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ak logo ak-Sonderbeilage: Critical Whiteness. Debatte um antirassistische Politik und nicht diskriminierende Sprache / Herbst 2013

Editorial

Von der ak-Redaktion

Wenn in Deutschland über Übernahmeperspektiven für Auszubildende, die Überwachung von Fußballfans oder das Warten junger Familien auf einen Kita-Platz berichtet wird, dann sind die Personen, die man sich zu den Geschichten vorstellt, ganz selbstverständlich und ohne, dass es extra gesagt werden müsste: weiß. Anderenfalls wäre von Auszubildenden »mit Migrationshintergrund«, »schwarzen Fußballfans« oder »türkischstämmigen Familien« die Rede. Die Norm ist weiß, und das hat Folgen, etwa wenn es darum geht, wie rassistische Ausschlüsse entstehen. Denn im Prinzip liegt der Ausschluss bereits in der Existenz der weißen Norm begründet: Sie benötigt ein Gegenbild, ein (andersfarbiges) »Anderes«, um sich selbst als Norm zu erschaffen. Indem sie zur universellen Perspektive wird, macht sie schwarze Menschen (oder »People of Color«, PoC) zugleich zur Ausnahme; die weiße Norm »rassifiziert« gewissermaßen alle anderen - und erscheint dabei selbst auf wundersame Weise als nicht-rassifiziert. Dieser Umstand stellt auch das Sprechen über Rassismus vor Schwierigkeiten, denn Rassismus scheint an die Existenz schwarzer Menschen gebunden. Dass Rassismus seinen Ursprung in der gesellschaftlichen Norm des Weißseins hat, kann man dabei leicht übersehen.

So könnte man grob die Grundüberlegungen der Weißseinsforschung oder Critical Whiteness umreißen, die sich seit gut 20 Jahren vor allem in den USA als wissenschaftliche Perspektive etabliert hat. Die unter dem Oberbegriff versammelten Ansätze drehen den Spieß um und rücken das Weißsein in den Mittelpunkt der Betrachtung. Indem sie über die Profiteure von Rassismus sprechen, statt über die rassistisch Diskriminierten, problematisieren sie die weiße Norm und markieren das Unmarkierte. Sie wenden sich auf diese Weise gegen die Normalisierung von Weißsein, gegen die »Farbenblindheit«, und zwingen diejenigen, die es gewohnt sind, sich selbst als »Leute« zu sehen, zur Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass sie »Weiße« sind.

In der antirassistischen und queerpolitischen Linken erfreuen sich Critical-Whiteness-Konzepte seit geraumer Zeit wachsender Beliebtheit. Doch im letzten Jahr ist ein heftiger Streit in der antirassistischen Szene entbrannt, der sich auch in ak niedergeschlagen hat. Was ist geschehen?

Juli 2012. Auf dem No Border Camp in Köln wird diskutiert, ob und wie weiße AktivistInnen zu einem antirassistischen Kampf beitragen können. Einige TeilnehmerInnen fordern unter Berufung auf Konzepte der Critical Whiteness, weiße AktivistInnen sollten sich auf die Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Rassismus konzentrieren und ansonsten die Politik der von Rassismus betroffenen »People of Color« unterstützen. Der Konflikt eskaliert, eine politische Verständigung ist nicht mehr möglich.

Unter dem Titel »Decolorise it« veröffentlichen Juliane Karakayali, Vassilis Tsianos, Serhat Karakayali und Aida Ibrahim kurz darauf eine ausführliche Kritik an diesen Praktiken (Seite 5) und kritisieren auch die Rezeption von Critical Whiteness in der antirassistischen Szene. Der Text sorgt für scharfe Reaktionen in einigen Blogs; die Debatte in ak endet nach einer Replik von Artur Dugalski, Carolina Lara und Malik Hamsa (Seite 9) und zwei Beiträgen von Lann Hornscheidt (Seite 19) und Hannah Wettig (Seite 22) zu Möglichkeiten und Grenzen politisch korrekter Sprache vorerst.

Anlass, sie ein knappes Jahr später wieder aufzunehmen, waren die hitzige öffentliche Diskussion über rassistische Ausdrücke in Kinderbüchern im Frühjahr 2013 und der Eklat bei einer taz-Podiumsveranstaltung zu diskriminierender Sprache (»Meine Damen und Herren, liebe N-Wörter und Innen«). Auch diese Veranstaltung hatte ein heftiges Nachspiel im Netz, bei dem sich die VertreterInnen der unterschiedlichen Positionen mit harten Bandagen gegenseitig attackierten.

Vielleicht begünstigen die öffentlich inszenierte Veranstaltung und die Auseinandersetzung via Blogbeitrag und Zeitungsartikel den Modus des Schlagabtauschs und erschweren eine echte Diskussion. Angeregt von Mitgliedern der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) haben wir deshalb im Juni TeilnehmerInnen der Diskussion eingeladen, um zu klären, ob eine Verständigung über die politischen Differenzen möglich ist (Seite 11).

Mit dieser Sonderbeilage wollen wir die Debatte noch einmal gesammelt zugänglich und nachvollziehbar machen, in der Hoffnung, damit Material für eine sachliche und solidarische Auseinandersetzung zur Verfügung zu stellen. Denn dass die Kontroverse darüber, wessen Stimme zu welchen Themen gehört werden soll und wie andere als weiße Perspektiven repräsentiert werden können, so heftig geführt wird, ist nicht nur eine Frage des politischen Stils. Es spiegelt auch die veränderte Zusammensetzung der bundesdeutschen Gesellschaft und der Linken hierzulande wider, die längst nicht mehr so weiß sind wie noch vor 20 Jahren.

Als Ergänzung der bisher in ak erschienenen Beiträge haben wir noch drei weitere in dieses Heft aufgenommen. Auf Seite 24 setzt Sharon Dodua Otoo sich mit der Frage auseinander, ob und wie Sprache die Gesellschaft verändern kann - und bezieht damit eine Gegenposition zum Beitrag von Hannah Wettig. Außerhalb der ak-Kontroverse präsentieren wir einen Text von May Zeidani Yufanyi aus der antirassistischen Zeitschrift ZAG, in dem sie auf die Macht der einzigen weißen Geschichte eingeht und erörtert, wie Gegenstrategien aussehen könnten (Seite 27). Eine gegensätzliche Position nimmt der Artikel von Adolph Reed Jr. aus dem Jahr 2009 ein (Seite 31). Er fordert mit Blick auf den US-Antirassismus, den Blick nicht nur auf Diskurse und Fragen der Repräsentation zu richten, sondern Rassismus wieder stärker als Klassenfrage zu begreifen.

Wir wünschen anregende Lektüre und hoffen auf produktive Diskussionen.