Hätte, müsste, könnte: Politik im Konjunktiv
Diskussion Statt radikaler Pose bedarf es organisierter Lernprozesse
Von Ingo Stützle
Die Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft setzten in ak 580 nochmals zur Debatte über linke Strategien in der Krise an und provozierten einige Repliken. In ihrem Text kritisieren sie verschiedene linke Gruppen und Einzelpersonen dafür, dass sie nicht nur der Illusion staatlicher Politik verfallen seien, sondern diese sogar schüren würden - darunter war auch ich. Statt die Frage nach der Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise in der Prioritätenliste ganz nach oben zu setzen, schaffe diese »Staatslinke« den Kitt für die von der Krise produzierten Risse im System.
Verwunderlich ist, wie die FreundInnen einen reformistischen Einheitsbrei aus recht unterschiedlichen ProtagonistInnen und Gruppen anrühren - und warum. Alle, die sie kritisieren, nehmen für sich in Anspruch, das Ziel einer nichtkapitalistischen Gesellschaft vor Augen zu haben - nur eben mit unterschiedlichen Mitteln. Ob es die Richtigen sind, steht auf einem anderen Blatt und müsste ebenso diskutiert werden wie die Frage, ob man wirklich vom gleichen Ziel spricht. Die FreundInnen formulieren hingegen nur ein Ziel, ohne einen Weg zu skizzieren oder ein Fortbewegungsmittel zu präsentieren. So wird Politik zur radikalen Pose und bleibt de facto Aufklärung im schlechten bürgerlichen Sinn.
Warum schreibt man derartige Texte, die offensichtlich nicht auf Verständigung aus sind - auch nicht auf Verständigung über die politischen Differenzen, die es durchaus gibt? Ein Konsens darüber, worin der Dissens besteht, wäre schließlich schon ein Fortschritt. In Frankfurt wurde bei Blockupy unter Beweis gestellt, dass Solidarität selbst bei größeren Differenzen nicht nur innerhalb des antikapitalistischen Blocks, sondern selbst innerhalb des Demobündnisses möglich ist.
Revolution als unbewusste Entäußerung des Weltgeistes
Die FreundInnen wollen, so ihre Formulierung, »die Spaltung der Linken in EtatistInnen und Antiautoritäre ... befördern«. Nur dass diese Spaltung offensichtlich ausschließlich dazu führt, dass sie alleine auf der einen und alle anderen auf der anderen Seite der roten Linie stehen. Es herrscht bei den FreundInnen eher ein Narzissmus der großen Differenz statt Interesse an Verständigung. Wer Akteure der Veränderung sein könnten, bleibt ebenso unklar, wie ein Bruch mit den Verhältnissen organisiert werden sollte.
Die FreundInnen machen es einem also nicht unbedingt einfach. Versuchen wir es einmal so: Was wäre, wenn sie mit ihrer Kritik richtig liegen? Lassen wir die etatistischen Linken mal rechts liegen und stellen an dem Punkt weitere Überlegungen an, mit dem die FreundInnen ihren Text aufhören - die (militanten) Abwehrkämpfe gegen die Austeritätspolitik. Die Abwehrkämpfe gegen Austerität werden »die unausweichliche Sanierung der schwer lädierten Ökonomie blockieren«, so die FreundInnen. Sie müssen jedoch selbst zugeben, dass hierfür die Kämpfe »anhalten« müssen. (1)
Über die Bedingungen dafür, dass sie anhalten (den Verhältnissen tatsächlich die Stirn bieten), und was das für die Linke bedeutet, die genau dafür Sorge tragen sollte, schweigen sie sich aus (auch wenn wir unterstellen, dass die FreundInnen immer noch die richtigen Argumente anführen). Sie argumentieren von einem unterstellten Ergebnis her: »Damit setzen diese Kämpfe, bewusst oder unbewusst jene Frage nach der Aufhebung der jetzigen Produktionsweise auf die Tagesordnung, die in den linken Reformgespinsten gar nicht mehr gestellt wird.« Das bedeutet, dass die Sanierung des Kapitalismus nur dann scheitert, insoweit die Abwehrkämpfe weitergingen und so unbewusst (!) die Frage auf die Tagesordnung brächten, die sie bereits vorformuliert haben.
