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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 585 / 14.8.2013

Im Rausch der Masse

International Sexualisierte Gewalt auf dem Tahrir-Platz reißt nicht ab

Von Ilka Eickhof

Als sich am 30. Juni die Straßen Kairos zu Demonstrationen gegen den inzwischen abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi zu füllen begannen, konnte man beobachten, wie Gruppen demonstrierender Frauen von Männern abgesichert wurden, die sich an den Händen hielten und einen äußeren Ring um die Frauen bildeten. Die Gruppen von Frauen waren unterschiedlich groß, von 15 bis zu 50 Personen. Dieses Bild ent- und ermutigt zugleich. Es entmutigt, da sich Frauen von Männern vor anderen Männern beschützen lassen müssen. Es ermutigt, weil der Schutz den Frauen ermöglicht, trotz der großen Gefahr eines sexualisierten Übergriffs demonstrieren zu gehen. Die Frauen lassen sich den öffentlichen Ort nicht nehmen, sondern nehmen ihn sichtbar als Gruppe ein.

Ein weiteres einprägsames Bild an jenem 30. Juni: Manche Männer hoben ihre Hände hoch, wenn ihnen eine Frau im Gedränge entgegenkam - als Zeichen des Nicht-Angriffs. Dies war allerdings nur tagsüber der Fall. Im Laufe des Abends meldete die im November 2012 gegründete Aktivistengruppe OpAntiSH (Operation Anti-Sexual Harassment/Assault) 44 sexualisierte Übergriffe auf Frauen. (1)

Erschreckendes Ausmaß sexualisierter Gewalt

Die Übergriffe laufen meist so ab, dass ein bis zwei Dutzend Männer einen Kreis um eine Frau bilden und sie, um sie kreisend, belästigen. Die Frau wird angefasst, ausgezogen, mit Gegenständen und Händen penetriert, vergewaltigt, ein Entkommen ist nicht möglich. (2) Das Ausmaß der von Männergruppen ausgehenden sexualisierten Gewalt auf dem Tahrir-Platz, die sich mehrheitlich gegen Frauen richtet, ist erschreckend - vor allem, weil es offensichtlich ein breites Wissen und sogar einen öffentlichen Diskurs über die Angriffe gibt, wie die obigen Handlungsbeispiele bezeugen - und das schon seit über einem halben Jahr. Mindestens drei Gruppen operieren inzwischen auf dem Tahrir-Platz und versuchen, den Ort für Frauen zu sichern: OpAntiSH, Tahrir Bodyguards und Anti-Sexual Harassment Movement (Didd al-Taharrush).

In Ägypten ist sexualisierte Gewalt - dazu zählt auch verbale Gewalt - weit verbreitet und leider auch sozial akzeptiert. Das heißt, es wird selten eingegriffen. In den letzten Jahren hat sich zwar in rechtlicher Hinsicht einiges bewegt, allerdings nur in kleinen Schritten. Und es gab Sensibilisierungskampagnen. Im Jahr 2005 leitete das Egyptian Center for Women's Rights (ECWR) die Kampagne »Safe Streets for Everyone« ein, 2008 bildeten mehr als ein Dutzend Menschenrechtsorganisationen die Task Force Against Sexual Violence. 2010 präsentierte die Aktivistengruppe »Harassmap« ihre interaktive Straßenkarte, in die gemeldete sexualisierte Übergriffe sofort übertragen und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. (3)

Der ägyptische Staat hat in den letzten Jahren immer wieder zu sexualisierter Gewalt gegen Frauen beigetragen - sei es durch die sogenannten »Jungfrauentests« gegen verhaftete Demonstrantinnen seit 2011, durch gegen Demonstrantinnen ausgeübte Gewalt (über den Fall der Frau, die als »Blue Bra Girl« bekannt wurde, haben auch internationale Medien ausführlich berichtet) oder allein dadurch, dass er die Gewalt gegen Frauen auf dem Tahrir-Platz weder ahndet noch unterbindet.

Im März 2013 gab Mohammed Mursi bekannt, die »Rechte und Freiheiten ägyptscher Frauen« politisch zu unterstützen. Dem Innenministerium sollten weibliche Polizistinnen zugeteilt werden, um sich insbesondere dem Thema Gewalt gegen Frauen zu widmen. Allerdings blieb diese Aussage ein Papiertiger; die weiblichen Sicherheitskräfte wurden nicht eingestellt.

Allerdings sollten die Angriffe gegen Frauen nicht dazu verleiten, sexualisierte Gewalt als kulturspezifisches Problem Ägyptens oder »der islamischen Welt« zu interpretieren. Die Berichterstattung über die Übergriffe bedient sich nur allzu gern bestehender Vorurteile über »den Islam« oder »die Araber«. Doch die aktuelle, gegen Frauen gerichtete Gewaltwelle in Ägypten ist keine Ausnahme. Beispiele für sexualisierte Gewalt sind leider zahlreich - von den Vergewaltigungslagern in Bosnien und Herzegowina während des Bosnienkrieges über die massiven sexuellen Übergriffe beim diesjährigen Stiertreiben in Pamplona bis hin zu den alljährlichen Vergewaltigungs- und Belästigungsvorfällen beim Oktoberfest in München. Der Blick muss gar nicht allzu weit schweifen.

