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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 585 / 14.8.2013

»Morgen werdet ihr sehen!«

Deutschland Antimuslimischer Urbanismus und Widerstand in Hamburg-Altona

Von Jill Jana Janicki und Florian Kasiske

Es ist Sommer in der Stadt. Wer kann, nutzt die freien Stunden, um den Abend draußen zu genießen. So auch einige Jugendliche und junge Erwachsene, die sich vor dem Kiosk Azra in der Holstenstraße treffen. Sie wollen gemeinsam in den angrenzenden August-Lütgens-Park gehen und etwas essen. Viele von ihnen haben den Tag über gefastet. Was sie nicht wissen: In einer Seitenstraße hat sich bereits eine Polizeieinheit in Stellung gebracht. Beim Überqueren der Straße hören sie nur noch »Zugriff!« und sehen sich umringt von 30-40 PolizistInnen. Diese wollen die Personalausweise sehen. Die Jugendlichen sind empört und fragen nach, warum die Polizei sie kontrollieren will.

Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten: Die PolizistInnen attackieren die Jugendlichen mit Pfefferspray. »Den Schwatten packen wir uns«, ruft ein Polizist seinem Kollegen zu, als sie einen Jugendlichen verfolgen. Ein Jugendlicher wird mit dem Kopf gegen eine Fensterscheibe geschleudert. Die Scheibe zerbricht. Ein anderer wird im Schwitzkasten so stark gewürgt, dass er bewusstlos wird und kurze Zeit später im Krankenwagen abtransportiert werden muss. Herbeigeeilte Eltern und NachbarInnen fordern vergeblich, dass die Polizei ihm die Handschellen löst. Auch Wasser zum Ausspülen der Augen dürfen sie nicht durchreichen.

Nach anderthalb Stunden im Kessel werden die jungen Männer auf unterschiedliche Wachen transportiert. Bis in die Morgenstunden bleiben sie eingesperrt. Essen und Trinken wird ihnen ebenso verweigert wie Telefongespräche. Einige berichten, auf dem Weg zur Wache immer wieder beleidigt worden zu sein. Gegen die Kälte der Nacht sei ihm nur eine nach Urin stinkende Decke gegeben worden, erzählt einer der Jugendlichen.

Schikane mit Ankündigung

Die Ereignisse in der Nacht vom 11. Juli 2013 in der Altonaer Altstadt haben ein Vorspiel: Bereits einige Tage zuvor begann im Stadtteil ein sogenannter Schwerpunkteinsatz der Polizei. Er richtete sich nach Polizeiangaben gegen »Gruppen von Jugendlichen und Heranwachsenden, die sich in diesem Viertel delinquent und/oder ordnungsstörend verhalten.« (1) Die Folge: Jugendliche, die in den Augen von PolizistInnen einen »Migrationshintergrund« (2) haben, wurden teilweise mehrmals am Tag von den selben BeamtInnen kontrolliert. Noch am Abend vor den Vorfällen kündigte ein Polizist einem Jugendlichen an: »Morgen werdet ihr sehen!«

In den Nächten danach bleibt die Situation angespannt - neben Jugendlichen und Eltern, die ihre Kinder vor der Polizei schützen wollen, versammeln sich AnwohnerInnen und UnterstützerInnen auf den Bürgersteigen rund um die Kreuzung Max-Brauer-Allee/Holstenstraße. Es kommt aber zu keiner weiteren nennenswerten Eskalation.

Am Sonntag nach den Ereignissen kommen rund 200 Menschen in einer Nachbarschaftsversammlung im Park zusammen. Deutlich wird dabei die Wut und Ohnmacht, die das Erleben der Polizeigewalt bei vielen Eltern und Jugendlichen ausgelöst hat. Gleichzeitig wird klar: Das Vorgehen der Polizei ist lediglich die Spitze des Eisbergs. In ihrem Alltag sind viele immer wieder mit Rassismus konfrontiert: ständige Kontrollen, Diskriminierung bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen und Jobs, rassistische Beleidigungen. Einige haben den Eindruck, die Polizeischikanen sollen dazu dienen, Menschen mit einem türkischen bzw. muslimischen »Migrationshintergrund« aus dem Viertel zu verdrängen. (3)

Dieser Eindruck speist sich aus der Erfahrung rassistisch geprägter Stadtplanung. Spätestens seit dem Bau einer IKEA-Filiale nahe dem Altonaer Bahnhof sind im Viertel zwischen Große Bergstraße, Holstenstraße und Max-Brauer-Allee Anzeichen einer beschleunigten Gentrifizierung zu beobachten. Statistische Daten belegen, dass der Anteil von Menschen ohne deutschen Pass in Altona-Altstadt zwischen 2005 und 2012 von 25,9 auf 20,1 Prozent gesunken ist - ähnlich wie in anderen in Gentrifizierung befindlichen Vierteln.

