Hegemonie vollendet
Deutschland Nach der Bundestagswahl gibt es keine Mehrheit links von der Union
Von Georg Fülberth
Die Bedeutung der Bundestagswahl vom 22. September 2013 ist noch nicht voll ermessen: Ihr Ausgang bedeutet die volle Herstellung bürgerlicher Hegemonie in Deutschland. Dass gleichzeitig die FDP aus dem Parlament ausschied, sollte nicht darüber hinwegtäuschen. Ihre Steuersenkungs- und Entstaatlichungsrhetorik hatte schon keine Chance mehr, als sie 2009 in die Regierung eintrat. Die Krise von 2008, Bankenrettungen und Konjunkturpakete wiesen in eine andere Richtung: zurück zur Konrad-Adenauer-CDU von 1957, in dem Jahr, als sie die absolute Mehrheit gewann. Damals wie heute ist die Union nicht nur wieder zur Hauptpartei des bürgerlichen Lagers geworden, sondern sie dominiert auch die Opposition, die - lassen wir die Linkspartei einen Moment beiseite - sich um Anpassung bemüht wie die SPD seit Godesberg.
Wie die CDU zur Sozialstaatspartei wurde
Ab 1957 wurde die CDU deutlicher als vorher auch zur Sozialstaatspartei. Das hatte zwar schon 1951 mit der Montanmitbestimmung, die Adenauer gegen den Wirtschaftsminister Ludwig Erhard durchsetzte, begonnen, aber jetzt kamen: die Große Rentenreform, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Schlechtwetter- und Wintergeld für Bauarbeiter und 1962 das Bundessozialhilfegesetz. Die Union breitete sich auf einem Terrain aus, das die SPD als ihre eigene Domäne ansah. Da die CDU an der Regierung war, vermochte sie sogar praktisch mehr für die Wählerschichten zu tun, die die sozialdemokratische Konkurrenz für sich reklamierte (die ihrerseits in den von ihr regierten Bundesländern einen ähnlichen Vorteil hatte).
Linksentwicklung der politischen Mitte
Im Bund konnte die SPD den von CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwürfen nur noch hinterherwinken. Umso mehr musste sie darauf bedacht sein, dort anzugreifen, wo Adenauer inzwischen Schwächen zeigte: in der Deutschlandpolitik. Die sozialpolitisch im Rahmen des kapitalistisch Möglichen durchaus engagierte Union (und sei es auch in erster Linie aus Gründen der Systemauseinandersetzung) war im Übergang zu den 1960er Jahren außenpolitisch gelähmt, rüstungspolitisch (Franz Josef Strauß' Wunsch nach Atomwaffen) gefährlich, familien- und geschlechterpolitisch reaktionär, und sie deckte alte Nazis. Deshalb wurde der Ausdruck »CDU-Staat« zum Schimpfwort.
Indem Angela Merkel ihrer Partei eine Modernisierung verordnet, sucht sie die offenen Flanken, die die Union vor fünfzig Jahren zeigte, zu vermeiden. Wenn sie dabei die SPD in eine Große Koalition zu holen vermag, kann ihr das nur recht sein. Die FDP ist sie gewiss ganz gern losgeworden.
Im Hintergrund mag die Alternative für Deutschland (AfD) lauern. Falls sich der Euro doch noch als Zeitbombe erweisen sollte, könnte die Vereinheitlichung des bürgerlichen Lagers auf die beiden Unionsparteien ebenso wieder gefährdet sein wie die angebliche oder tatsächliche »Sozialdemokratisierung« der CDU. Bis dahin aber gilt: wenn es eine Linksentwicklung in der Bundesrepublik gegeben hat, dann in der Mitte, bei den Konservativen, die sich unter Merkel inzwischen gar nicht mehr so sehr verbiegen müssen. Die Einführung irgendeiner Lohnuntergrenze - ob die nun Mindestlohn heißt oder nicht - lässt sich sogar gut mit Austeritätspolitik und Schuldenbremse vereinbaren: gibt es dadurch vielleicht weniger Aufstocker, werden die öffentlichen Kassen geschont.
