Kein Generalstreik ist auch keine Lösung
Wirtschaft & Soziales Wie sich die Bedeutung von Arbeitskämpfen global wandelt
Von Torsten Bewernitz
Es gibt viele Indizien dafür, dass das globale Streikgeschehen zunimmt und an politischer Brisanz gewinnt: ein deutlich angestiegenes Streikgeschehen in Deutschland, massive Generalstreiks in Südeuropa (allein 28 in Griechenland in den letzten zwei Jahren), der erste grenzüberschreitende politische Massenstreik in Europa überhaupt am 14. November 2012, Streiks, die ab 2006 demokratische Revolten in Tunesien, Ägypten und der Türkei ausgelöst haben, die Streikwelle 2010 in China. Für die OrganisatorInnen der Tagung »Streik!? Annäherungen an den globalen Bedeutungswandel von Arbeitskämpfen« Anlass genug, viele Fragen zu diskutieren. (1) Lässt sich aufgrund des aktuellen globalen Streikgeschehens eine »große Erzählung« über eine globale Arbeiterklasse entwickeln oder handelt es sich weiterhin um miteinander unvereinbare »kleine Erzählungen«?
Für die historische Herausbildung einer »Weltarbeiterklasse« als neues Subjekt sprechen der Wandel der globalen Ökonomie und vor allem die globale Krise seit 2007, die tendenziell zu einer weltweiten Angleichung der Arbeitsbeziehungen führen. Wir haben damit ein gemeinsames Strukturelement, das dem Wandel der Streiks zugrunde liegt. Mindestens zwei relevante Fragestellungen bleiben damit aber unbeantwortet: Zum einen die Frage nach den regional völlig verschiedenen Auswirkungen der globalen Ökonomie; zum anderen die nach den verschiedenartigen Auswirkungen sowie Wahrnehmungen oder auch Nicht-Wahrnehmungen der Krise.
Unübersichtliches China
Die Zahlen zu globalen Streiks sind oftmals fragwürdig und darüber hinaus nur schwer zu vergleichen und zu interpretieren: So ist etwa nicht wirklich analysierbar, ob es in China tatsächlich eine Streikwelle gibt. Während sich Daniel Fuchs von der Universität Wien in seinem Beitrag über aktuelle Arbeitskämpfe in China auf vorliegende Statistiken zu Massenunruhen, die als Streikgeschehen oder Arbeiterunruhe interpretiert werden können, beruft, kommt China im internationalen Vergleich, den Heiner Dribbusch vom WSI vorlegte, nicht vor. Zahlen expliziter Streiks gibt es nicht und auch die detaillierten Erfassungen der Unruhen können nur mühsam verglichen werden, da keine Vergleichszahlen aus den 1980er oder 1990er Jahren vorliegen. Wenn aber auch das Ausmaß der Streikwelle tendenziell spekulativ bleibt, so kann doch im Falle Chinas ohne Weiteres von neuen protestierenden Arbeitersubjekten gesprochen werden, der aktiv werdenden zweiten Generation der WanderarbeiterInnen.
Insbesondere in der Diskussion »Arbeitskämpfe in der aufstrebenden Semi-Peripherie« wurden diese Fragen aufgeworfen. Liegen nicht schon bei den Streiks in einem autoritär regierten China und dem von Ravi Ahuja vom Centre for Modern Indian Studies (Göttingen) dargestellten Streikgeschehen auf dem indischen Subkontinent mit einer vielfältigen demokratischen Arbeiterbewegung so verschiedene Phänomene vor, dass hier kaum Gemeinsamkeiten zu entdecken sind?