Männerkollektive im Machtrausch

Bei den Vorfällen auf dem Tahrir-Platz agieren die Männer als Gruppe und zeigen keinerlei Mitgefühl mit den Opfern. Die Taten ähneln denen in Kriegs- und Krisensituationen, bei denen sexualisierte Gewalt nicht nur Ausdruck eines spezifischen gesellschaftlichen Machtverhältnisses ist, sondern die Vergewaltigung von Frauen zum Symbol der endgültigen Unterwerfung und Demütigung des Gegners wird. Die Gewaltausübung ist ein Angriff auf das Selbst und die Würde des Individuums; sie bewirkt den Verlust der Selbstbestimmung über den eigenen Körper, das Opfer wird de-personalisiert.

Auf dem Tahrir-Platz sind die Täter wie in einem Rausch, und es ist unglaublich schwer, die Frauen aus einem solchen Kreis der Gewalt herauszuholen, berichten OpAntiSH-AktivistInnen. Die Masse bildet einen gemeinsam agierenden Körper, das Gegenüber verliert damit jegliche Individualität und »Menschenhaftigkeit« - so wie auch der einzelne Täter sich jeder individuellen Verantwortung entledigt, indem er als Teil des Kollektivs agiert. Die Selbstreflexion des Einzelnen existiert in diesem Moment nicht mehr.

Das Aufgehen in der Menge, die kollektive Aktion, kann auch positiv und ermächtigend sein - und ist es oft, etwa, wenn die Menschen zum Demonstrieren auf den Platz strömen, Männer, Frauen, ganze Familien aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten und Stadtteilen. Die Atmosphäre in solchen Momenten ist euphorisch und unglaublich beeindruckend. Das politische Ziel vereint und vereinnahmt, hilft, Klassen-, Alters- und Geschlechtergrenzen zu überwinden. Allerdings kann die »positive« Kollektivität auch umschlagen; das Gefühl von Übermacht und in Aussicht stehender Straflosigkeit münden dann in Aggressivität und Gewalt gegen Frauen.

Es bleibt die Frage, ob die sexualisierten Übergriffe auf dem Tahrir-Platz spontan entstehen oder ob sie geplant sind? Und was sind die Motive der Täter? Sexuelle Befriedigung durch Macht über eine andere Person? Der Rausch, als Teil einer nicht zu stoppenden Gruppe zu agieren? Abschreckung und politisches Kalkül, um Frauen und oppositionelle Gruppen einzuschüchtern und am Demonstrieren zu hindern?

Fest steht, dass die sexualisierte Gewalt auf Frauen und junge Mädchen anhält. Die Aktivistengruppen arbeiten inzwischen mit einer großen und wachsenden Zahl von Freiwilligen, zum Teil auch Frauen, die selbst Überlebende von Übergriffen sind. Die Organisationen Nazra for Feminist Studies und OpAntiSH dokumentieren allein 186 gemeldete Übergriffe zwischen dem 28. Juni und dem 7. Juli, wobei die Dunkelziffer vermutlich sehr viel höher ist. Auch gibt es Gerüchte über sexualisierte Gewalt gegen Männer auf dem Tahrir-Platz, allerdings bisher keine offiziell dokumentierten Zeugenaussagen.

Sowohl die Opposition, die anfangs den Muslimbrüdern die Verantwortung für die Übergriffe zugewiesen hat, als auch die Muslimbrüder selbst instrumentalisieren die Gewalttaten für ihre politischen Zwecke. Die AktivistInnen sind derweil tapfer, doch auch müde und ratlos. Zu viele Täter kommen ungestraft davon, zu viele Fragen bleiben unbeantwortet - allen voran, warum sich an der Zahl der Übergriffe seit November letzten Jahres nicht viel geändert hat.

Ilka Eickhof ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin. Über die Proteste in Ägypten schrieb sie in ak 579 und 581.

Zum Weiterlesen:

Kirollos, Mariam: Sexual Violence in Egypt: Myths and Realities (16. Juli 2013), www.jadaliyya.com.

El-Tamami, Wiam 2013, To Willingly enter the Circles, the Square (30. Juli 2013), www.jadaliyya.com.

Eickhof, Ilka: Zur Repräsentation der Frau im »Arabischen Frühling« in deutschen Medien, in: Filter, Dagmar/Reich, Jana/Fuchs, Eva (Hg.): Arabischer Frühling? Alte und neue Geschlechterpolitiken in einer Region im Umbruch, Centaurus-Verlag, Freiburg 2013.

Canetti, Elias: Masse und Macht, Hamburg 1960.

Shoukry, Aliyaa/Hassan, Rasha Mohammad: Clouds in Egypt's Sky. Sexual Harassment: from Verbal Harassment to Rape. A Sociological Study, Egyptian Center for Women's Rights, Cairo 2008.

Anmerkungen:

1) Siehe twitter.com/OpAntiSH und www.facebook.com/opantish.

2) Das Videokollektiv Mosireen (mosireen.org) hat solche Angriffe dokumentiert: www.youtube.com/watch?v=oQhoaWu3jX8 und www.youtube.com/watch?v=KZyo74ESr2s.

3) harrassmap.org