Titelseite ak
Linksnet.de
ak bei Diaspora *
ak bei facebook
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 588 / 19.11.2013

Mit dem Lastwagen ins Krankenhaus

International Entwürdigende Zustände im russischen Gesundheitswesen

Von Ulrich Heyden

Modernität und Rückschritt gehen in Russland Hand in Hand. Vor 20 Jahren wurde man von den schlecht bezahlten Verkäuferinnen in den Supermärkten oft missmutig abgefertigt. Im neuen Moskau kann sich das keine Verkäuferin mehr leisten. Der Kunde ist im neuen Moskau König. Die meisten Supermärkte und sogar einige Buchläden im Zentrum haben durchgehend geöffnet. Niedrige Arbeitslöhne machen es möglich. Die Leistung der VerkäuferInnen unterliegt einer strengen Kontrolle. Das merkt man, wenn man Probleme mit seinem Internet-Anschluss hat. Ohne lange Warteschleife bekommt man per Telefon schnell sachgerechte Beratung. Damit ist das Telefongespräch mit dem Provider jedoch noch nicht beendet. Man hört im Anschluss an die Beratung plötzlich eine freundliche Frauenstimme, die einen fragt, wie man mit der Qualität und der Schnelligkeit der Beratung zufrieden war. Dafür gibt es eine bestimmte Punktzahl.

»Effektivierung« und »Modernisierung« ist in Russland zur Manie geworden. Das Abitur wird seit 2003 per Multiple-Choice-Liste abgelegt. Schulen, wissenschaftliche Institute und Polikliniken werden zusammengelegt. Stellen von ÄrztInnen und wissenschaftlichen MitarbeiterInnen werden abgebaut, Gehälter gekürzt. An die Stelle von muffeligen Sowjetbürokraten sind »effektive Manager« getreten. Vor denen haben die RussInnen schon fast so viel Angst wie vor den verhassten alten Bürokraten.

Ohne Schmiergeld geht nichts

Insbesondere in der russischen Provinz haben die »Effektivierungsmaßnahmen« im medizinischen Bereich drastische Auswirkungen. Über Stellenkürzungen beschwerten sich 70 MitarbeiterInnen der Ersten Hilfe auf der fernöstlichen Halbinsel Kamtschatka in einem Brief an Wladimir Putin. In der Ersten Hilfe des Bezirks gebe es 20 Buchhalter und Ökonomen, aber nur sieben Notfall-ÄrztInnen, heißt es in dem Brief, den die Nowaja Gaseta auszugsweise veröffentlichte. Weil es in der Bezirkshauptstadt Petropawlowsk-Kamtschatski keinen einzigen Krankenwagen mehr gibt, müssten Schwerverletzte mit Jeeps und sogar Lastwagen ins Krankenhaus gefahren werden.

Kostenlose medizinische Versorgung in Russland? Das war einmal. Mit dem Ende der Sowjetunion wurde dieses Recht schrittweise ausgehöhlt. Bis auf eine kleine Gruppe von Beschäftigten ausländischer Unternehmen und Spitzenbeamten, die zu guten Konditionen privatversichert sind, ist der Großteil der Russen bei einer staatlichen Pflichtversicherung Mitglied, die theoretisch alle Behandlungskosten übernimmt. Faktisch ist es aber schon seit den 1990er Jahren so, dass die schlecht bezahlten ÄrztInnen in den Polikliniken praktisch für alle ärztlichen Leistungen kleine oder große Schmiergelder verlangen.

Der Behandlungsservice in den Polikliniken ist unvorstellbar niedrig. Um ein EKG machen zu lassen, muss man sich als staatlich Versicherter in eine Warteschlange einreihen, um sich auf eine Warte-Liste setzen zu lassen. Dann muss man wieder tagelang warten, bis endlich das EKG gemacht wird. Um eine Wartezeit von drei Wochen zu umgehen und sofort in die Sprechstunde vorgelassen zu werden, zahlen in Moskau viele BürgerInnen ein Schmiergeld von 35 Euro.

