Aufgeblättert
Ökonomiekritik queer
In dem kürzlich veröffentlichten Band knüpfen Heinz-Jürgen Voß und Salih Alexander Wolter an die Debatte über queere Ökonomiekritik an und konzentrieren sich auf zwei Aspekte: Erstens zeigen sie kontinuierlich anhand verschiedener historischer und politischer Beispiele die Verbindung von Kapitalismus, Sexismus und Rassismus auf. Zweitens betonen sie, dass es bereits seit den 1960er Jahren ein Anliegen Schwarzer Queers und Women of Color ist, auf diese Verschränkungen hinzuweisen, dass sie jedoch bis heute kaum wahrgenommen werden. Sie analysieren, wie sich verschiedene Ausschlussfaktoren (Klasse, »Rasse«, Geschlecht) gegenseitig bedingen und eine funktionale Rolle im globalen Kapitalismus spielen. Dabei nehmen sie Bezug auf marxistische Theorie und postkolonialen Feminismus, betonen aber vor allem weitreichende theoretische Erkenntnisse und politische Erfahrungen von People of Color. Die LeserInnen tauchen direkt ein in die vielschichtigen Zusammenhänge der Entstehung eines globalen Kapitalismus, historischer Kolonialisierung und aktueller Migrationspolitik sowie sich wandelnder Geschlechter- und sexueller Verhältnissen. Auf knappen 143 Seiten gelingt Voß und Wolter eine tiefgehende, wenn auch dichte Untersuchung und erkenntnisreiche Abhandlung, die aufgrund ihrer Komplexität und Fülle an Aspekten und Perspektiven ein breites Publikum anspricht und auch ein zweites und drittes Lesen nicht weniger interessant macht.
Lisa Krall
Heinz-Jürgen Voß und Salih Alexander Wolter: Queer und (Anti-)Kapitalismus. Schmetterling-Verlag, Stuttgart 2013. 160 Seiten, 12,80 EUR.
August Bebel
Am 17. August 1913 nahmen in Zürich 60.000 Menschen Abschied von August Bebel, der wie ein Kaiser beerdigt wurde. 1840 in Köln-Deutz geboren, früh Vollwaise, fand der Drechslergeselle seinen Weg in die Sozialdemokratie. Zusammen mit Wilhelm Liebknecht wurde er 1872 des Hochverrats angeklagt und zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Dass Bebel zum anerkannten Anwalt aller SozialdemokratInnen werden konnte, verdankte er nicht nur seinem Redetalent, sondern vor allem seiner Persönlichkeit: »Er verkörperte das Streben nach Gemeinschaft, Einheit und marxistischer Überzeugung«, schreibt Jürgen Schmidt. Aus heutiger Sicht ist einiges zu kritisieren, besonders sein »männlicher Feminismus«. Bebel kämpfte zwar gegen die Mehrheit der Partei für die politische Gleichberechtigung der Frau, meinte aber, dass es für Frauen »eine regulierende Vernunft nicht gibt«. Auch wenn er sich ganz der Alltagspolitik widmete, blieb ihm die Utopie der sozialistischen Gesellschaft unaufgebbar. Zugleich deutete sich bei ihm das historische Versagen der Sozialdemokratie an: die Bewilligung der Kriegskredite. Er hatte die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts kommen sehen. Trotzdem erklärte er sich 1904 bereit, »die Flinte auf die Schulter zu nehmen und unsern deutschen Boden zu verteidigen«, sollte dieser angegriffen werden. Das ist die Quadratur des Kreises: ein internationalistischer Vaterlandsverteidiger. Daran mussten Bebel und die Sozialdemokratie scheitern.
Klaus-Peter Lehmann
Jürgen Schmidt: August Bebel - Kaiser der Arbeiter. Biographie. Rotpunktverlag, Zürich 2013. 287 Seiten, 27 EUR.
Das 20. Jahrhundert
Der PapyRossa-Verlag hat ein weiteres Werk des italienischen Philosophen Domenico Losurdo in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Im Unterschied zu Losurdos dickleibigem Stalin-Buch (siehe ak 576) umfasst es gerade mal 90 kleinformatige Seiten. Nichtsdestotrotz verspricht der Verlag den LeserInnen in der Übersetzung des Titels hohen Erkenntnisgewinn: »Das 20. Jahrhundert begreifen«. Ein krasser Fall von Etikettenschwindel! Der Autor war bescheidener, als er es 1998 veröffentlichte: »Il peccato originale del Novecento« hieß das italienische Original, zu Deutsch etwa »Die Ursünde des 20. Jahrhunderts«. Als Streitschrift gegen das damals gerade erschienene »Schwarzbuch des Kommunismus« war es nützlich. Losurdo weist die von den Schwarzbuch-Herausgebern betriebene Aufrechnung von Opferzahlen zurück und kritisiert die auf Ernst Nolte zurückgehende revisionistische These vom bolschewistischen »Klassenmord«, der dem nazistischen »Rassenmord« zeitlich und logisch vorausgegangen sei. Den allermeisten LeserInnen dürfte das ebensowenig neu sein wie Losurdos Verweis auf die Ausrottung der amerikanischen UreinwohnerInnen und den Völkermord an den Herero, im Namen der Zivilisation gegen die Barbarei. Zum »Begreifen« der singulären NS-Verbrechen trägt Losurdo wenig bei. Er verunklart sie eher, wenn er schreibt, »dass das Dritte Reich im Osten seinen Far West gesucht und in den Untermenschen Osteuropas und der Sowjetunion die Indianer ausgemacht« habe.
Daniel Ernst
Domenico Losurdo: Das 20. Jahrhundert begreifen. PapyRossa Verlag, Köln 2013. 95 Seiten, 8 EUR.
ArmenierInnen
Im Vorwort ihres Buches »Die auf den Weg ohne Heimkehr getrieben wurden. Lebenswege und Todeswege von Armeniern in literarischen Quellen« schreiben die Herausgeberinnen Seyda Demirdirek und Corry Guttstadt: »Dieser Band ist kein wissenschaftliches Werk und kein Geschichtsbuch. Im Mittelpunkt steht nicht der Völkermord. Wir wollten die Armenier nicht auf ihr Schicksal als Opfer des Genozids reduzieren.« Die von ihnen ausgewählten Beiträge sind literarische, häufig autobiografisch geprägte Texte (nicht nur) armenischer AutorInnen. Ebenso wie die vielen beeindruckenden Fotos bieten sie einen Einblick in die vielfältigen Lebensrealitäten in Anatolien vor 1915. Der Titel des Buches entstand in Anlehnung an Armin T. Wegners Aufzeichnungen »Der Weg ohne Heimkehr« aus dem Jahr 1916. Wegner, deutscher Sanitätssoldat, schildert darin als Zeitzeuge das Elend armenischer Vertriebener. Auch ein Auszug aus Franz Werfels berühmtem Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh« ist in der Textsammlung enthalten. Werfel verarbeitete darin auch den »Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei«, den der deutsche protestantische Theologe Johannes Lepsius 1916 verfasst hatte. Der Bericht wurde von der deutschen Reichsregierung verboten - aus Rücksicht auf das deutsch-türkische Kriegsbündnis. Bekannt wurde er dennoch, weil Lepsius ihn an 20.000 AdressatInnen im Deutschen Reich verschickte.
Jens Renner
Seyda Demirdirek und Corry Guttstadt (Hg.): Die auf den Weg ohne Heimkehr getrieben wurden. Lebenswege und Todeswege von Armeniern in literarischen Quellen. Zu beziehen über die Landeszentrale für politische Bildung Hamburg. 161 Seiten, 2 EUR plus Versand.