Meinung
Die Massenmörder von Lampedusa
Zugegeben, ich habe Schwierigkeiten, den verabredeten »Kommentar« zur »Flüchtlingstragödie« vor Lampedusa zu verfassen. Vor allem deshalb, weil mein überwiegendes Gefühl in diesem Zusammenhang Ekel ist.
Ekelhaft finde ich folgendes: Am 3. Oktober - dem Tag der deutschen Einheit, der so etwas wie der Startschuss war für eine Entwicklung, die erst AusländerInnen in Deutschland zu Vogelfreien erklärte, dann das Asylrecht verstümmelte und dieses schließlich zum Modell für die gesamte EU machte, bis deren Außengrenzen für Flüchtlinge nur noch unter Einsatz des Lebens zu überwinden waren - an diesem 3. Oktober 2013 also kenterte ein Boot mit etwa 500 Passagieren überwiegend aus Eritrea und Somalia vor der italienischen Insel Lampedusa. 155 überlebten, gegen sie wird man standardmäßig wegen illegaler Einreise ermitteln, es drohen Bußgelder bis 5.000 Euro. 311 weitere (Stand 10. Oktober) wurden tot geborgen. Sie können sich freuen, denn man hat ihnen rückwirkend die italienische Staatsbürgerschaft zuerkannt. So kommen sie in den Genuss eines europäischen Begräbnisses, das ist ja auch etwas Schönes. Und die übrigen 20 oder 40 oder 50 werden noch »vermisst«. Alles in allem also eine »Tragödie«, ein »schreckliches Unglück«. Und über dieses »Unglück« vergießen nun dieselben PolitikerInnen ein paar Tage große Tränen, die ebenjene Zustände geschaffen haben, die dazu führten - und weiter führen werden, wie jeder weiß.
Die Massenmörder beweinen ihre Opfer.
Interessant ist nun, dass diese Massenmörder in den Medien, deren MitarbeiterInnen zurzeit sehr erregt und bestürzt sind, nicht als Massenmörder bezeichnet werden. Die »Verbrecher«, die »die Menschen in den Tod führen« und denen man dringend »das Handwerk legen muss«, sind vielmehr - so sagen es Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich und Frontex-Chef Ralf Göbel, und so bereiten es dann MedienmitarbeiterInnen mehr oder weniger kritisch auf - vor allem jene skrupellosen »Schlepper«, die das »Leid der Menschen ausnutzen«, sie auf überfüllte Boote pferchen (gegen Geld!) und dann in See stechen. Kaltblütige Geschäftemacher, zum Fürchten. Und natürlich ist man sich weitgehend einig, dass auch in der Politik ein »Umdenken« oder »Umsteuern« stattfinden muss. Doch obwohl sich am 8. Oktober 2013, fünf Tage nach der »Tragödie«, die europäischen Massenmörder (»Innenminister«) in Luxemburg versammelten, um besagte Tränen über die einkalkulierten Opfer ihrer Politik zu vergießen und sodann weitere tödliche Überwachungs- und Abschottungswerkzeuge wie das System Eurosur auf den Weg zu bringen, werden die TeilnehmerInnen dieses Massenmördertreffens eben nicht »Massenmörder« genannt. Warum eigentlich nicht?
Weil das dann doch etwas übers Ziel hinausgeschossen wäre? Oder verharmlosend (bei kaltblütigen Massenmördern denkt man in Deutschland ja immer gleich an, nun ja, Sie wissen schon)? Oder weil diese Massenmörder demokratisch gewählt wurden? Oder vielleicht weil sie aus Bayern, der Lombardei, Lissabon oder einem Vorort von Hamburg stammen und nicht aus Sirte (wie der ehemalige libysche Massenmörder Muammar al-Gaddafi), Monrovia (wie der in Den Haag verurteilte Kriegsverbrecher - somit Massenmörder - und Ex-Präsident Liberias, Charles Taylor) oder Damaskus (wie der syrische Massenmörderpräsident Baschar al-Assad)?
