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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 586 / 17.9.2013

Politik der Moral oder Moral der Politik?

Diskussion Eine Entgegnung auf Achim Rohdes Artikel »Was tun gegen die Besatzung?« in ak 584

Von Micha Brumlik

Die in ak begonnene Diskussion über die BDS-Kampagne bietet mir die Gelegenheit, mich - anders als in der Hitze des Gefechts einer öffentlich geführten, mündlichen Debatte (1) - meiner Argumente systematisch zu versichern. Die systematische Frage, um die es bei meiner Debatte mit Omar Barghouti ging, war die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Moral bei dem übereinstimmend geteilten Ziel, die Besatzungsherrschaft Israels im Westjordanland zu beenden. Im Weiteren also darum, rechtliche, moralische und politische Einsichten und strategische Überlegungen richtig zu vermitteln. Daher gilt:

1. Juristisch: Aus Sicht der von einer überwältigenden Mehrheit von Völkerrechtlern und der Mehrheit der Weltgemeinschaft geteilten Überzeugung - wie sie in der Resolution des Sicherheitsrates 237 vom 14.6.1967 und schließlich in der Resolution des Sicherheitsrates 446 vom 22. März 1979, die ohne Gegenstimme angenommen wurde, zum Ausdruck kommt - ist die Besetzung und Besiedlung der bis zum Juni 1967 von Jordanien regierten Westbank formal und material völkerrechtswidrig und steht besonders im Widerspruch zur vierten Genfer Konvention. Zudem widerspricht die Besatzung dem nach wie vor von der internationalen Gemeinschaft anerkannten »Selbstbestimmungsrecht der Völker«, in diesem Fall der PalästinenserInnen, einem Recht, auf dem auch die Regierungen und politischen Mehrheiten des israelischen Parlaments bestehen, wenn sie darauf beharren, dass der Staat Israel als »jüdischer Staat« anerkannt werden möge.

2. Moralisch: Die Lage der in der Westbank lebenden palästinensischen Bevölkerung, die - das ist unbestreitbar - zu einem nicht unerheblichen Teil von dem von Israel kontrollierten Arbeitsmarkt profitiert, widerspricht gleichwohl menschenrechtlichen Minima, wie zumal die israelischen Menschenrechrechtsorganisationen Be Tselem und Women in Black immer wieder zu Recht dokumentiert haben.

3. Politisch: Sowohl israelische Regierungen, Teile der politischen Führung der palästinensischen Autonomie als auch die überwiegende Mehrheit der Staaten der internationalen Gemeinschaft befürworten daher die sogenannte Zwei-Staaten-Lösung. In meiner Debatte nicht nur mit Omar Barghouti, sondern auch - Wochen und Monate früher - mit Judith Butler, die ebenfalls zu den Unterstützerinnen von BDS gehört (2), ging es daher nicht um die Frage, ob die Ziele von BDS moralisch und grundsätzlich akzeptabel sind oder nicht, sondern darum, ob sie einen erfolgversprechenden Beitrag zur Verwirklichung der Zwei-Staaten-Lösung liefern. Das aber ist nicht der Fall. Folgendes sind die offiziellen Ziele von BDS, wie sie 2005 publiziert wurden:

»Diese gewaltlosen Strafmaßnahmen müssen solange aufrecht erhalten bleiben, bis Israel seiner Verpflichtung nachkommt, den PalästinenserInnen das unveräußerliche Recht der Selbstbestimmung zuzugestehen, und zur Gänze den Maßstäben internationalen Rechts entspricht, indem es: 1. Die Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes beendet und die Mauer abreißt; 2. Das Grundrecht der arabisch-palästinensischen BürgerInnen Israels auf völlige Gleichheit anerkennt; und 3. Die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren, wie es in der UN Resolution 194 vereinbart wurde, respektiert, schützt und fördert.«

Ein unrealistisches und ungenaues Programm

An diesem Programm ist zu kritisieren, dass seine Ziele in mancher Hinsicht unrealistisch oder - schlimmer noch - ungenau sind: Zunächst ist nicht klar, wer überhaupt »die PalästinenserInnen« sind; sofern es sich um die arabischen BewohnerInnen des Gazastreifens und der Westbank handeln soll, ist die Forderung unproblematisch - unklar bleibt freilich, ob darunter auch die arabischen StaatsbürgerInnen Israels fallen. Sodann: ist zwar erstens die Forderung nach dem Ende der Besetzung und Kolonisation arabischen Landes dann unproblematisch, wenn darunter die Westbank, der Gazastreifen und der Ostteil Jerusalems verstanden werden. Unklar ist, ob sich die Formulierung »arabisches Land« auch auf Grundstücke innerhalb der Grenzen Israels von 1967 bezieht.

Zweitens ist unklar, was die Forderung nach einer völligen Gleichheit der palästinensisch-arabischen BürgerInnen Israels bedeutet. Sollen auch arabische Israelis zur Armee eingezogen werden? Soll das hochgradig zerklüftete Schulsystem mit seinen arabischen und jüdischen, zudem noch jüdisch-religiösen Schulen zugunsten eines - von mir aus auf jeden Fall zu begrüßenden Einheitsschulsystems - aufgegeben werden?

