Das ist kein Punk, das war es nie
Kultur Eine Kampfschrift gegen die Entpolitisierung der deutschen Gegenwartsliteratur
Von Ute Meyer
Zu den spannenden Neuerscheinungen des Herbstes gehört der im Verbrecher Verlag veröffentlichte Sammelband »Diskurspogo« von Enno Stahl. Er enthält eine Auswahl von Essays und Aufsätzen, die der Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Journalist in den letzten zehn Jahren veröffentlicht hat. Die Sammlung ist eine Art Kampfschrift gegen die Entpolitisierung der deutschen Gegenwartsliteratur.
Stahl geht dabei auf angenehme Art und Weise konfrontativ vor, indem er sich beispielhaft mit einzelnen ProtagonistInnen und deren Texten und Rollen im Literaturbetrieb auseinandersetzt. Die Vermengung von Provokation und Analyse konkreter Texte macht »Diskurspogo« zu einem großen Lesevergnügen. Das Buch ruft zugleich Widerspruch und Zustimmung hervor, so dass man sich als LeserIn unvermeidbar positionieren muss.
Stahl analysiert Aspekte sozialer Wirklichkeit und gesellschaftlicher Veränderungen, die seiner Ansicht nach in den aktuellen Literaturproduktionen eine viel zu kleine Rolle spielen. Er fordert mehr zeitgenössisches literarisches Engagement und fragt sich, warum etwa die Welt der Arbeit und erst recht das Thema Arbeitslosigkeit so gut wie nie vorkommen. Sollte man sich mit Maxim Billers zynischer Bemerkung zufrieden geben, Arbeitslose würden sowieso nicht lesen und könnten somit auch kein Thema für die Literatur darstellen? Wohl kaum. Enno Stahl fordert eine politische Haltung und etwas mehr von Bartlebys »I would prefer not to« als Antwort auf die Vermarktungsinteressen des Literaturbetriebs.
Eine wichtige Rolle bei der Entpolitisierung der Öffentlichkeit schreibt Stahl den 68ern zu. Er nimmt aber auch die auf die 68er folgende Punk-Generation unter die Lupe. In seinem Essay »Bolz, Hörisch, Kittler und Winkels tanzen Pogo - erst im Ratinger Hof, dann deutschlandweit« schildert er beispielhafte Karrieren im Wissenschafts- und Kulturbetrieb, die ihren Anfang in der Düsseldorfer Punkszene nahmen. Stahls These: »Was damals rein körperlich-sportiv begann, setzte sich später auf einer ganz anderen Ebene, der öffentlichen und wissenschaftlichen Rede, deutschlandweit fort - der Diskurspogo.«
Die steilste Laufbahn als Profiteur eben dieses Diskurspogos legte der Medienwissenschaftler Norbert Bolz hin, dem Stahl eine Kampfansage erteilt: »Wer Menschen nur noch als Zahl und Bezahlfunktionen betrachtet, wer die Feminisierung der Öffentlichkeit bejammert, aufgrund derer man keinen ordentlichen Krieg mehr führen könne, dazu noch auf das traditionelle Rollenbild pocht, den muss man bekämpfen. Das ist kein Punk, das war es nie.«
Der Artikel über »Realismus und literarische Analyse« bezieht die europaweiten wirtschaftlichen Veränderungsprozesse der letzten Jahre mit ein und stellt fest, dass diese sich kaum in der Gegenwartsliteratur niederschlagen. Wenn soziale Schicksale den Stoff für Romane liefern, dann meistens in individualisierter Form »und nie als gesellschaftlich kollektiv bearbeitet«.
Die Darstellung von Individualschicksalen führt laut Stahl zu noch mehr Entpolitisierung und kann daher nur als »Pseudo-Realismus« verstanden werden: »Richtig wäre zu zeigen, wie Personen angesichts des Drucks ihrer gesellschaftlichen Determiniertheit, also jenes Schicksals, das sie mit vielen anderen teilen, Individualität, eine eigene Identität, für sich zurückgewinnen können.« Der Essay gibt einen Überblick über Textproduktionen der letzten Jahre, die den Anspruch verfolgen, gesellschaftliche Wirklichkeit nicht nur abzubilden, sondern auch zu deuten, wie zum Beispiel der Roman »Gegen die Welt« von Jan Brandt.
Die von Stahl als »diskursrelevant« angeführten Literaturbeispiele orientieren sich allerdings zu sehr an der Frage, ob mit dem jeweiligen Text ein »überdauerndes« Werk erschaffen wird oder nicht, und schenken so den »großen Würfen« am meisten Beachtung. Literarische Diskursinterventionen können in ihrer zeitlichen Wirkmächtigkeit aber auch kürzer gedacht werden. Interessant gewesen wären in diesem Zusammenhang etwa die »Wassertropfen«-Konzeptionen des (leider in Vergessenheit geratenen) Autors Franz Carl Weiskopf.
Ute Meyer ist Buchhändlerin und Redakteurin beim Magazin Opak.
Enno Stahl: Diskurspogo. Über Literatur und Gesellschaft. Verbrecher Verlag, Berlin 2013. 288 Seiten, 18 EUR.