Ohnmacht gegenüber der Politik
Dass es dabei nicht nur um eine transnationale Problematik geht, sondern dass es schon um einen Unterschied zwischen verschiedenen Branchen gehen kann, machte Richard Detjes (Redaktion Sozialismus) Vorstellung der Studien »Krisenerfahrungen und Politik« (2013) und »Krise ohne Konflikt?« (2011) deutlich, für die gewerkschaftliche AktivistInnen und Streikende befragt wurden. (2) Hier zeigen sich deutliche Unterschiede: IG MetallerInnen erleben die kapitalistischen Zumutungen als »permanente Krise« und permanente Bedrohung ihrer Arbeitsverhältnisse und empfinden gleichzeitig eine Ohnmacht gegenüber der Politik. Demgegenüber erfahren die AktivistInnen von KiTa-Streiks durchaus Auswirkungen und damit Veränderbarkeit von Politik in ihrem Arbeitsalltag.
Richard Detje folgerte daraus, dass es Aufgabe von Gewerkschaften sein muss, Politik entsprechend mitzugestalten, ohne »sich auf die Regeln des politischen Systems einzulassen«. Letztlich ist es auch das, was momentan passiert: Mit Mindestlohnforderungen, gesetzlichen Regelungen für Leiharbeit und Ähnliches werden originäre Gewerkschafts- und Tarifthemen in die Politik verlagert. Diese Tendenz finden wir auch in Südeuropa wieder. Die griechischen Generalstreiks etwa markieren, so Mario Becksteiner von der Universität Hamburg in seinem Vortrag, keine Steigerung von Arbeitskämpfen, sondern eine Verschiebung von ökonomischen zu politischen Streiks.
Nicht auf die Regeln der Politik einlassen
In Deutschland dagegen erleben wir, wie Heiner Dribbusch betonte, eher eine Verbetrieblichung von Arbeitskämpfen, gleichzeitig aber auch eine gewerkschaftliche Konzentration auf soziale Forderungen an den Staat. Die verschiedenen Formen von Streiks werden jedoch im Unterschied zu den südeuropäischen Generalstreiks kaum als Krisenprotest wahrgenommen - auf der einen Seite traditionelle Tarifauseinandersetzungen, die immer noch den Hauptanteil des Streikgeschehen ausmachen, Kämpfe gegen Betriebsschließungen in Form von Streiks für einen Sozialtarifvertrag, die Streiks der Spartengewerkschaften, die eine hohe Arbeitermacht repräsentieren; (3) auf der anderen Seite die Kämpfe vergleichsweise ohnmächtiger, prekärer Klassensegmente. (4) Richard Detje forderte entsprechend einen erweiterten Krisenbegriff ein, der den Zusammenhang dieser Kämpfe mit der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus verdeutliche.
Die sich an den Staat wendenden Generalstreiks in Südeuropa, die Anrufung des Gesetzgebers durch die DGB-Gewerkschaften und die Verbetrieblichung der Kämpfe lassen vielleicht darauf schließen, dass der Bedeutungswandel des Streiks in der Verschiebund des Zusammenhangs zwischen Arbeiterklasse, Staat und Kapital liegt. Wobei diese Verschiebung regional unterschiedliche Folgen hat: Im nordwestlichen Zentrum des Kapitalismus geht es um die Aufrechterhaltung und Verteidigung sozialer Errungenschaften wie etwa Flächentarifen und Sozialleistungen. Das gilt selbst noch für die südeuropäischen Staaten, nur dass diese Verteidigungskämpfe hier eine andere Intensität erreicht haben: Hypothetisch ließen sich die politischen Forderungen des DGB mit den politischen Forderungen der Generalstreikakteure Südeuropas vergleichen, ebenso wie sich die verbetrieblichten Kämpfe mit den zunehmenden Selbstverwaltungsprojekten, von denen Florian Becksteiner in seinem Beitrag zu Griechenland berichtete, vergleichen lassen. Dieser Vergleich gewinnt auch dadurch an Attraktivität, dass in den zunehmenden betrieblichen Kämpfen in Deutschland bestimmte Aktionsformen, wie lange Betriebsversammlungen, Werksbesetzungen bis hin zur zaghaften Übernahme der Produktion, vermehrt angewandt oder zumindest diskutiert werden.