Das ist schon eine famose Politik im Konjunktiv, die sich der Verantwortung dafür entzieht, die Frage zu beantworten, welche Rolle Linke spielen sollten, die fehlenden Verbindungen herzustellen zwischen Abwehrkämpfen (eigentlich jeder Form spontaner Artikulation von Bedürfnissen) einerseits und Reflexion über die Verhältnisse und einer grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse als kollektives Interesse einer sich konstituierenden Gegenmacht andererseits. Denn wenn eine Revolution etwas ist, dann hoffentlich ein bewusster und aufgeklärter Prozess und nicht eine unbewusste Entäußerung des revolutionären Weltgeistes.
Schließlich geht es nicht nur um die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, sondern auch um die von Wahrheiten über die Verhältnisse (Freiheit, Gleichheit, Habermas). Die bürgerlichen Verhältnisse und die ökonomischen Verhältnisse im Besonderen bringen eine eigne Wahrheit und Erzählung über sich hervor: Fetisch, Mystifizierung, versachlichte Herrschaft und Zwang, »Religion des Alltagslebens« (Marx) und Normalisierung. Auch die Produktionsverhältnisse dieser Wahrheiten gilt es anzugreifen, und zwar in den »verborgenen Stätten der Produktion« (Marx).
Wir können viel von Gramsci und Foucault lernen
Damit meine ich nicht einfach »die Fabrik« als Ort der Produktion, sondern alle Lebensbereiche, in denen sich Plausibilität darüber einstellen soll, wie die Gesellschaft eingerichtet ist - in gesellschaftlichen Praktiken. Und ja: Hier können wir viel von Gramsci bis Foucault lernen. An diesen gesellschaftlichen Orten und ihren je spezifischen Praktiken findet auch der Kampf um die Deutungsmacht (über die Verhältnisse und die Krise) statt, weshalb auch nicht nachvollziehbar ist, warum die FreundInnen sie zu einer Staatsangelegenheit erklären.
Dass die FreundInnen ihren Text ausgerechnet Rosa Luxemburg widmen, ist besonders ulkig. Luxemburg war nämlich nicht einfach eine scharfe Kritikerin des Reformismus, sondern gerade aus diesem Grund eine Verfechterin kollektiver Lern- und Erfahrungsprozesse. Denn die Revolution sollte nicht der Partei und ihrer Politik im Parlament überlassen werden, wo BerufspolitikerInnen sie, um regierungsfähig zu werden, im Reformismus versanden lassen. Lernprozesse versteht Luxemburg durchaus umfassend und unterscheidet sich hier von der bürgerlichen Vorstellung der Aufklärung. Diese löst »gute« und »richtige« Argumente von den materiellen Verhältnissen und Praktiken ab, die sie erst zu einer materiellen Gewalt und ernst zu nehmenden »Wahrheit« machen. An diesem Punkt treffen sich die FreundInnen interessanterweise mit VertreterInnen de Zeitschrift Gegenstandpunkt, stellen sozusagen einen operaistischen Flügel der Strömung, die Politik mit revolutionärer Haltung verwechselt.
Auf was zielt revolutionäre Politik?
Was bedeutet es für eine politische Praxis, das Lohnsystem abzuschaffen, wie die FreundInnen fordern? (2) Es ist zwar mit Marx möglich zu zeigen, dass weder eine Verkürzung des Arbeitstages noch Lohnerhöhungen das Lohnsystem aus den Angeln heben. Die eigentlich wichtige Frage ist jedoch, wie man diese Erkenntnis in Arbeitskämpfe einbringen kann, ohne zu bevormunden und auch derart, dass die eigenen Lernprozesse nicht zu kurz kommen. Wie oft haben linke Organisationen es zwar gut gemeint, aber emanzipatorische Prozesse blockiert.
