dem dritten Tätigkeitsjahr als qualifizierte Kräfte gelten, soll Schluss sein. Die ArbeitgeberInnen wollen die Arbeitszeiten komplett flexibilisieren, eine ersatzlose Streichung der Arbeitszeitregelung für Teilzeitbeschäftigte erreichen und streben einen Arbeitszeitausgleich innerhalb von 24 Monaten an. Das würde nicht nur bedeuten, dass Beschäftigte und insbesondere Teilzeitbeschäftigte keine Sicherheit mehr über ihr monatliches Einkommen und ihre Arbeitszeit haben, sondern auch, dass sie faktisch um ihre Überstunden betrogen werden.

Sollten die ArbeitgeberInnen sich durchsetzen, hätte das erhebliche Auswirkungen auch auf Branchen weit über den Handel hinaus: zum einen unmittelbar auf Bereiche wie Logistik und Warenanlieferungen, deren Arbeitszeiten sich den Öffnungszeiten anpassen müssen. Auch für Tätigkeiten wie Kinderbetreuung stellt sich die Frage nach den Folgen, wenn die Arbeitszeiten Hunderttausender Menschen entgrenzt werden. Zum anderen wird die Auseinandersetzung im Handel exemplarisch zeigen, wie weit die ArbeitgeberInnen gehen können, und ob es ihnen gelingt, eine komplette Branche tariffrei zu bekommen. Dass das die Folge sein kann, ist gar nicht unwahrscheinlich. Denn ver.di betont, dass sie keinen Manteltarif abschließen wird, der schlechter ist als der alte. Die Arbeitgeberseite knüpft jedoch Verbesserungen im »normalen« Entgelttarifvertrag daran, dass ver.di auch über einen neuen Manteltarif verhandelt. Bis es eine Einigung gibt, ist der Einzelhandel ein tariffreier Raum. Für ver.di-Mitglieder, die vor dem 30. April 2013 eingestellt wurden, gilt der alte Tarif weiter. Allen anderen Beschäftigten (und neu Eingestellten) drohen massive Verschlechterungen.

Blockupy Einzelhandel?

All das macht den Tarifkonflikt im Einzelhandel zu einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung und wirft nicht zuletzt die Frage auf, wie wir eigentlich leben wollen. Dass Karstadt als Flaggschiff des Warenhaushandels und letzte Bastion der Gewerkschaft im Handel jetzt den Austritt aus der Tarifbindung erklärt hat, ist ein weiteres Zeichen dafür, wie ernst die Unternehmerseite ihren Angriff nimmt.

Der Angriff der ArbeitgeberInnen hat aber auch erhebliche Aktivitäten der Beschäftigten ausgelöst. Die Zahl der Streiktage wächst, und auch die Beteiligung steigt. Dies ist auch eine Folge niedrigschwelliger Aktionsangebote, die Aktive in einigen Unternehmen entwickelt haben. Immer öfter beziehen die Streikenden zudem KundInnen in die Aktivitäten ein. So tragen sie den Konflikt über den Betrieb hinaus in die Öffentlichkeit

Trotzdem steht den Beteiligten eine lange und harte Auseinandersetzung bevor. Nach wie vor können viele Filialen im Streikfall nicht vollständig geschlossen werden, weil der gewerkschaftliche Organisationsgrad zu niedrig und die Angst - auch bei Gewerkschaftsmitgliedern - zu groß ist.

Ein aktuelles und recht beeindruckendes Beispiel zeigt aber, wie gemeinsame Aktionen von Beschäftigten im Betrieb und außerbetrieblichen UnterstützerInnen den Druck auf die Arbeitgeberseite erhöhen können: Bei einem Aktionstag im Rahmen der Blockupy-Proteste auf der Frankfurter Einkaufsstraße Zeil am 31. Mai gelang es, Karstadt komplett zu schließen. Dies war möglich, weil die Blockaden der Blockupy-DemonstrantInnen von außen mit dem zeitgleichen Streik der Karstadt-Beschäftigten drinnen zusammenkamen. Die Aktionen auf der Zeil waren nicht nur ein Signal an die ArbeitgeberInnen, sondern auch eine gelungen Solidarisierung und eine Erweiterung des betrieblichen Aktionsrepertoires durch Erfahrungen aus sozialen Bewegungen. Es gibt also durchaus Hoffnung.

Karin Zennig ist Hauptamtliche bei ver.di und arbeitet zur Zeit im Fachbereich Handel.