Diese Weigerung, an europäische Massenmörder ähnliche Maßstäbe anzulegen wie an außereuropäische und sie folglich auch Massenmörder zu nennen, die man als eine Art begriffliche Komplizenschaft bezeichnen könnte, bewirkt einen zusätzlichen recht starken Ekel, der es mir schwer macht, sachlich zu bleiben. Wobei vielleicht die Frage erlaubt ist, was in diesem Zusammenhang genau »sachlich« bedeutet. Also inwiefern man etwa das Handeln der versammelten EU-Massenmörder am 8. Oktober in Luxemburg in ein bestimmtes abgestuftes Verhältnis setzen sollte zu den Taten historischer Massenmörder oder denen der durch demokratische Verfahren und politische Kontrollmechanismen weitgehend unbehelligt agierenden Massenmörder jener Länder zum Beispiel, aus denen die Mutigsten und finanziell auch ausreichend Ausgestatteten (besser ist natürlich, man nennt sie die »Verzweifeltsten«, aber dazu gleich) dann übers Mittelmeer nach Europa »fliehen«. Was genau hofft man, sich dadurch zu ersparen, dass man statt der sachlich korrekten Bezeichnung »Massenmörder« den sachlicher klingenden Titel »Innenminister« verwendet?
Ekelhaft ist drittens, dass selbst im Tod die Opfer der europäischen Flüchtlingspolitik noch einen identitätsstiftenden Nutzen für Europa haben. Als Flüchtlinge, TeilnehmerInnen einer großen Elendsbewegung, bleiben sie das gesichtslose, leidgeprüfte, dunkle Gegenbild zum aufgeklärten, entwickelten, demokratischen Europa und bestätigen uns letztlich, wie viel zivilisierter, individueller und vielschichtiger wir EuropäerInnen mit unseren Europäerproblemen sind. Das funktioniert auch deshalb gut, weil es uns die Auseinandersetzung mit der einzelnen Person erspart. So bleibt zum Beispiel Yonas (der jetzt tot ist) ein »Flüchtling«, das schafft Abstand zwischen ihm und uns. Dabei hätte er ebenso gut ein Freund oder Vereinskollege oder nerviger Nachbar sein können.
Zumindest auf den Erinnerungsfotos der Toten, die einige Medien veröffentlichten, kann man das zum Glück noch erkennen: ein junger Mann, eine junge Frau, ein Gruppenbild, einer sieht nett aus, ein anderer ziemlich bescheuert - in etwa so wie die Leute auf dem Jahrgangsfotos der eigenen Schule, die super Leute neben den größten Deppen. Auch das geht unter im Geschwafel von Hans-Peter Friedrich und seinen Massenmörder-Friedensnobelpreisträgerkollegen über »Armutseinwanderer« die Verhältnisse in den »Herkunftsländern«, über skrupellose »Schlepperbanden« und all das. Ebenso aber in den mitfühlenden Reden über die »armen Leute«, die in ihrem Leben »nur Angst, Hunger und Elend kennengelernt« haben, wie sie auch die kritisch interessierte Öffentlichkeit gern schwingt. Denn auch diese Reden verschmelzen die einzelnen Toten (und Überlebenden) zur gesichtslosen Masse, dem Gegenstück zum europäischen Wir, und umgehen jede Auseinandersetzung mit der Person. Zum Beispiel mit Efrem, dem Idioten, der trotzdem nicht im Mittelmeer hätte sterben sollen, oder mit Daniel, dem alten Streber, dem man so eine Aktion niemals zugetraut hätte und der es nun schon nach Oslo schaffen wird, er ist ja nicht blöd.
Wenn überhaupt ist dies also ein Plädoyer dafür, in Bezug auf die EU-InnenministerInnen und ihre KomplizInnen künftig von Massenmördern zu sprechen. Und in Bezug auf die Flüchtlinge, die es nach Europa schaffen oder bei dem Versuch sterben, nicht nur von Leid und Elend, sondern auch von ihren Plänen, Vorlieben und Macken, von all den Eigenschaften also, die sie zu den vollständigen Personen machen, die sie sind - oder waren, bis sie ihren Mördern zum Opfer fielen.
Jan Ole Arps