Trotz Stalin, Knopp und alledem
Diskussion Abschlussbeitrag zur ak-Debatte um linke Geschichtspolitik
Vom AutorInnenkollektiv Loukanikos
Was ist denn nun das »Angebot in Sachen linker Geschichtspolitik«, fragte Jens Renner in ak 580. Und was, so David Begrich in ak 581, soll an die Stelle von linken Mythen treten, wenn man sich von ihnen abgewendet hat? Begonnen hatte die »Loukanikos-Debatte« zu Sinn und Unsinn linker Geschichtspolitik in ak 570 mit einem Auszug aus unserer Diskussion »Im Zweifel für den Zweifel?«. Nun soll sie mit diesem Abschlussbeitrag (vorerst?) enden. Mit der Luxemburg-Vertrauten Mathilde Jacob, mit Rosa Luxemburg selbst, der italienischen Resistenza und dem »Arbeiteraufstand« in der DDR am 17. Juni 1953 (vgl. Renate Hürtgen in ak 584) tauchten in der Debatte auch unmittelbar Kostproben aus dem geschichtlichen Material auf, mit dem linke Geschichtswahrnehmung und -politik die notwendige Konkretion geschichtstheoretischer Erkenntnisse vornehmen kann.
Es wurden ebenfalls einige Beispiele für einen linken Gebrauch der Geschichte genannt, in dem »ein kämpferischer Vergangenheitsbezug in Mythenproduktion umschlägt« (AK Loukanikos in ak 578). Dies geschehe zum Beispiel im Rahmen der jährlichen - von David Begrich als «Fronleichnamsprozession« bezeichneten - Luxemburg-Liebknecht-Demonstration in Berlin. Auf Veranstaltungen wie dieser »linken erinnerungspolitischen Wallfahrt« (Begrich) verkommen Figuren der linken Geschichte zu Säulenheiligen, so überhöht sind sie und so skurril werden sie mitunter als HeilsbringerInnen inszeniert.
Wenn das linke Tradition ist, ist es notwendig zu fragen, wann und wie sie den Blick in die oft unangenehme Komplexität der Geschichte konkret »stört« und wann sie deswegen »kritisiert« werden muss (Jens Renner in ak 580). An bestimmten historischen Gegenständen und ihrer Analyse muss sich zeigen, wie ein emanzipatorischer Bezug zur Vergangenheit sinnvollerweise aussieht - geschieht das nicht und bleibt es bei rhetorisch-abstrakter Fassadenmalerei, besteht die Gefahr des »historischen Relativismus« (Renner).
Alle politischen AkteurInnen nutzen die Geschichte zur Sinnstiftung und gebrauchen sie als Fundus für Symbol- und Identitätspolitik; es hätte dramatische politische Folgen, wenn die Linke sich auf ein stilles Zwiegespräch mit der Geschichte zurückziehen würde. Damit ist ein kompliziertes Problem angesprochen: Wie ist der Geschichte gerecht zu werden, ohne sie im Dienste des alltagspolitischen Handgemenges zurechtzustutzen und umzulackieren, also auf eine Passform zu bringen, die sie letztlich auf einen internen Wohlfühlfaktor und ein leeres Argument im Kampf um Deutungshoheit reduziert? Und wie überlässt man anderseits die mobilisierende Kraft der Geschichte trotzdem nicht dem ZDF oder dem unkritischen Traditionalismus?
Ein entscheidendes Moment für die Strategien linker Geschichtspolitik scheint in der Dynamik von bürgerlicher Geschichtsdarstellung, dem politischen Kräfteverhältnis insgesamt und dem Geschichtsbezug der Linken zu liegen. Ständig in der politischen Defensive, gewöhnte sich die Linke daran, ihre Geschichtspolitik allzu oft reflexhaft-abwehrend an bürgerlichen Erzählungen auszurichten: Den bürgerlichen Mythen werden die Vorzeichen umgekehrt, um sich wenigstens einen Restbestand an eigenen HeldInnen zu bewahren. So fehlt zum Beispiel trotz vermehrter Beschäftigung mit dem Stalinismus immer noch eine offensive Kritik an ihm, die die historische Definitionsmacht der SiegerInnen von 1989 in Frage stellen könnte. Und dies betrifft nicht nur den Stalinismus, sondern die gesamte sozialistische und kommunistische Politik seit 1917. Es geht also nicht nur darum, verkürzende »Weil damals, so heute«-Folien (ak 581) zu vermeiden, sondern es ist genauso wichtig, simple geschichtspolitische Umkehrschlüsse und die Gesprächsverweigerung mit der diskreditierenden »eigenen« Vergangenheit aus dem linken Repertoire zu verbannen.