Drittens: Die Forderung nach Anerkennung eines Rückkehrrechts, das - wenn es denn wirklich ein »Recht« sein soll - auch wahrgenommen werden kann, widerspricht jeder politischen, demographischen und städtebaulichen Realität. Zudem ist es in dieser Formulierung juristisch haltlos. Sollte darunter das individuelle Recht jener Personen verstanden werden, die 1947/8 tatsächlich vertrieben wurden, ist die Forderung auf jeden Fall moralisch akzeptabel; sollte darunter jedoch die Einreise all jener Personen, die heute als »PalästinenserInnen« gelten und die - obwohl 1947/48 noch gar nicht geboren - ihre Herkunft aus Familien, die 1948 vertrieben wurden, belegen könnten, so ist die Forderung inakzeptabel. Und zwar deshalb, weil es ein völkerrechtlich anerkanntes »Recht auf Heimat« - anders als ein Recht auf Eigentum - nicht gibt und es daher auch nicht vererbbar sein kann. (Das hat die Debatte um das »Recht auf Heimat« der deutschen Vertriebenen unzweifelhaft gezeigt, ebenso wie die Debatte um neuere Konflikte, etwa auf dem Balkan. Tatsächlich entspricht völkerrechtlich - man mag das bedauern oder für weise halten - dem klaren Verbot der Aussiedlung oder Vertreibung kein Recht auf Rückkehr, schon gar nicht der Nachkommen der Vertriebenen.)

Eine Art politischer Mahnwache

In jener Debatte in den Räumen der taz aber hat Omar Barghouti wieder und wieder darauf bestanden, dass diese Anerkennung eines »Rechts auf Rückkehr« - gleichgültig ob es wahrgenommen wird oder nicht - wichtiger sei als pragmatische Lösungen, die am Ende zu einer Zwei-Staaten-Lösung führen können. Damit erweist sich Barghouti - ebenso wie Judith Butler und die meisten anderen UnterstützerInnen von BDS - gemäß der berühmten Unterscheidung Max Webers als ein Gesinnungsethiker, dem die Reinheit und Konsistenz seiner moralischen Überzeugung wichtiger ist als eine - wenn auch nur allmähliche und begrenzte - Verbesserung der Verhältnisse. Zudem agieren beide unpolitisch: Weder Barghouti noch Butler kümmern sich darum, unter der liberalen Öffentlichkeit in Israel Zustimmung zu finden; daher drängt sich der Verdacht auf, dass sie daran auch gar nicht interessiert sind. Die - um noch einmal Max Weber zu bemühen - verantwortungsethisch zu reflektierenden Folgen ihres Handelns oder ihres Nichthandelns interessieren beide, aber auch alle anderen BefürworterInnen von BDS nicht im Geringsten.

So stellt am Ende »BDS« nicht mehr dar als eine Art politischer Mahnwache. Derlei mag legitim sein, ist in Deutschland jedoch - in diesem speziellen Fall des undifferenzierten Boykotts israelischer Waren und Personen - historisch belastet. Hier jedenfalls irrt Achim Rohde, wenn er die grundsätzliche Legitimität eines Boykotts israelischer Waren dadurch zu erhärten sucht, dass er ausgerechnet auf den Boykott zionistischer Organisationen gegen arabische Produkte in den 1920er Jahren hinweist. Erstens war auch dies keine Maßnahme, die man für legitim halten würde, zweitens aber gilt angesichts des Judenboykotts der Nationalsozialisten: Auch Gesten und politische Rituale haben ihre Hermeneutik und ihre Geschichte: Käme heute jemand auf die Idee, rechtsradikale Literatur öffentlich zu verbrennen?

Barghouti und Butler erweisen sich mit ihrer Politik der Moral einer Moral der Politik unterlegen, der es nicht um das »Recht-Haben«, sondern um das »Recht-Bekommen«, also um den Erfolg einer Zwei-Staaten-Lösung geht. Deshalb ist die Entscheidung der EU, alle Subventionen für israelische Unternehmen und Institutionen in der Westbank künftig zu streichen, moralisch, politisch und rechtlich vollauf gerechtfertigt und verdient jede Unterstützung. Sie ist zudem eines jeden Antisemitismus unverdächtig, da sie auf dem weltweit anerkannten, universalistischen Völkerrecht beruht und darüber hinaus - ebenso wichtig - in der Sache zielführend ist, da sie Israels Außenhandelswirtschaft empfindlich und effektiv trifft. Was aber die Frage der möglichen, moralisch motivierten individuellen Ablehnung von in der Westbank produzierten israelischen Waren betrifft, so scheint mir die Maßnahme der Schweizer Lebensmittelkette Migros angemessen, die derlei Waren als solche kennzeichnet und es dann den KonsumentInnen überlässt, sie zu erwerben oder nicht.

Butler und Barghouti jedoch, mitsamt ihrem Beharren darauf, den Boykott solange fortzusetzen, bis Israel das Rückkehrrecht anerkennt, (also nie), sind vom Hegel der »Phänomenologie« vor mehr als 200 Jahren genau charakterisiert worden: »eine unglückliche sogenannte schöne Seele, verglimmt sie in sich, und schwindet als ein gestaltloser Dunst, der sich in Luft auflöst.«

Micha Brumlik war bis zu seiner Emeritierung Anfang 2013 Professor für Erziehungswissenschaft an der Uni Frankfurt.

Anmerkungen:

1) Die taz-Veranstaltung ist dokumentiert bei www.youtube.com/watch?v=gO_kcEpJ1cg

2) www.youtube.com/watch?v=VsTlsWZId7s

Boykott gegen Besatzung?

Am 13. März 2013 diskutierte Micha Brumlik im Berliner taz-Café mit Omar Barghouti, dem Mitbegründer der Kampagne Boycott Desinvestment Sanctions (BDS). In ak 584 kommentierte Achim Rohde die BDS-Kampagne teils zustimmend, wies aber auch auf Schwachpunkte hin. Kritik übte er auch an Micha Brumlik, der ihm hier antwortet.