Solche entwürdigenden Zustände tragen dazu bei, dass viele RussInnen mit dem Arztbesuch warten, bis sie ernstlich krank sind. Kein Wunder, dass bei diesen Verhältnissen die Lebenserwartung der Männer bei 62,8 Jahren und der Frauen bei 74 Jahren liegt, also weit unter dem westeuropäischen Durchschnitt.

Wie im Bildungsbereich, wo Schulen und Institute zusammengelegt werden, so will die russische Regierung auch im Gesundheitsbereich durch Zusammenlegungen Kosten sparen. Die Polikliniken in den Moskauer Stadtbezirken etwa sollen in Vierergruppen zusammengefasst werden. Zwar schafft die Regierung teure medizinische Apparaturen aus dem Ausland an. Doch gleichzeitig wird das Gesundheitsbudget reduziert, und die kostenlosen Grundleistungen in den Polikliniken werden eingeschränkt. Dabei wäre eine breitangelegte Gesundheitsaufklärung vonnöten. Denn Gesundheitsvorsorge ist bei den meisten RussInnen unbekannt; sie ist Sache der gebildeten Bevölkerungsschichten. Man lebt »heute«. Das bedeutet oft Raubbau am eigenen Körper. Wenn eine größere Operation ansteht, dann bleibt den Menschen in Russland nichts anderes übrig, als dafür mit Gespartem und bei Freunden oder Verwandten geliehenem Geld zu zahlen.

Wie tief das russische Gesundheitssystem gesunken ist, sieht man an den immer wiederkehrenden Aufrufen russischer Zeitungen und Radiostationen für Geldsammlungen zugunsten von Kindern, die an einer schweren Krebserkrankung oder einer anderen schweren Krankheit leiden und denen nur noch eine Spezialklinik in Deutschland, den USA oder Israel helfen kann. Dass es in Russland für bestimmte Krankheiten keine hochwertige Behandlung gibt, ist allgemein bekannt, weshalb sich niemand mehr über diese Geldsammlungen wundert.

Die Leidtragenden von unsozialen Reformen und Mittelkürzungen sind nicht nur die PatientInnen, sondern auch die ÄrztInnen. Wie viel Unzufriedenheit sich beim medizinischen Personal angestaut hat, zeigte sich im April bei einem Hungerstreik von Kinderärztinnen im Kinderkrankenhaus Nr. 9 in der Industriestadt Ischewsk, vier Flugstunden östlich von Moskau. Auslöser der Protestaktion waren Gehaltskürzungen und die alljährliche Grippewelle im Frühjahr. Es kam vor, dass sie in der dreistündigen, vormittäglichen Sprechstunde bis zu 40 Kinder untersuchen musste, erklärte Kinderärztin Elina Ostanina gegenüber dem Autor.

Kinderärztinnen streiken

Doch das war noch nicht alles, was die KinderärztInnen von Ischewsk wütend machte. Der von Putin 2006 - zusätzlich zum Ärztegrundgehalt von 90 Euro im Monat - eingeführte »Präsidentenzuschlag« in Höhe von 230 Euro wurde von der Krankenhausverwaltung seit Januar als Disziplinierungsinstrument eingesetzt. »Wenn wir zum Beispiel nicht - wie vorgeschrieben - alle Kinder impften, bekamen wir einen Gehaltsabzug. Dabei haben die Eltern das Recht, die Impfung der Kinder zu verweigern«, berichtet Elina. Auch wer nicht alle wartenden Kinder behandelte, bekam einen Gehaltsabzug. »Doch wie soll eine normale Untersuchung möglich sein, wenn man statt der nötigen 20 Minuten wegen der Menge der Kinder nur noch fünf Minuten Zeit hat?!«, empört sich Elina. Während der Grippezeit ist ein Arbeitstag von 14 Stunden keine Seltenheit.

