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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 586 / 17.9.2013

»Auf die Wahlen setze ich keine Hoffnung«

Chile Die Bewegung gegen das Erbe der Diktatur zwischen außerparlamentarischen und parlamentarischen Strategien

Interview: Eva Völpel

Auch über 20 Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur ist das politische System Chiles nach wie vor stark von dessen Strukturen geprägt. Schließlich haben die IdeologInnen der Diktatur ein institutionelles und politisches Gefüge hinterlassen, auf das zu Recht der Ausspruch des spanischen Diktators Francisco Franco zutrifft: »Es ist alles festgezurrt, sehr gut festgezurrt.« Über die Schwierigkeiten, diesen Status quo zu knacken, sprach ak mit dem Aktivisten Isidro Parraguez.

In Chile sind im November Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Wie sieht es angesichts dessen aus mit der Bewegung für ein kostenloses Bildungssystem oder allgemein gesagt gegen den extremen Wirtschaftsliberalismus und die Privatisierungen im Land, die ein Erbe der Militärdiktatur sind?

Isidro Parraguez: Die Bewegung ist nicht mehr so sichtbar und präsent wie noch 2011 und 2012. Zu Beginn des Jahres hat es zwar sehr große Demonstrationen mit jeweils über einer halben Million Menschen gegeben, zu denen die studentischen Organisationen aufriefen. Aber das ist abgeebbt, leider. Auch, weil etliche ehemalige StudentensprecherInnen für die im November anstehenden Parlamentswahlen kandidieren. Aber es gibt immer wieder Besetzungen. Vor allem von den Schülerinnen und Schülern, die einen anderen Ansatz verfolgen als die studentische Bewegung.

Inwiefern?

Die meisten SchülerInnen stehen den Wahlen kritisch gegenüber. Viele dürfen im November auch noch gar nicht wählen, aber sie besetzen Schulen, die als Wahllokale funktionieren. Zum Beispiel, als im Frühjahr dort die Urabstimmungen über die KandidatInnen für die Präsidentschaftswahlen stattfanden. Es gab dann eine große Debatte, ob das Militär die Schulen räumen sollte. Denn an Wahltagen übernimmt das Militär die Kontrolle über die Wahllokale, auch das ist ein Erbe der Diktatur. Letztlich hat dann die Polizei geräumt.

Die Bewegung ab 2011 ist auch bemerkenswert, weil sie eine scharfe Kritik formuliert am neoliberalen Regierungskurs des Mitte-Links-Bündnisses Concertación, das nach dem Ende der Militärdiktatur die Privatisierungen extrem vertieft hat. Jetzt tritt die Sozialistin und Ex-Präsidentin Michelle Bachelet für das geringfügig anders aufgestellte Bündnis mit dem neuen Namen Nueva Mayoría wieder an - und auf einmal herrscht auch bei den Linken wieder Hoffnung, alles könnte besser werden?

Ein Problem ist, dass die politischen Konfliktlinien in Chile immer noch sehr durch die Brille des Plebiszits von 1988 gesehen werden, als knapp die Diktatur abgewählt wurde. Wer damals gegen Pinochet gestimmt hat, gilt als links, die anderen als rechts. Die sozialen Bewegungen haben verstanden, dass das längst nicht mehr die ausschlaggebende Spaltungslinie in der Politik ist. Aber viele Linke glauben irgendwie doch, dass Bachelet ihre Kandidatin sei. Das hat auch mit Bachelets Aura zu tun, sie schwebt irgendwie immer ein Stück über den Dingen.

Die studentischen Strömungen der Autonomen Linken sowie der Kommunisten wollen den Wandel in Chile auch auf dem parlamentarischen Weg mitbestimmen. Unter anderem kandidiert die Kommunistin Camila Vallejo fürs Parlament. Manche werfen ihr Verrat vor. Zu Recht?

Nein, ich würde nicht von Verrat sprechen. Vallejo betreibt ihre Kandidatur im Rahmen des Möglichen noch mit einer gewissen Würde. Die Kommunistische Partei ist ja das erste Mal in das ehemalige Bündnis Concertación, heute Nueva Mayoría, eingebunden. Vallejo stützt also letztlich Michelle Bachelet. Aber sie hält Distanz zu ihr, und sie ist vor allem nie als offizielle Kandidatin der studentischen Bewegung aufgetreten. Das muss man ihr bei aller Kritik anrechnen.

Und die grundsätzliche Strategie?

Vallejo ist eben ein Kind der disziplinierten Kommunistischen Partei. Und die hat bereits 2010 beschlossen, die Transformationsstrategie in Chile bestehe darin, die Concertación nach links zu verschieben, indem man sich in das Bündnis begibt. Ohne sich einem Parteienbündnis anzuschließen, hat keine Partei in Chile die Chance auf Einzug in das Parlament. Auch das ist ein Erbe der Diktatur. 2010, vor dem Ausbruch der großen Proteste, war die Herangehensweise der Kommunistischen Partei noch verständlich. Aber heute weniger.

