Meinung
Totale Überwachung
Die totale Überwachung ist jetzt amtlich. Im Juni 2013 beginnt ein Datenskandal sich zu entfalten, der ein weiteres Mal die Demokratie der USA und die Bürgerrechte im Allgemeinen erschüttert. Edward Snowden, ein 29-jähriger IT-Techniker und Mitarbeiter der Nationalen Sicherheitsbehörde der USA (NSA), leakt Dokumente aus seiner Arbeit. Diese Dokumente beweisen, dass im Rahmen der Geheimdienstprogramme PRISM und Boundless Informant die Totalüberwachung der weltweiten Internetkommunikation von der US-Regierung organisiert wird.
PRISM ermöglicht eine Kontrolle sämtlicher digitaler Kommunikation von Personen weltweit. Diese Überwachung kann nicht nur live realisiert, sondern auch archiviert werden. Sämtliche großen US-amerikanischen Internetkonzerne wie Microsoft und damit auch Skype, Google und damit auch YouTube, Facebook, Yahoo, Apple und AOL sind an diesen Programmen beteiligt und stellen einen Zugang zu den von ihnen gespeicherten Daten für die Regierungsbehörden her.
Diese riesigen Datenmengen können von Computersystemen wie Boundless Informant - zu deutsch: grenzenloser Informant - analysiert werden. Da diese Datenmengen für eine herkömmliche Analyse zu groß wären, bedient sich Boundless Informant des Dataminings - einer Technik, bei der bestimmte Datensätze miteinander verschränkt und dadurch Zusammenhänge sichtbar gemacht werden, ohne alle Daten im Detail mit einzubeziehen. Die Ergebnisse sind zwar nicht 100-prozentig genau, dienen aber als Anhaltspunkte, um aus der Fülle der Daten die interessanten Analysepunkte zu erfassen.
Wer die Debatte um Leaks, Datenschutz, Geheimdienste und Bürgerrechte in den letzten Jahren verfolgt hat, ist über diesen Leak nicht sonderlich überrascht. Weitere Veröffentlichungen sind angekündigt, während der Whistleblower Ed Snowden von den US-amerikanischen Behörden um den Globus gejagt werden wird. Das Sensationelle an der Situation ist, dass es den massiven Repressionen gegen Wikileaks und Whistleblowern wie Bradley Manning zum Trotz derartige Veröffentlichungen gibt.
Die Diskussion um die moralische Ambivalenz in der Entwicklung von neuen Technologien ist so alt wie das Internet selbst. Die Auseinandersetzung hat aber in den letzten Jahren vor dem Hintergrund der aktuellen Krise des Kapitalismus an neuer Aktualität gewonnen. Seit Beginn der Krise sind die Überwachungs- und Kontrollanstrengungen der Eliten regelrecht explodiert und emanzipatorische Bewegungsspielräume im Internet massiv eingeschränkt worden. Das ist vor allem für die Community von IT-EntwicklerInnen deutlich spürbar.
Der Chaos Computer Club hat auf seinem letzten Kongress Ende 2012 unter dem Titel »Not my Department« vor allem die Frage gestellt, vor welchen Aufgaben und Herausforderungen die IT-Community in Zeiten der totalen Überwachung steht und wie Whistleblowing unterstützt und gestärkt werden kann. Der Titel »Not my Department«, was übersetzt etwa »nicht meine Zuständigkeit« bedeutet, ist ein dem US-amerikanischen Raketeningenieur Wernher von Braun zugeschriebenes Zitat, der damit seine Verantwortung als Waffenentwickler zu relativieren versuchte.
Jacob Applebaum bezieht in seinem Eröffnungsvortrag auf dem CCC-Treffen klar Stellung: »Everyone's department« - wir sind alle zuständig und müssen uns aktiv zur Wehr setzen. Er ruft nicht nur die ProgrammiererInnen auf, sich bewusst zu machen, auf welcher Seite sie stehen. Er macht auch deutlich, dass Whistleblower eine breite Unterstützung brauchen, dass ihre Aktionen ausstrahlen und anderen Mut machen.
Online- und Telefonüberwachung, Überwachung durch Drohnen, Videoüberwachung, Profiling und die Synchronisation all dieser Daten - die technologischen Entwicklungen und Überwachungspraxen der letzten Jahre waren rasant, sind nicht mehr aufhaltbar und vermutlich immer noch der Beginn totaler Überwachung. Wer jetzt an den Roman »1984« denkt, übersieht dabei einen wesentlichen Punkt. Nicht nur der Staat ist unser Problem. Die totale Überwachung ist wesentlich umfassender.
Felix Stalder beschreibt, wie verschiedene Ebenen der Repression zusammenkommen: Aufstandsbekämpfung in London und Istanbul, die totale Überwachung elektronischer Kommunikation, das Abschalten der öffentlichen Fernsehsender in Griechenland, das EU/IWF-Diktat gegen Griechenland, die Sparpolitik und vieles mehr sind die »außergewöhnlichen anti-demokratischen Schritte, die die Eliten bereit sind zu gehen, um dieses System zu stabilisieren und jede Form von organisierter Alternative zu schwächen.«
Susanne Lang