Dass diese Entwicklung im Interesse von StadtentwicklungspolitikerInnen liegt, verdeutlicht eine vom Bezirksamt Altona in Auftrag gegebene Studie aus dem Jahr 2004. Diese diagnostiziert für den Stadtteil »Anzeichen eines problematischen Stadtquartiers mit einem hohen Anteil an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern« - und hebt als positive Entwicklung den vermehrt zu beobachtenden Zuzug von »jungen Kreativen« hervor und die Tatsache, dass seit 1995 der »Ausländeranteil ... in Altona-Altstadt rückläufig« sei.

Einen Anteil an dieser Entwicklung hat auch die städtische Wohnungsgesellschaft SAGA-GWG. So heißt es etwa in einer schriftlichen Handreichung der SAGA-GWG, bei der Vergabe von Wohnungen sei nicht nur die wirtschaftliche Situation der BewerberInnen zu beachten, sondern auch die »Integrationsfähigkeit des möglichen Mieters in das zukünftige Umfeld«. (4) Die Folge: Es gibt mehrere Berichte von Menschen, denen MitarbeiterInnen der SAGA-GWG im Vertrauen erzählt haben, dass sie frei werdende Wohnungen nicht an »Ausländer« bzw. »Kopftuchträgerinnen« vergeben würden.

Polizei, Stadtpolitik und Medien Hand in Hand

Hier wird deutlich, wie sich ein Diskurs über Migration in räumlichen Praktiken materialisiert. Ein Diskursstrang ist dabei, »migrantische Jugendliche« bzw. speziell jene mit behauptetem »muslimischen Hintergrund« als gefährliche Gruppe zu konstruieren. Er lässt sich beispielhaft in der Berichterstattung einiger lokaler Medien über die Ereignisse in Altona beobachten.

So schrieb die Hamburger Morgenpost: »Junge Migranten dealen, prügeln, begehen Einbrüche und tanzen der Polizei in Altona auf der Nase herum.« (MOPO, 28.7.2013) Die Polizeiversion, nach der die Jugendlichen festgesetzt wurden, weil sie vorher Autos mit einem Laserpointer geblendet haben sollen, wurde dabei unhinterfragt übernommen - obwohl bei keinem der 16 festgenommenen Jugendlichen ein Laserpointer gefunden wurde.

Der Diskurs nicht nur in der MOPO folgt einem binären Code: auf der einen Seite die »meist türkischstämmigen« Jugendlichen, die als aggressiv, kriminell und gefährlich beschrieben werden und auf die nur »türkische Respektpersonen« Einfluss haben, auf der anderen Seite die Polizei als Hüter von Recht und Ordnung, die grundsätzlich die Wahrheit sagt und niemals den Bereich des Legalen verlässt.

Über Bezeichnungen wie »junge Migranten«, »Jugendliche mit Migrationshintergrund« o.Ä. werden die Betroffenen dabei als »das Fremde« dargestellt, das nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehört. Gefährlich wird diese konstruierte Gruppe dann, wenn sie räumlich an einem Ort konzentriert ist. In diesem Fall musste dieser »Ort« sogar erst geschaffen werden: Die Polizei markierte ihn mit dem bis dahin unbekannten Namen »Stolperviertel«. Durch die Warnung vor »Zustände(n) wie jüngst in Stockholm, London und Paris« (5) bzw. dem »Pulverfass Altona« entsteht die »Figur des explosiven Raums, in dem sich ein Sprengstoff ansammelt, der sich irgendwann entlädt«. (6)

Dieser »gefährliche Raum« ist auch dann noch bedrohlich, als nach dem Ende der Schwerpunkteinsätze keine Bilder von angeblichen »Krawallen« mehr geliefert werden können: »Der Frieden ist brüchig. Schon ein Routineeinsatz eines Streifenwagens an der Holstenstraße kann jederzeit zum Ausbruch neuer Gewalttätigkeiten führen.« (MOPO, 26.7.2013) Die »urbanen Paniken« (7), die auf diese Weise geschaffen werden, liefern den Begründungskontext für stadtpolitische Maßnahmen, die auf »Durchmischung« abzielen, ebenso wie für restriktive Polizeimaßnahmen in Form von verdachtsunabhängigen Kontrollen und Schwerpunkteinsätzen wie etwa in Altona-Altstadt.