Warum?

Die SchülerInnen und StudentInnen, die erste Generation, die nicht mehr in der Diktatur aufgewachsen ist, haben 2011 die ganze Gesellschaft in Bewegung gebracht. Mit ihrem Ruf wurde das »malestar« politisiert, also das Unwohlsein weiter Teile der Bevölkerung über das Erbe der Diktatur, das bis heute unseren Alltag prägt. Plötzlich steht alles zur Debatte: die Privatisierungen des Renten-, Bildungs- und Gesundheitssystems, des Wassers, des Nahverkehrs, der Straßen, des Kupfers, die institutionell abgesicherte Vorherrschaft der ökonomischen und politischen Elite, das extrem undemokratische Wahlsystem. Überall nehmen die Menschen ihre Dinge selbst in die Hand. Soll ein Kohlekraftwerk neben ihrem Dorf gebaut werden, besetzten sie eben das Dorf. Wenn die Preise für Gas und Feuerholz im kalten Süden Chiles steigen, besetzen sie dort die Städte. Wir sind mitten in einem neuen Zyklus politischer Bewegung. Ich glaube deswegen, die Kommunistische Partei hätte sich nicht in das Bündnis mit Sozialisten und Christdemokraten begeben sollen, um sich dort neutralisieren zu lassen. Auf die Wahlen setze ich keine Hoffnung.

Was verspricht Bachelet im Falle eines Wahlsiegs?

Es ist völlig klar, dass sie nur deswegen neue Positionen bezieht, weil sie unter dem Druck der Straße steht. Sie verspricht beispielsweise kostenlose Bildung.

Und wie will sie das im Detail umsetzen?

Sie sagt lyrisch, sie wolle vorankommen auf dem Weg zu einem kostenlosen Bildungssystem. In sechs Jahren sollen 70 Prozent der Jugendlichen gratis studieren können. Aber sie sagt nicht, wie das funktionieren soll. Sprechen wir endlich über eine direkte Finanzierung der Institutionen, die dann Leute kostenlos aufnehmen können? Oder sprechen wir weiterhin über das typische chilenische Gutscheinsystem, also Subventionen, die an die Familien fließen? Dass Bachelet von 70 Prozent der Jugendlichen spricht, klingt leider sehr danach, als wolle sie das Geld wie gehabt an die Familien kanalisieren. Das wäre überhaupt kein Bruch mit dem existierenden System der Subventionierung der Nachfrage.

Wie will sie die Reform finanzieren? Nimmt sie die Forderung der sozialen Bewegungen auf, die größtenteils privatisierten Kupfervorkommen im Norden zu renationalisieren?

Nein, davon spricht sie nicht. Sie will die Unternehmenssteuern auf 25 Prozent anheben. Das ist wahrlich kein großer Betrag, aber die Rechte, die Unternehmer und die Banken beschwören unisono den Untergang Chiles.

Eine Forderung der sozialen Bewegungen ist die nach einer Reform der illegitimen Verfassung, die Diktator Augusto Pinochet 1980 in Kraft setzte. Die Verfassung sichert auf vielfältige Weise das Erbe der Diktatur ab. Sie zu knacken, wird entscheidend sein.

Ja, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Bachelet sagt, sie will eine Verfassungsreform. Sie sprach sogar davon, der Weg dahin führe über eine Verfassunggebende Versammlung jenseits des Parlaments. Aber nachdem sie als Präsidentschaftskandidatin bestätigt war, hat sie mehr und mehr Leute vom rechten Flügel der Christdemokraten in ihr Wahlkampfteam geholt, sowie Leute aus ihrer Partei und aus der alten Regierungszeit, die für die Vertiefung des Privatisierungskurses und das Arrangement mit dem Status quo standen. Das hat den Diskurs verschoben. Jetzt sagt sie, sie hofft, sie kann Reformen durchsetzen, ohne eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen.

Also mit der Rechten?

Bachelet will so viele Stimmen abräumen, dass sie auf die Stimmen der Rechten in beiden Kammern des Parlaments nicht angewiesen ist. Sie wird die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen sicher mit großem Vorsprung gewinnen. Aber die Rechte im Parlament auszuschalten, das ist in Chile mit seinem binominalen Wahlsystem (siehe Kasten) fast unmöglich. Und um entscheidende Gesetze zu ändern, die 18 sogenannten »leyes orgánicas constitucionales«, bräuchte Bachelet im Parlament eine Viersiebtel-, teilweise sogar eine Dreifünftelmehrheit. Auch da grüßt das Erbe der Diktatur. Die Rechte wird da nie mitmachen.