Was die Ärztinnen außerdem wütend machte: Zusätzlich zu den Gehaltssanktionen hatte die Krankenhausverwaltung schon 2006 die Zahl der Kinder, die jeder Arzt des Kinderkrankenhauses Nr. 9 betreuen muss, von 600 auf 800 erhöht. Elina Ostanina ist 42 Jahr alt und seit 15 Jahren im Dienst. Sie hat selbst zwei Kinder. Doch um die kann sie sich kaum kümmern. Ihre Tätigkeit im Kinderkrankenhaus bezeichnet sie unumwunden als »Sklavenarbeit«.

Die Wut entlud sich dann im April dieses Jahres in einem dreiwöchigen Bummelstreik. Das heißt, es wurde strikt nach Vorschrift gearbeitet. Die Ärztinnen nahmen sich für jedes Kind nicht fünf, sondern 20 Minuten Zeit. So konnten am Tag statt der sonst üblichen 50 nur 20 Kinder untersucht werden. Die Forderungen der Streikenden waren: Überprüfung der Arbeitsnormen und eine Verdreifachung des monatlichen Grundgehalts.

Eine Welle der Solidarität

Organisiert wurde der »italienische Streik«, wie die Ärztinnen ihre Protestaktion nannten, von der im Dezember 2012 gegründeten, unabhängigen Gewerkschaft für medizinisches Personal, Dejstwije (Aktion). An dem Streik beteiligten sich zwar nur acht Ärztinnen aus den Kinderkrankenhäusern Nr. 8 und Nr. 9. Trotzdem verfehlte die Aktion ihre Wirkung nicht. Als drei Kinderärztinnen in einer Privatwohnung auch noch einen Hungerstreik begannen und nur noch Wasser tranken, wurde die Protestaktion zum russlandweiten Medienereignis. Unabhängige Gewerkschaften organisierten in anderen Städten Solidaritätskundgebungen. Auch Eltern im Einzugsbereich des Kinderkrankenhauses Nr. 9 solidarisierten sich. »Wir haben bei unserer Aktion damals sehr viel Unterstützung bekommen«, sagt Elina. Das war auch wichtig, denn die Krankenhausleitung versuchte die AktivistInnen einzuschüchtern und zu bedrohen und tut dies bis heute.

Mit ihrer Aktion hatten die Ärztinnen einen wunden Punkt getroffen. Auch der bekannteste russische Kinderarzt, Leonid Roschal, solidarisierte sich mit den Frauen von Ischewsk. Und überraschend wurden die drei hungerstreikenden Kinderärztinnen - unter ihnen auch Elina - Ende April von dem Talk-Show-Moderator Andrej Makarow zu der vom Ersten Kanal ausgestrahlten Sendung »Freiheit und Gerechtigkeit« eingeladen. In der Sendung lobte Roschal, die Frauen aus Ischewsk hätten »ein Eitergeschwür geöffnet«, bat sie aber gleichzeitig inständig, ihren Hungerstreik abzubrechen.

Die Sendung wirkte wie ein Donnerschlag. Es war das erste Mal, dass mit ÄrztInnen aus der Provinz in einer landesweit ausgestrahlten Fernsehsendung über Unterbezahlung und Überbelastung gesprochen wurde und Verantwortliche genannt wurden: skrupellose Beamte, die Arbeitsnormen durchsetzen, die den Arbeitsbestimmungen widersprechen, und Beamte, die in den Regionen das Geld aus Moskau in ihre eigenen Taschen fließen lassen, was alle wissen, was aber nur selten von JournalistInnen aufgedeckt wird.

Und was hat die Aktion der Kinderärztinnen außer viel Publicity gebracht? »Immerhin konnten wir eine Gehaltserhöhung von 15 Prozent erreichen«, sagt Elina. Weil aber die Hauptforderungen - Überprüfung der Arbeitsnormen und Einhaltung des gesetzlichen 7,8-Stunden-Tages - nicht erfüllt wurden, wollen die KinderärztInnen bald wieder »Dienst nach Vorschrift« machen. Elina Ostanina ist sich sicher, dass sich am nächsten Bummelstreik mehr ÄrztInnen beteiligen.

Ulrich Heyden lebt seit 1993 in Moskau. Er berichtet von dort regelmäßig für mehrere Zeitungen.