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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 586 / 17.9.2013

Die Melodie des Dr. Martin Luther King

Geschichte Die US-Bürgerrechtsbewegung politisierte die Gegenkulturen und rückte Musik ins Zentrum einer historischen Umwälzung

Von Max Lill

Am 28. August erreichte das Gedenkspektakel in den USA seinen Höhepunkt: Großdemonstrationen, staatstragende Ansprachen und unzählige »I-have-a-dream«-Zitate zelebrierten den 50. Jahrestag des »Marsches auf Washington für Arbeit und Freiheit«, bei dem Martin Luther King seine berühmte Rede hielt. Auch wenn die massive Inszenierung abschrecken mag: Die Ereignisse des Jahres 1963 sind in ihrer Bedeutung für eine globale Geschichte der Emanzipation kaum zu überschätzen.

Zugleich berühren sie einige der Fragen nach linker Geschichtspolitik, die jüngst auch in ak diskutiert wurden, etwa die, ob »wir« tatsächlich »keine linken Mythen brauchen« (so das AutorInnenkollektiv Loukanikos in ak 578) - oder was an ihre Stelle treten sollte. Ich will die Aufmerksamkeit auf Formen des Erinnerns lenken, die eine kollektive Erfahrung auch jenseits von Faktenwissen und intellektuellem Diskurs vergegenwärtigen. Denn für das Ringen um Hegemonie ist die Auseinandersetzung mit kulturellen Zeugnissen vergangener Kämpfe im Alltag, auch auf einer emotionalen und sinnlichen Ebene, womöglich wichtiger als der vom linken wissenschaftlichen Prekariat aufgetürmte Berg an klugen, aber kaum gelesenen Forschungsarbeiten.

Der Kampf für Bürgerrechte

Die US-Bürgerrechtsbewegung beendete, ausgehend vom Busboykott in Montgomery 1955/56, die Friedhofsruhe der McCarthy-Ära. (1) Nach knapp zehn Jahren erreichte sie eine grundlegende Reform der rassistischen Segregations- und Wahlgesetzgebung. Doch die Ziele der Bewegung reichten weiter: Sie forderte eine radikale Umverteilung von Macht und Reichtum, die Überwindung der (post-)kolonialen Strukturen und die Anerkennung der Würde und Integrität eines jeden Menschen. Auch der heute so konsensfähige »träumende« Martin Luther King bekannte sich gegenüber Vertrauten zum demokratischen Sozialismus und bemühte sich um Vermittlung gegenüber den ab Mitte des Jahrzehnts erstarkenden militant-separatistischen Spektren der Black-Power-Bewegung. (2)

Die Kämpfe in den USA waren Teil des globalen Aufschwungs antikolonialer Bewegungen, die allein im Jahr 1960 17 afrikanische Staaten in die Unabhängigkeit führten. Die Bürgerrechtsbewegung markierte ihr Vordringen ins Zentrum des kapitalistischen Weltsystems. Sie politisierte dort die neuen jugendlichen Gegenkulturen und bereitete den Boden für die erste große Studentenrevolte: das Free Speech Movement 1964 in Berkeley. Damit leitete die Bürgerrechtsbewegung die Legitimationskrise des fordistischen Kapitalismus mit ein - bevor sie im tragischen Schlüsseljahr 1968 in Gewalt erstickt wurde.

Zunächst prägten vor allem schwarze Kirchengemeinden in den Südstaaten und eine christliche Befreiungstheologie die Bewegung. Ihr politischer Durchbruch gelang im Frühjahr 1963 in Birmingham (Alabama) mithilfe von Aktionen des zivilen Ungehorsams. Friedliche Protestmärsche und Sit-ins provozierten sehr bewusst eine Eskalation der rassistischen Gewalt, um öffentlichen Druck aufzubauen und die bislang untätige Regierung Kennedy/Johnson zum Handeln zu zwingen. Ein wichtiges Mittel, um den Gewaltexzessen von Polizei und weißem Mob auch psychisch standzuhalten, war musikalisch-spiritueller Natur: Das gemeinsame Singen der Freedom Songs, die aus der Tradition des Gospel und der Spirituals hervorgegangen waren, beschwor im Angesicht der Gewalt ein uraltes Band der Solidarität und Zuversicht.

Trotz dieser religiös geprägten Symbolik hatte sich die Basis der Bewegung bereits seit etwa 1960 zu säkularen Milieus hin geöffnet: Das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC/»Snick«), das unter dem Einfluss der Bürgerrechtsaktivistin Ella Baker die direkten Aktionen vorantrieb, hatte die Segregation auch in den eigenen Organisationsstrukturen aufgebrochen, genauso wie die männliche Dominanz an der Spitze. Dass es zunehmend gelang, auch junge Menschen aus den liberalen weißen Bildungsmilieus zu mobilisieren, war der kulturellen Strahlkraft der Bewegung zu verdanken. Diese verdichtete sich vor allem im Folk-Revival, das im Juli 1963 seinen vorläufigen Höhepunkt beim Festival in Newport erreichte.