Konkrete Arbeit gegen den Mythos
So wie dem Hass auf die Kommunistin Rosa Luxemburg nur mit »einer differenzierten Darstellung« (ak 580) ihrer Person und ihrer geschichtlichen Präsenz zu begegnen ist, darf auch von linker Seite weder Stille zum 17. Juni 1953 herrschen, noch sollte als Gegenposition zur bürgerlichen Umdeutung der Ereignisse in einen Volksaufstand als Vorschein der »Berliner Republik« nachträglich die denunziatorische Position der SED-Eliten eingenommen werden. Stattdessen sollte es tatsächlich darum gehen, sich »mit den zahlreichen, auch linken Mythen (zu befassen), die dieses Ereignis bis heute begleiten« (vgl. ak 584), um herauszufinden, was in diesen Tagen in der DDR passiert ist, was es bedeutete und was dies für eine neu zu beginnende Konzeption linker Politik im Jahr 2013 heißen könnte. Wir können Renate Hürtgen nur zustimmen, wenn sie fordert, »sich an die theoretische Arbeit zu machen, nicht nur die politischen, sondern vor allem die ökonomischen Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen in der DDR aufzudecken«. Dies wäre eine notwendige Konkretion linker Geschichtspolitik. Konkrete Arbeit gegen den Mythos nicht durch plumpe Zurückweisung, sondern Unterlaufen der mythischen Erzähl- und Bedeutungsstruktur durch das mühsame Herausschälen der geschichtlichen Konkretion aus ihrer mythischen Hülle.
Sonst besteht die Gefahr, dass die Aktualisierung der Vergangenheit, das Herbeirufen der geschichtlich »Abgeschiedenen« (Walter Benjamin) zum bloßen und bisweilen zynischen Labeln von Toten erstarrt. Gegen ein solches Vorgehen wendet sich auch Dirk Moldt, der im April diesen Jahres anlässlich der Einweihung der Silvio-Meier-Straße in Berlin schrieb: »Das Label Silvio Meier hat kaum noch etwas mit meinem ermordeten Freund zu tun.« (1)
Ausgehend von seiner Auseinandersetzung mit der geschichtspolitischen Inszenierung des »toten Helden« Silvio Meier vollzieht Moldt eine Doppelbewegung, die über die oben beschriebene reflexhafte Abwehr hinausweist. Er kritisiert zum einen die plakative und heroisierende Vereinnahmung seines Freundes durch junge Antifas, die in der Regel mit einer fehlenden Auseinandersetzung mit der DDR einhergehe. Demgegenüber betont er die kritische Haltung Meiers gegenüber der SED als eine wichtige Facette dessen politischen Engagements. Zum anderen wendet sich Moldt auch gegen die nachträgliche Selbst-Inszenierung vieler ehemaliger DDR-Oppositioneller als »bürgerlich«: »Einige ihrer Wortführer schämen sich inzwischen ihrer vormaligen sozialistischen Flausen und meinen, schon immer richtig bürgerliche Demokraten gewesen zu sein.«
Während Moldt sich also weder dem herrschenden Geschichtsgeist noch seiner reflexhaften Abwehr andient, zeigt die Selbsteinordnung einstiger sozialistischer KritikerInnen der DDR ins bürgerliche Narrativ nicht zuletzt, wie tiefgreifend und flächendeckend sich der Diskurs vom »Ende der Geschichte« durchgesetzt hat. Dieser reduzierte emanzipatorisches Denken und Handeln auf ein Mindestmaß: »The hope for a better future was replaced by the fear that the present would become worse.« (2) Vor diesem Hintergrund erscheint uns die Erkenntnis, dass »es sich lohnt zu kämpfen« (ak 580) keineswegs banal, sondern vielmehr als etwas, an das immer wieder zu erinnern ist. Die Perspektive auf dieses Problem dürfte nicht zuletzt davon abhängen, ob eine politische Generation sich vor oder nach dem »Ende der Geschichte«-Jahr 1989 die Frage stellte, was zu tun ist.