Um so entscheidender ist die Frage, ob die sozialen Bewegungen für die Forderung nach einer Verfassunggebenden Versammlung außerparlamentarisch Druck machen?

Heute weiß zwar jeder in Chile, was eine Verfassunggebende Versammlung ist. Aber noch gibt es keine landesweiten, kraftvollen Mobilisierungen dafür. Die Bewegungen verharren noch zu sehr auf ihrer lokalen oder sektoralen Ebene. Aber ich bin sicher, auch das wird kommen.

Für das Bündnis der Rechten soll Evelyn Matthei von der Unión Demócrata Independiente (UDI) gegen Bachelet ins Rennen gehen. Für welchen Teil der Rechten steht Matthei?

Die UDI ist die Partei von Jaime Guzmán, Verfassungsrechtler und großer ideologischer Vordenker der Diktatur. Aus der UDI rekrutierten sich die meisten Pinochet-Minister, sie ist die Partei des Putsches und der neoliberalen Schockstrategie. Mattheis Vater, General Fernando Matthei, war zu Pinochets Zeiten über zehn Jahre oberster Kommandierender der Luftwaffe und bis zum Ende der Diktatur Mitglied der Militärjunta. Er war Chef der Militärakademie, auf deren Gelände zu Zeiten der Diktatur ein Folterzentrum existierte. Man kann also sagen, alles wie immer bei der Rechten.

Und wie geht die Rechte mit dem 40. Jahrestag des Putsches um, der sich am 11. September 2013 gejährt hat?

Sie schweigt dazu. Im ganzen Land gab es unzählige Veranstaltungen und Diskussionen zum Thema, die unter anderem Menschenrechtsinitiativen organisiert haben. Die rechte Regierung gibt natürlich nicht einen Peso für solch eine Erinnerungspolitik. Aber es kommen immer wieder interessante Dinge ans Licht. So ist kürzlich Juan Emilio Cheyre als Direktor des Rats der nationalen Wahlbehörde zurückgetreten. Cheyre war zwischen 2002 und 2006, also schon zu Demokratiezeiten, oberster Kommandierender der Armee. Und nun kam heraus, dass er 1973 das Kind von zwei ermordeten Diktaturgegnern an Nonnen in einem Kloster übergeben hat. Und auch den Christdemokraten, Verbündete von Bachelet und den Kommunisten bei den Wahlen, fällt das Thema Diktatur immer wieder auf die Füße.

Inwiefern?

Kürzlich hat die Parteijugend gefordert, der »Brief der 13« solle nachträglich zur offiziellen Parteilinie erklärt werden. Das ist ein offener Brief von 13 Christdemokraten, die zwei Tage nach dem Putsch eine Rückkehr zur Demokratie forderten. Damit standen sie in der Partei allein auf weiter Flur. Als die Parteijugend jetzt diese peinliche Geschichtsfälschung forderte, haben einige der 13 öffentlich gesagt: Nein, so geht das nicht, die Christdemokraten waren mehrheitlich für den Putsch. Das Vorhaben wurde abgelehnt.

Eva Völpel ist Journalistin und war bis 2011 Redakteurin bei ak.

Isidro Parraguez

ist 23 Jahre alt und studiert in Santiago Sozialwissenschaften an der Universidad de Chile. Er war bereits 2006 in der großen Welle der Schülerproteste aktiv.

Chilenischer Aufbruch und das Erbe der Diktatur

Seit 2011 ist Chile in Aufruhr. Was mit massiven Protesten gegen das privatisierte Bildungssystem begann, hat sich ausgeweitet zu einer Bewegung, die in unterschiedlichen Zusammenschlüssen für einen neuen Gesellschaftsvertrag und das Zurückdrängen des Erbes der Militärdiktatur (1973-1989) kämpft. Kontrovers wird dabei debattiert, auf parlamentarischem Weg Veränderungen zu erreichen. Denn das binominale Wahlsystem sorgt dafür, dass der unterlegene Parteienblock mit VertreterInnen im Parlament deutlich übervorteilt wird - und die Rechte deswegen selbst dann Reformen blockieren kann, wenn sie in beiden Kammern des Parlaments nur rund ein Drittel der Sitze inne hat. Zudem hat das alte Mitte-Links-Bündnis Concertación, das Chile 20 Jahre lang regierte, den Privatisierungskurs nach dem offiziellen Ende der Diktatur entscheidend vertieft. Die Concertación tritt zu den Wahlen unter dem Namen Nueva Mayoría an. Zur Nueva Mayoría gehört neben Christdemokraten und Sozialisten sowie weiteren, kleineren Parteien zum ersten Mal auch die Kommunistische Partei.