Durch diese Verschiebung steht auch der politische Streik wieder auf der Tagesordnung. Das ist die Schlussfolgerung, die viele, AktivistInnen mehr noch als WissenschaftlerInnen, gerne ziehen. (5) In Zeiten einer dickköpfigen Kapitalfraktion und globalen Bewegungen, in denen durchgängig die Demokratisierung eine starke Rolle spielt, ist das Verhältnis von Streikbewegung und Staat einer näheren Betrachtung wert. Aber ein solches Projekt sollte nicht allzu euphorisch als neue politische Möglichkeit abgefeiert werden. Die Generalstreiks in Griechenland, so Becksteiner, sind völlig erfolglos, die Aufrufe werden nur von Minderheiten - dem öffentlichen Dienst und prekarisierten AkademikerInnen - befolgt. Die Zukunft des Arbeitskampfes sei auch in Griechenland eher in den betrieblichen Kämpfen zu suchen.
Erfolg durch Spontanität
Vom Begriff des Generalstreiks geht immer noch eine Faszination aus. Ihn für wirkungslos zu erklären ist für viele AktivistInnen ein Affront. So manches trotzkistische oder auch anarchistische Grüppchen träumt immer noch davon, dass einfach mal jemand zu einem Generalstreik aufrufen müsse, und dann würde es schon mit irgendeiner Art von Umwälzung der Verhältnisse klappen. Auf der Hamburger Tagung hat sich deutlich gezeigt, dass solchen Konzepten durchaus Grenzen gesetzt sind.
Die Tagung begann zwei Tage nach der vom griechischen Ministerpräsidenten Antonis Samaras verfügten Schließung des griechischen Staatssenders ERT, der zu einem kurzfristigen Generalstreik führte. Dieser Generalstreik unterschied sich deutlich von den rituellen Generalstreiks der letzten zwei Jahre in Griechenland. Es kam das seinerzeit von Rosa Luxemburg erwähnte »spontane Element« hinzu. Der griechische Journalist Thanasis Kourkoulas betonte, dass dieser Generalstreik wieder ein höheres Mobilisierungspotenzial in verschiedensten Milieus besaß - und letztlich, auch das ist ungewöhnlich, zum Erfolg führte. Eine Woche nach der Schließung des Senders nahm ERT nach einem Urteil des Obersten Verwaltungsgerichts die Sendung wieder auf.
Dass das theoretische Potenzial, das Generalstreiks traditionell zugesprochen wird, unter entsprechenden Rahmenbedingungen tatsächlich existiert, darauf verweisen auch die aktuellen Ereignisse in Ägypten. Vor dem Sturz Mohammed Mursis durch das ägyptische Militär stand die Androhung des Bündnisses Tamarod (»Rebell«), eine »Kampagne des vollständigen zivilen Ungehorsams« gegen die Regierung durchzuführen. 22 Millionen Unterschriften soll das Bündnis gesammelt haben - ein tatsächlicher Generalstreik, dessen Ankündigung genügte, um das Militär als eine gesellschaftliche Macht aktiv werden zu lassen.
Torsten Bewernitz ist gewerkschaftlich engagiert und schreibt u.a. für die Direkte Aktion.
Anmerkungen:
1) Ausgerichtet vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und dem Hamburger Zentrum für Ökonomische und Soziologische Studien (ZÖSS) Mitte Juni in Hamburg.
2) Beide Studien sind beim VSA Verlag (Hamburg) erschienen.
3) Etwa die von der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), der Vereinigung Cockpit organisierter Piloten und ähnliche, also vor allem der Transportsektor.
4) Streik beim Callcenter S-Direkt in Halle, der aktuellen Auseinandersetzung im Einzelhandel und vor allem dem massiv ansteigenden Streikgeschehen im Pflegebereich.
5) Siehe hierzu Alexander Gallas und Jörg Nowak in ak 582.