Musik als Bewegungsgedächtnis

Folkmusik war in den USA seit der Jahrhundertwende Teil der Geschichte der Linken. Zu Beginn des Revivals hatte neben der Pflege lokaler Stile die Wiederentdeckung der Folktradition der Arbeiterbewegung im Vordergrund gestanden. Diese reichte von der anarchistisch geprägten, antirassistischen Gewerkschaft der International Workers of the World (»Wobblies«) in den 1910er und 1920er Jahren über die Kämpfe der Weltwirtschaftskrise und des New Deal bis zu Organisationen wie der People's Songs Incorporated. Nachdem die Folkbewegung wegen ihrer Nähe zu sozialistischen Positionen in den 1950er Jahren aus dem öffentlichen Leben verdrängt worden war, entdeckte angesichts der (vorläufigen) Kommerzialisierung des Rock'n'Roll nun eine jüngere Generation diese Musik für sich - und mit ihr einen ganzen Kosmos an Erzählungen aus dem Alltagsleben und den Klassenkämpfen der arbeitenden Bevölkerung, ein kollektives Gedächtnis der sozialen Bewegungen.

In den Kaffeehäusern des Greenwich Village in Manhattan und anderer Zentren der studentischen Bohème verbanden sich die sozialkritischen Texte des Folk mit den Resten der literarischen Beatkultur, ihrer existenzialistischen Poesie des Unbewussten. Das Folk-Revival war allerdings integrativer als die am avantgardistischen Jazz orientierten Beatniks. Das gilt nicht nur angesichts der einfacheren musikalischen Techniken, die ein massenhaftes Musizieren von AmateurInnen ermöglichten. Auch die sozialen Erfahrungen, die in den Liedern zur Sprache kamen, waren breiter. Neben starken Frauen wie Odetta, Joan Baez oder Nina Simone erfuhren ältere schwarze BluesmusikerInnen aus dem ländlich geprägten Süden eine späte Anerkennung. Die Erinnerung reichte bis zurück zu den Worksongs, deren Synchronisation mit den Rhythmen der Feldarbeit seit den Zeiten der Sklaverei eine ganz unmittelbare Überlebenstechnik dargestellt hatte.

Gestus der Wahrhaftigkeit

Doch auch Zeitspezifisches und sehr Persönliches prägte die Musik. Sie bot das ästhetische Repertoire, um individuelle Entfremdungserfahrungen öffentlich darzustellen und zu reflektieren. Die stille Konzentration der Folk-Songs, ihre Betonung des individuellen gesanglichen Vortrags und der intuitiven Variation in Timing, Dynamik und Phrasierung waren hierfür entscheidend. Die Musik gab einer radikalen Subjektivität eine Stimme, die gegen den Konformitätsdruck der fordistischen Ära aufbegehrte und die schon bald zum Motor der (dann rockmusikalisch untermalten) Jugendrevolte werden sollte.

Die Begegnung mit der Bürgerrechtsbewegung war hierfür elementar: Sängerinnen wie die SNCC-Aktivistin Bernice Johnson Reagon trugen die Freedom Songs in einem Gestus unbedingter Wahrhaftigkeit vor. Das inspirierte auch den aufsteigenden Stern des Folk-Revivals, den jungen Bob Dylan. Dieser schrieb 1962/63 zahlreiche antirassistische Songs, deren Mischung aus intimer Nähe, realistischer Reportage und zeitloser Metaphorik regelrechte Wellen der Erschütterung durch die Kulturwelt jagte.

Dabei stammte der 22-Jährige aus einer konventionellen jüdischen Familie des Mittelstands und hatte sich kaum je für Politik interessiert. Er war aufgewachsen in einer Kleinstadt im hohen Norden der USA, wo es praktisch keine Schwarzen gab. Dennoch wurde er (zu seinem Leidwesen) von vielen als »Sprecher der Bewegung« und geradezu prophetische Erscheinung wahrgenommen. Entsprechend war seine Kunst starken identitären Zuschreibungen und Erwartungen ausgesetzt. Dylans Übergang zur Rockmusik und einer düster-surrealistischen Lyrik löste 1965 in Newport heftige Proteste aus und gilt als symbolisches Ende des Folk-Revivals.

