Aufgeblättert
Das neue Bolivien
Noch heute trägt Bolivien schwer an seiner kolonialen Last. Kaum ein Ort der Welt, wo Reichtum so ungerecht verteilt ist. Staat, Gewaltmonopol, Recht, Wirtschaft und Handel standen seit Ankunft der Konquistadoren im Dienste einer kleinen, weißen Clique und ihrer Familien. Gleich, ob unter der Krone Spaniens, nach der Unabhängigkeit als Republik 1825 oder während der Militärdiktaturen: Die indigene Bevölkerungsmehrheit stand Jahrhunderte unter der Herrschaft einer kleinen, europäischstämmigen Machtelite. Die »Rückkehr zur Demokratie« Anfang der 1980er Jahre brachte Privatisierung, Massenarbeitslosigkeit, Misere. Seit dem Wahlsieg der populären Bewegung zum Sozialismus (MAS) Ende 2005 bläst zwischen La Paz und Santa Cruz ein anderer Wind. In dem Band »Plurinationale Demokratie in Bolivien« geht es um Fragen eines neuen Staatsaufbaus, Demokratie, pluraler Wirtschaft und eines modernen Latino-Sozialismus. Erstmals kommen hier bolivianische GesellschaftswissenschaftlerInnen in deutscher Sprache zu Wort. Die Texte atmen die Biographien ihrer AutorInnen. Wie der Ex-Guerillero, Soziologe und amtierende Vize-Präsident Boliviens Álvaro García Linera wirkt die Mehrzahl der SchreiberInnen, aber auch der HerausgeberInnen, an der diffusen (Berater-)Schnittstelle zwischen akademischer Forschung und handfester Politik. Allen gemein ist der Blick auf den Staat als »idealistischste Realität politischen Handelns« (Linera).
Benjamin Beutler
Ulrich Brand, Isabelle Margerita Radhuber, Almut Schilling-Vacaflor (Hg.): Plurinationale Demokratie in Bolivien. Gesellschaftliche und staatliche Transformationen. Westfälisches Dampfboot, Münster 2012. 388 Seiten, 29,90 EUR.
Reinhard Strecker
Reinhard Strecker ist vielen bis heute kein Begriff, obwohl er als einer der Pioniere der bundesdeutschen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gelten kann. Bereits Ende der 1950er Jahre begann auf Initiative des damaligen Sprachwissenschaftsstudenten an der Freien Universität Berlin eine kleine Gruppe aus dem Umfeld des SDS damit, Materialien über NS-Täter zu sammeln. Sie recherchierte Dokumente zu Unrechtsurteilen aus der NS-Zeit, die mitsamt den Namen der verantwortlichen Richter und Staatsanwälte öffentlich gemacht wurden. Daraus entstand die Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz«. Für die Verjährungsdebatten im Bundestag und die Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen hat sie wesentliche Impulse gegeben. Gottfried Oy und Christoph Schneider widmen sich dieser frühen Phase der Auseinandersetzung mit dem NS. Ein Auszug aus einem Gespräch, das sie mit Strecker geführt haben, bildet den Kern ihres Buches. Es folgen je ein Essay zum Verhältnis der Neuen Linken zum Nationalsozialismus und zum Kontext der »Aufarbeitung« in der Bundesrepublik. Die Autoren wählen den aufwändigen und erkenntnisreichen Weg der Konkretion gehen. Sie zeigen damit, dass es möglich ist, sich jenseits von 68er-Bashing und der Reproduktion des Mythos der über den NS aufklärenden Generation den tatsächlichen Formen der Auseinandersetzung zu nähern.
Johannes Spohr
Gottfried Oy, Christoph Schneider: Die Schärfe der Konkretion. Reinhard Strecker, 1968 und der Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Historiografie. Westfälisches Dampfboot, Münster 2013, 252 Seiten, 24,90 EUR.
Eric Hobsbawm
Im hohen Alter von 94 Jahren stellte der britische Historiker Eric Hobsbawm (2017-2012) eine Sammlung von 14 eigenen Texten aus den Jahren 1956-2009 zusammen, die sich der Wirkung des Denkens von Marx und Engels widmen. Die von Thomas Atzert hervorragend übersetzte deutsche Fassung trägt den Titel »Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus«. Bei der Zusammenstellung dachte Hobsbawm an LeserInnen mit einem Interesse an der »Wechselwirkung zwischen historischem Kontext und der Entwicklung und dem Einfluss von Ideen«. Hobsbawm ist alles andere als ein dogmatischer Marxist. Irrtümer der großen Denker nennt er unaufgeregt beim Namen, etwa die These des Kommunistischen Manifests, dass die Bourgeoisie im Proletariat »vor allem ihren eigenen Totengräber« produziert habe. Seine Bewunderung gilt dem Denken Antonio Gramscis. Er hebt aber zugleich hervor, dass dessen originelle Beiträge zur politischen Analyse und revolutionären Strategie nicht zufällig in Italien entstanden, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts »eine Art Mikrokosmos des Weltkapitalismus« dargestellt habe. Den bislang unveröffentlichten Aufsatz »Der Marxismus auf dem Rückzug: 1983-2000«, geschrieben 2010, beendet Hobsbawm mit einem Blick auf Marx' »unerwartete Rückkehr« - und der Prognose, dass dieser auch weiter ein »scharfsichtigerer Ratgeber« bleiben werde als die PropagandistInnen der »Selbstkorrektur-Mechanismen des freien Marktes«.
Jens Renner
Eric Hobsbawm: Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus. Carl Hanser Verlag, München 2012. 448 Seiten, 27,90 EUR.
Wachstumskritik
FairBindung e.V. hat ein Heft mit CD herausgegeben und will dazu ermutigen, sich dem Themenfeld Wirtschaftswachstum und Postwachstum zu widmen, es zu verstehen und Zusammenhänge zu erkennen. Der Verein aus dem Bereich des Globalen Lernens greift Wachstum als zentrales Problem auf und positioniert sich wachstumskritisch. Die gesammelten Methoden nehmen ebenfalls diese Perspektive ein. Ethische Grundlage ist »Gerechtigkeit« als lokaler, regionaler und globaler Maßstab. Um diesen Anspruch zu erreichen, wurde eine Mischung meist bekannter Methoden kreiert, die entsprechend angepasst wurden. Viele der Methoden sind anschaulich-praktisch, es gibt aber auch oft Arbeit mit Texten. Die wenigsten Methoden funktionieren losgelöst und einzeln, dazu ist das Thema zu komplex. Nützlich sind die »Tipps für Teamer_innen« mit Vorschlägen zur Weiterarbeit sowie ausführliche Erläuterungen zum Ablauf. Der Zusammenhang wird bereits durch die Gliederung in Grundlagen, ökologische, soziale und globale Dimension sowie Alternativen deutlich. Die Betrachtung all dieser Dimensionen ist positiv hervorzuheben, ebenso die Methoden, welche zum Perspektivwechsel anregen. Ein Manko hat das Methodenset jedoch: Machtverhältnisse werden nicht thematisiert. So bleiben Handlungsperspektiven auf individueller Ebene und in Politikberatung stecken. Da wünscht der kritische Bildner den AutorInnen der insgesamt empfehlenswerten Materialsammlung mehr Mut oder Nachbesserung.
Uwe Flurschütz
FairBindung e.V.: Endlich Wachstum! Wirtschaftswachstum, Grenzen, Alternativen. Materialien für die Bildungsarbeit.www.fairbindung.org. 140 Seiten, 7 EUR.