Ordnung ist das halbe Leben
Geschichte Der Historiker Anton Tantner über die Überwachung vor Internet und Glasfaserkabel
Interview: Ingo Stützle
Nach und nach werden neue Details über die NSA-Überwachung bekannt. Viele Kommentare betonten vor allem die neue Qualität der Bespitzelung. Ein Blick auf die Geschichte staatlicher Herrschaft zeigt jedoch, dass viele Praktiken in anderen Formen eine lange Tradition haben und die Kontrolle der Bevölkerung oft schon da beginnt, wo sie niemand erwartet.
Staaten hatten immer schon das Interesse, die Bevölkerung zu kontrollieren und zu »vermessen«, berechnend zu machen. Was ist neu, was nicht?
Anton Tantner: Konzentriert man den Blick auf die Neuzeit, so lässt sich sagen, dass sich moderne Staaten gerade dadurch als Staaten definierten, dass sie in aufwändigen Erfassungsaktionen mittels Fragebögen, Volkszählungen, Landesvermessungen und Katastern das als chaotisch wahrgenommene »Volk«, seine Besitztümer und die Natur in Bevölkerung, Kapital und Landschaft zu transformieren versuchten. Neu ist heute wahrscheinlich das Ausmaß, wie stark und freiwillig wir uns selbst an der Produktion der Daten über uns beteiligen.
Ist nicht das eigentlich Neue die Verquickung von privatwirtschaftlich getriebener Datenerfassung für Werbezwecke oder Konsumforschung, neue Möglichkeiten der Verarbeitung und der staatliche Zugriff darauf?
Selbst für dieses Anfallen von Daten bei privaten Institutionen lassen sich historische Vorbilder finden. Ich denke hier an die Adressbüros des 17. und 18. Jahrhunderts, die der Vermittlung von Arbeit, Immobilien, Waren und Kapital dienten; auch hier gab es Ansätze, diese für obrigkeitliche Aufgaben wie zum Beispiel zur Kontrolle der Dienstboten einzusetzen. Der Unterschied liegt eher darin, dass die auf Papier basierenden Aufschreibesysteme der Vergangenheit einen viel geringeren Anteil der menschlichen Aktivitäten erfassten, als dies heute der Fall ist.
Welche Formen der Kommunikationskontrolle gab es historisch?
Was heute der NSA und wohl auch anderen Geheimdiensten ihre Backdoor zum Zugriff auf die Server der Internetkonzerne ist, waren in der Frühen Neuzeit die bei den Postämtern eingerichteten »Schwarzen Kabinette«, die den Briefverkehr überwachten und gleichermaßen private Post wie Botschafterberichte kontrollierten, im Verdachtsfall öffneten, abschrieben und die Kopien an die vorgesetzten Behörden weiterleiteten.
Doch sollten auch ganz klassische Formen der persönlichen Kontrolle nicht vernachlässigt werden. Schon lange vor den NS-Blockwarten wurden zum Beispiel im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts Hausmeister eingesetzt, um der Polizei Nachricht über »verdächtige« MieterInnen zukommen zu lassen.
Ist die IP-Adresse im Internet die neue Hausnummer und Meldepflicht?
Es brauchte Jahrhunderte, bis sich die Meldepflicht, die zunächst nur als Herrschaftsutopie überwachungssüchtiger Behörden existierte, im 19. Jahrhundert durchsetzen konnte, und auch dies keineswegs in allen Staaten. Die ab Mitte des 18. Jahrhunderts erfolgte Einführung der Hausnummern war ein wichtiger Schritt dafür; sie erfolgte zunächst keineswegs dazu, um der Bevölkerung oder Reisenden die Orientierung zu erleichtern, sondern um staatliche Aktivitäten wie Rekrutierung, Militäreinquartierung, Besteuerung und Verfolgung von Bettlern effizienter zu gestalten, weswegen es zuweilen auch zu begrenztem Widerstand dagegen kam.
Allerdings ist es wichtig zu betonen, dass eine Maßnahme wie die Hausnummerierung auch von der Bevölkerung angeeignet werden konnte, eben um nicht nur für staatliche Behörden, sondern auch für alle anderen Menschen adressierbar zu werden. An der Verdampfung allen Ständischen und Stehenden, wie Marx es formuliert, hatten auch die Hausnummern ihren Anteil. Die IP-Adressen unserer Smartphones radikalisieren diese Entwicklung noch und ermöglichen gleichermaßen neue Formen der Kontrolle und Knechtschaft wie emanzipatorische Formen der Assoziation.
Früher mussten reale Menschen suchen und identifizieren. Wie ging das vonstatten?
Es gab - und gibt - eine Reihe »menschlicher Suchmaschinen«, neben den genannten Hausmeistern, die ja nicht nur als obrigkeitliche Spione agierten, sondern auch bei der Wohnungssuche behilflich waren und Besuchern in den Mietshäusern zu den gesuchten Wohnparteien führten, beispielsweise die sogenannten Gesindezubringerinnen, die Jobs als Dienstboten und Dienstbotinnen vermittelten, »Lohnlakaien«, die Reisenden Unterkunftsmöglichkeiten verschafften und bei der Suche nach Personen und Sehenswürdigkeiten unterstützten.
Auch bei bürgerlichen wie adligen Familien angestellte Diener führten Funktionen aus, die heute mit Computerunterstützung ausgeführt werden, woran ein Begriff wie Client-Server-Architektur noch erinnert. Wie der Medienhistoriker Markus Krajewski in seinem Buch »Der Diener« zeigt, ist es kein Zufall, dass Reginald Jeeves, die vom Schriftsteller P.G. Wodehouse geschaffene Figur eines Kammerdieners, der seinem Herrn geradezu als Informationszentrale dient, Ende der 1990er Jahre namensgebend für die Suchmaschine AskJeeves wurde.