Zur gleichen Zeit standen die schwarzen Viertel von Los Angeles und Chicago in Flammen. Die Strategie der Gewaltlosigkeit verlor an Boden, schwarzer und weißer Protest liefen wieder auseinander. Black Power wurde nun vor allem mit den harten und schnellen Rhythmen des zeitgenössischen Soul identifiziert, während die am schwarzen Rhythm and Blues der 1940er Jahre anknüpfende Rockmusik die Gegenkultur der Hippies und die militanten Studentenproteste der Jahre 1967/68 musikalisch begleitete.

Bewegung ohne Mythos?

Keine Frage: Das Folk-Revival und auch die Bürgerrechtsbewegung waren durchdrungen von Mythen und verklärter Erinnerung. Auch die idealisierende Bezugnahme der studentischen Gegenkulturen auf afroamerikanisch geprägte Stile blieb oftmals in rassistischen Stereotypen gefangen. Entscheidend war dennoch, dass die symbolischen Grenzziehungen zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Schwarz und Weiß, Oben und Unten ins Rutschen gerieten und sich soziale Räume der Wahrnehmung und Auseinandersetzung öffneten. Die performativen Strategien des »Black is Beautiful«, die etwa den Soul der folgenden Jahre prägten, bauten darauf auf und attackierten unter den Bedingungen des politischen Backlash die rassistischen Imaginationen der Mehrheitsgesellschaft.

An Figuren wie Dylan und King wird zugleich deutlich, in welchem Ausmaß Charisma, Geniekult und Religion die Bürgerrechtsbewegung und das Folk-Revival prägten. Nur war deren Wirkung deshalb keineswegs einseitig regressiv. Sie war vielmehr von zentraler Bedeutung für die Mobilisierungsdynamik dieser Bewegungen.

Mit einer bloßen Ablehnung »linker Mythen« ist es daher nicht getan. Der Mythos ist eine Form der Verarbeitung kollektiver Erfahrungen, die unser rationales Denken überfordern. Er wird besonders in Zeiten des Umbruchs wachgerufen. Und solange wir im Kapitalismus leben, entfalten die Verhältnisse ihre Wirkung meist »hinter unserem Rücken«, wie es so schön heißt. Epochale Bewegungen kommen daher vermutlich auch heute nicht ganz ohne Mythen aus.

Sollten wir Mythen also wieder nähren, statt sie zu hinterfragen? Natürlich nicht. Aber wir sollten sie auch nicht auf verstaubte Rituale und objektive historische Fehlurteile reduzieren. Der Mythos war in der Geschichte oft eng verbunden mit dem, was die SoziologInnen Luc Boltanski und Éve Ciapello in ihrem Werk »Der neue Geist des Kapitalismus« als »Künstlerkritik« bezeichnen. Im Gegensatz zur Kritik an materiellen sozialen Ungerechtigkeiten speist sich die Künstlerkritik aus der Erfahrung des Sinnverlustes in einer Gesellschaft, die dazu tendiert, jede Lebensäußerung in eine Ware zu verwandeln. Sie artikuliert Bedürfnisse nach Autonomie, Selbstentfaltung und persönlicher Aufrichtigkeit, in den 1960er Jahren wichtige inhaltliche Quellen der Gegenkultur. Wir sollten daher der Wirkungs- und Erklärungsmacht des Mythos nachspüren - und das nicht nur mit dem Kopf. Denn vielleicht ist die akademische Rationalisierungswut, diese lähmende Angst, einmal nicht alles umfassend reflektiert zu haben, auch Teil der Mauer um die linksintellektuellen Rückzugsorte - und am Ende nur eine Form, um Komplexität abzuwehren.

Von Max Lill erscheint in Kürze im Verlag des Archivs der Jugendkulturen Berlin das Buch »The whole wide world is watchin'. Musik und Jugendprotest in den 1960er Jahren - Bob Dylan und The Grateful Dead«.

Anmerkungen:

1) Am 1. Dezember 1955 weigerte sich in Montgomery (Alabama) Rosa Parks, ihren Sitzplatz im Bus Nr. 2857 für einen weißen Fahrgast zu räumen. Schwarze Fahrgäste durften nur bestimmte Sitzreihen nutzen und mussten Weißen gegebenenfalls ihren Platz zur Verfügung stellen. Zu ihrer Gerichtsverhandlung einige Tage später organisierte das Women's Political Council einen eintägigen Busboykott durch die schwarze Bevölkerung Montgomerys, anschließend wurde die Aktion bis zur Aufhebung der Segregation in den öffentlichen Bussen Ende 1956 fortgesetzt. Der Montgomery Busboykott gilt als erster großer Erfolg der US-Bürgerrechtsbewegung.

2) Siehe Albert Scharenberg: Martin Luther King. Ein biografisches Porträt, Freiburg 2011.