Auch wenn dies von offizieller Seite dementiert wird, richten sich solche Polizeimaßnahmen gegen Menschen, von denen aufgrund von äußerlichen Merkmalen wie Haut- und Haarfarbe bzw. wegen des ihnen zugeschriebenen »Migrationshintergrundes« vermutet wird, dass sie Straftaten begehen. Diese verbreitete Praxis wird »ethnic profiling« genannt und ist nichts anderes als institutioneller Rassismus.

Für die Betroffenen bedeutet das, dass sie stärker als andere polizeilicher Willkür ausgesetzt sind - zu den ohnehin schon erniedrigenden Kontrollen kommen oft Anzeigen, mit denen die Polizei ihr eigenes Fehlverhalten rechtfertigt, wie im Fall der Jugendlichen in Altona-Altstadt, die Anzeigen wegen Landfriedensbruch, Widerstand oder Beleidigung für das Zurückduzen von Beamten erhalten haben.

Die Nachbarschaft antwortet mit Organisierung

Die Ereignisse in Hamburg-Altona stehen beispielhaft für das, was Vassilis Tsianos als »antimuslimischen Urbanismus« bezeichnet. Ohne dass dahinter ein zentraler Plan steckt, bedeutet das in der Praxis, dass Menschen, denen ein muslimischer »Migrationshintergrund« zugeschrieben wird, als »gefährliche« Subjekte ständigen Kontrollen ausgesetzt sind und besonders stark von Verdrängungsprozessen im Kontext von Gentrifizierung betroffen sind.

Nicht ins Konzept von Polizei und Lokalpolitik dürfte dagegen passen, dass die Polizeischikanen die Nachbarschaft zusammengebracht haben. Das als »gefährlicher Raum« inszenierte Viertel wurde dabei angeeignet als Raum für nachbarschaftliche Organisierung und Widerstand. Eine Woche nach den Ereignissen demonstrierten über 1.000 Menschen unter dem Motto »Schluss mit den rassistischen Polizeikontrollen! Es gibt hier kein Problem mit der Sicherheit, es gibt ein Problem mit der Polizei!«.

Bei einem gemeinsamen Fastenbrechen und Abendessen am Tag vorher zelebrierten AnwohnerInnen und Jugendliche bereits das Zusammenstehen gegen Polizeigewalt und antimuslimischen Rassismus. Auch die Berichterstattung einiger Medien wurde nicht unkommentiert gelassen. AnwohnerInnen, Eltern und Jugendliche statteten der MOPO einen Besuch ab und verliehen dem Chefredakteur den »Goldenen Revolver« als »Symbol für eine Berichterstattung, die einzig und allein dem Sensationsbedürfnis einiger Leser_innen verpflichtet ist«.

Inzwischen hat die Polizei ihre Kontrollen deutlich zurückgefahren. Dennoch bleibt viel zu tun: eine Begleitung der Betroffenen der Polizeieinsätze bei ihren Verfahren, der Kampf für die Forderung nach einem Jugendtreff unter Beteiligung der Jugendlichen und weitere Thematisierung von ethnic profiling und anderen Wirkungsweisen des Rassismus. Das Beispiel aus Hamburg-Altona zeigt: Wenn institutioneller Rassismus in lokalen Praktiken zur Wirkung kommt, kann die Antwort eine Organisierung auf nachbarschaftlicher Ebene sein.

Jill Jana Janicki arbeitet im Netzwerk kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (Kritnet) mit. Florian Kasiske ist aktiv im Hamburger Recht-auf-Stadt-Netzwerk.

Anmerkungen:

1) Hamburgische Bürgerschaft, Drucksache 20/08672.

2) Dass das Wort »Migrationshintergrund« eine Chiffre ist, um den eigenen Rassismus zu verschleiern, brachte auf einem Treffen einige Tage später einer der Betroffenen auf den Punkt: »Ich bin 26, mein Vater kommt aus Marokko und war seit 41 Jahren nicht mehr dort. Ich war noch nie in dem Land, das angeblich meine Heimat ist. Warum habe ich einen Migrationshintergrund?«

3) Siehe dazu »Das Problem kennen wir«, Interview mit Anwohner Hüsein Göktas, taz, 16.7.2013.

4) Hamburgische Bürgerschaft, Drucksache 20/53.

5) Pressemitteilung der Gewerkschaft der Polizei (GdP) vom 15.7.2013.

6) Vassilis Tsianos: Urbane Paniken. Zur Entstehung des antimuslimischen Urbanismus, https://tinyurl.com/tsainas-urbane-paniken.

7) Klaus Ronneberger/Vassilis Tsianos: Panische Räume. Das Ghetto und die »Parallelgesellschaft«, in: Sabine Hess/Jana Binder/Johannes Moser (Hrsg.): No Integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa. Bielefeld 2009.