Ein reich gedeckter Tisch
Der Tisch der Geschichte, von dem Brecht sagte, er sei vielleicht rein, aber nicht leer, ist heute auch für die Linke reich gedeckt. (3) Es gibt - das zeigt schon diese kleine Debatte in der ak - das historische Material, mit dem das Panorama der menschlichen Geschichte zu füllen ist, das Material, an dem die Gewalt der Herrschaft und ihrer Strukturen aufgezeigt werden kann, und ebenso die Kämpfe, Erfolge und Niederlagen, die Sehnsüchte, Schwindeleien und dramatischen Fehlentscheidungen derer, die die Welt verbessern oder sogar die Gesellschaft vernünftig einrichten wollen. Die Bemühungen um eine differenzierte, eigenständige linke Geschichtspolitik, die weder wie das Kaninchen vor der stalinistischen Schlange sitzt, noch sich in empörter Abwehr an der totalitarismustheoretischen Musealisierung des 20. Jahrhunderts abnutzt, haben es sicherlich nicht leicht in einem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, das Guido Knopp als übermächtigen ideellen und kulturindustriellen Gesamtmärchenerzähler eingesetzt hat. Vor solchen Grenzen der eigenen Wirksamkeit sollten wir nicht die Augen verschließen. Bessere Argumente sind eben nicht hinreichend; die zentrale Frage bleibt, wer über wie viel politische Ressourcen und Medienöffentlichkeit verfügt.
Trotz Stalin, Knopp und alledem freuen wir uns jedoch über Renate Hürtgens Aufforderung, sich im Sinne der Entwicklung eines »zeitgemäßen Umgangs mit linker Geschichte« (vgl. ak 584) an die Arbeit zu machen. Ein möglicher Ort dafür wäre die Konferenz »History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft: Gestern, Heute und Morgen«, die am 6. und 7. Dezember in Berlin stattfinden wird und die vom AK Loukanikos in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert wird. Sie soll sich erklärtermaßen »den Möglichkeiten und Fallstricken eines Bezugs auf die Vergangenheit (widmen), der sich auch einer besseren Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Gegenwart verpflichtet sieht«. Es wird »diskutiert werden, welche historischen Bezüge bei gegenwärtigen sozialen Kämpfen eine Rolle spielen und inwieweit durch diese neue gegenhegemoniale Erzählungen entworfen werden«. Wir freuen uns auf die Diskussionen und laden herzlich dazu ein.
Das AutorInnenkollektiv Loukanikos sind Henning Fischer, Uwe Fuhrmann, Jana König, Elisabeth Steffen und Till Sträter. Gemeinsam publizierten sie den Sammelband: Zwischen Ignoranz und Inszenierung. Die Bedeutung von Mythos und Geschichte für die Gegenwart der Nation.
Anmerkungen:
1) Dirk Moldt: Das Leben toter Helden, taz 26. 4. 2013.
2) Bini Adamczak: The End of the End of History - And Why the Era of Revolutions Is Upon Us, 9.7.2013, online unter www.occupy.com.
3) »Warum nicht da reinen Tisch machen? Warum nicht von heute reden? Aber der den großen Sprung machen will, muß einige Schritte zurück gehen. Das Heute geht gespeist durch das Gestern in das Morgen. Die Geschichte macht vielleicht einen reinen Tisch, aber sie scheut den leeren.« Bertolt Brecht: Bei Durchsicht meiner ersten Stücke, März 1953.
History is unwritten
Der AK Loukanikos lädt ein zur Konferenz »History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft: Gestern, Heute und Morgen« am 6./7. Dezember. In Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, in Räumen von ver.di, Berlin. Einladung unter hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=21989, Kontakt: unwrittenhistory@riseup.net.
Die Loukanikos-Debatte
Das AutorInnenkollektiv Loukanikos entwickelte seine Thesen zu linker Geschichtspolitik in dem Artikel »Im Zweifel für den Zweifel« (ak 570) und in dem Interview »Wir brauchen keine linken Mythen« (ak 578). Jens Renner nahm in ak 580 mit dem Beitrag »Antworten, die neue Fragen aufwerfen« darauf Bezug. In ak 581 setze David Begrich mit dem Artikel »Erzählung statt Mythos« die Diskussion fort. Es folgte der Artikel »Bisherige Antworten in Zweifel ziehen« von Renate Hürtgen in ak 584.