Sind die »menschlichen Suchmaschinen« genauso zwiespältig einzuschätzen wie ihre heutigen Pendants?
Ja, gerade an der bürgerlichen und adligen Paranoia gegenüber dem eigenen Dienstpersonal lässt sich dies gut zeigen: Schon zur Zeit des Wiener Kongresses, also um 1814/1815, herrschte in jenen Familien, die sich die Anstellung von Dienstboten leisten konnten, regelrecht Angst davor, von diesen bespitzelt zu werden - und sie hatten oft auch Recht!
Hat das Dienstpersonal zu »subversiven Umtrieben« beigetragen? Hast du Beispiele?
Im Falle der Bespitzelung der Herrschaften durch DienstbotInnen während des Wiener Kongresses fand diese nicht zu »subversiven« Zwecken statt, sondern zum Nutzen von Metternich und Co.
Wollte man ein etwas anders gelagertes Beispiel für das findige, subversive Agieren von als Dienstpersonal wahrgenommenen bzw. ignorierten Personen untersuchen, könnte man sich übrigens die Befreiung von Hugo Chavez aus der Hand der Putschisten 2002 näher anschauen. Soweit ich mich erinnere, berichtet Chavez im Dokumentarfilm »Chavez: Inside the Coup«, dass die Putschisten vor den Ohren der Präsidentschaftspalastangehörigen Informationen ausplauderten, die letztere dann gut verwenden konnten, eben weil das Personal für die Putschisten wie Luft war.
Wie schätzt du insgesamt die aktuelle Debatte ein?
Den Unmut und die Empörung kann ich selbstredend nachvollziehen, nicht ohne Sarkasmus sehe ich aber als Historiker, dass hier ein Quellenbestand geschaffen wird, der einer zukünftigen Geschichtswissenschaft gigantisches Material liefern kann, sofern er denn der Forschung genauso zur Verfügung gestellt wird, wie es mit Geheimarchiven früherer Jahrhunderte geschehen ist. Dass die Daten überhaupt gesammelt werden, lässt sich wohl politisch nur schwer verhindern; stattdessen könnte es zielführender sein, die Fragen zum Thema zu machen, wer ab wann berechtigt ist, darauf zuzugreifen, wie nachvollziehbar die Zugriffe darauf sind und ob die daraus gezogenen Schlussfolgerungen offengelegt werden, um ihnen gegebenenfalls öffentlich widersprechen zu können. Das ist eine vielleicht recht bescheidene Agenda, doch lassen sich mit ihr Forderungen erheben, die zumindest eine spannende Diskussion erwarten lassen, in der Aufschlussreiches über die Verfasstheit gegenwärtiger Herrschaft zu Tage tritt.
Demokratisierung der Überwachung statt deren Abschaffung? Nur damit die Historiker Material haben?
Hehe! Wäre Abschaffung der Überwachung eine Forderung, die man erheben könnte, ohne sich lächerlich zu machen, würde ich dafür plädieren. Es ist sicher weiter notwendig, gegen eigens eingeführte gesetzliche Überwachungsmaßnahmen wie zum Beispiel die Vorratsdatenspeicherung aktiv vorzugehen, von staatlichen Behörden und privaten Unternehmen vorgenommene Überwachungsmaßnahmen öffentlich zu machen, sie ins Lächerliche zu ziehen, gegebenenfalls gegen ihre Urheber zu wenden, zum Beispiel durch Leaken von Daten, sich durch Verschlüsselung zu entziehen. Ich könnte wie Heinrich Heine in »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland« argumentieren: Es geht darum, die schweigende Gewalt, bei ihm die Religion, hier und heute die Geheimdienste und Konzernzentralen zum Sprechen zu bringen - jenseits blumiger PR. Keine Ahnung, wie erfolgsversprechend das ist, aber ich denke schon, dass die betreffenden Verantwortlichen dadurch zumindest genervt werden können.
Hast du ein Beispiel dafür, dass geöffnete Geheimarchive neue Erkenntnisse geliefert haben - jenseits der Erkenntnisse, wie Nachrichtendienste staatlicher Politik zuarbeiten oder ihre eigene Agenda verfolgen?
Ein Beispiel dafür war zuletzt in der FAZ (11.6.2013) zu lesen: 1950 ließ eine Frau in einem Prager Gasthaus unabsichtlich eine Mappe mit Dokumenten liegen, diese landete beim tschechoslowakischen Geheimdienst, der die Dokumente fotografierte und die Filme archivierte; auf diese Weise blieben Briefe von Milena Jesenská, die diese 1940-1943 in Gefängnissen in Dresden und Prag sowie im Konzentrationslager Ravensbrück verfasst hat und die vielleicht sonst verloren gegangen wären, erhalten und wurden nun von einer Diplomandin im Archiv gefunden.
Sind nicht eher die Privatarchive von Google, Facebook und sonst wem das Problem? An die staatlichen Geheimarchive wird in Zukunft wohl leichter heranzukommen sein.
Das wird ohnehin eine der großen Auseinandersetzungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte werden: Ist es wünschenswert, dass so wichtige gesellschaftliche Basisfunktionen wie die Kommunikation und der Austausch unter Menschen unter Aufsicht privater, profitorientierter Unternehmen bleiben? Oder aber - und vieles spricht dafür - sollten diese nicht vergesellschaftet und nach Vorbild des öffentlich-rechtlichen Rundfunks organisiert werden?
Anton Tantner
geboren 1970, ist Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Volkszählung, der Hausnummerierung sowie der frühneuzeitlichen Adressbüros. Mehr unter www.tantner.net.