Die FreundInnen drücken sich um eine Aussage, mit wem und wo über die Abschaffung des Lohnsystems gesprochen werden soll. Gerade in Deutschland eine knifflige Frage, aber deshalb nicht weniger drängend. Nur wen sie nicht mehr als Gesprächspartner anerkennen wollen, ist klar - die ReformistInnen von Karl Heinz Roth bis zur Interventionistischen Linken. Damit sind wir wieder bei zu organisierenden Lern- und Erfahrungsprozessen. Wie kann man Sorge dafür tragen, dass sich die Einsicht, dass das Lohnsystem nicht der Weisheit letzter Schluss sein sollte, verallgemeinern - als Massenbewusstsein? Die Gefahren reformistischer Fahrwasser und reformistischen Pragmatismus können nicht mit einer revolutionären Haltung umgangen werden, das ist vielmehr eine organisatorische Frage.
Mit »Subversion« (Freundinnen) oder »Aufhetzen« (Gegenstandpunkt) ist es nicht getan. Das ist nicht mehr als eine radikale Pose, die die Mühen der Ebene spekulativ überspringt. Die FreundInnen beantworten die Frage dann auch, indem sie unterstellen, bereits existierende Kämpfe würden unbewusst die Frage nach der Überwindung der Verhältnisse auf die Tagesordnung bringen. »Hinter dem Rücken«, wie Marx es formuliert, reproduzieren sich allerdings nur die herrschenden Verhältnisse, auch wenn sie von Konflikten und Kämpfen geprägt sind. Deshalb sei es unbedingt notwendig, ihnen auf die Schliche zu kommen, wie Marx an seinen Freund Ludwig Kugelmann schreibt: »Mit der Einsicht in den Zusammenhang stürzt, vor dem praktischen Zusammensturz, aller theoretische Glauben in die permanente Notwendigkeit der bestehenden Zustände. Es ist also hier absolutes Interesse der herrschenden Klassen, die gedankenlose Konfusion zu verewigen.«
Dass spontane Rebellion und Revolten, Empörung und Plünderung eher selten von einem Verständnis davon geprägt sind, welche politischen und gesellschaftlichen Formen herrschen, die es zu überwinden gilt, ist bei den FreundInnen kein Thema. Ebenso wenig äußern sie sich dazu, in welchen politischen Formen spontane Subversion auf Dauer gestellt und zu Selbstorganisierung und Autonomie werden kann, mit dem Ziel, dem Staat Organisationsleistung für die Gesellschaft abzuringen.
Anmerkungen:
1) Davon abgesehen stellt sich auch die Frage, wie etwa Streiks im öffentlichen Dienst in Griechenland Klassenmacht entwickeln sollen, wenn die kollektive Arbeitsverweigerung von unten nur die Arbeitsfreisetzung von oben vorwegnimmt.
2) Bei Lektüre des Textes wird leider nicht so recht klar, welche politischen Perspektiven sich die FreundInnen zu eigen machen. Die GenossInnen nehmen eine recht distanzierte Haltung ein, wenn sie schreiben, dass es »Anlass gäbe«, über die »Abschaffung des Lohnsystems zu reden, ohne als weltfremder Spinner dazustehen« und dass »der Gedanke an das Ende des Staates« zumindest nicht völlig abwegig »wäre« - es sollte oder gibt Anlass und ist nicht abwegig.
Debatte
Im Vorfeld der Blockupyproteste in Frankfurt am Main haben wir vor einigen Ausgaben eine Debatte zu Krisenanalysen und politischen Strategien der radikalen Linken gestartet. Den Anfang machten die Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft in ak 580. Den Faden nahm Dario Azzellini in ak 581 auf. In ak 582 knüpften gleich mehrere Diskussionsbeiträge an diese Frage an. AutorInnen waren Frieder Otto Wolf, Anna Dohm von der Interventionistischen Linken sowie Alexander Gallas und Jörg Nowak.