Der Sache nach gibt es kein rot-rot-grünes Projekt
Die Festigung und Verbreiterung der Mitte hat allerdings nichts mit einer Linkswende der Bundespolitik im Ganzen zu tun. Die Parteien, von denen sich manche eine rot-rot-grüne Perspektive imaginierten, sind geschlagen: zwar hat die SPD Stimmen und Prozente hinzugewonnen, aber der Abstand zur Union ist noch größer geworden. Grüne und Linkspartei haben stark verloren. Dass Rot-Rot-Grün zwischen 2009 und 2013 von 45,6 auf 42,7 Prozent sank, ist weniger relevant als die Tatsache, dass ein solches Projekt der Sache nach nie bestand. Die parallele Forderung der drei Parteien nach einer umverteilenden Steuerpolitik war nur ein Wahlkampfereignis, von dem Grüne und SPD nach dem 22. September abrücken konnten, ohne dass es die Substanz ihrer Politik verändert hätte.
Mochten die Unternehmerverbände offiziell noch auf Schwarz-Gelb gesetzt haben, so können sie mit einer Großen Koalition ebenfalls gut leben. Ähnlich verhielten sich die Gewerkschaften: Ihr Ruf nach einem Politikwechsel wurde mit einer Favorisierung von Rot-Grün (ohne Linkspartei) verwechselt, eine Rückkehr der SPD aus der Opposition als Juniorpartnerin in die Regierung kann auch als ein solcher verstanden werden.
Exportorientierung der Gewerkschaften
Wer behauptet, es habe sich am 22. September eine Mehrheit links von der Union ergeben, beweist damit nur, dass er/sie einen Taschenrechner zu bedienen versteht, um Äpfel und Birnen zu addieren. Der Graben, der zwei der angeblichen Wunschpartner vom Dritten trennt, wird auch darin sichtbar, dass SPD und Grüne eine Option (und auch, je nach Zeitpunkt, eine Chance) für ein Bündnis mit CDU/CSU haben, der Linkspartei aber diese Möglichkeit nicht offen steht. Man wird in diesem Fall durchaus den Umfragen Glauben schenken dürfen, wonach es keine Mehrheit für Rot-Rot-Grün gibt, wohl aber für Schwarz-Rot. Dies ist das Ergebnis des 22. September. Das Stimmenverhältnis zwischen SPD und Union zeigt zugleich, dass die neue Große Koalition mit ihren Vorgängerinnen von 1966-1969 und 2005-2009 nicht viel gemeinsam hat. Aus Augenhöhe wurde ein klares Führungsmandat für die Union.
Diese Lage ist Ergebnis einer nationalen und internationalen Konstellation: Deutschland als führendes Exportland, dessen Außenwirtschaftsorientierung von den beiden großen Industriegewerkschaften IG Metall und IG Bergbau, Chemie, Energie mitgetragen wird, in dem auch die Ärmeren sich gegenüber ihren Klassenbrüdern und -schwestern als bevorzugt verstehen.
Linkspartei bleibt abhängige Variable der SPD
Birger Scholz hat in der Sozialistischen Zeitung (SoZ) darauf hingewiesen, dass nach Auskunft des Socio-Oekonomischen Panels (SOEP) unter Merkel die Ungleichheit in Deutschland, die unter Schröder gestiegen war, seit 2006 leicht sinkt. Die CSU wird von einem kapitalloyalen Ministerpräsidenten geführt, der aus einer Arbeiterfamilie stammt und lange Vorsitzender der Christlich-Sozialen Arbeitnehmerschaft war. Das wird honoriert.
Die Partei DIE LINKE hat 27,7 Prozent ihres bisherigen Bestandes verloren und zeigte sich wenigstens am Wahlabend überglücklich, weil sie nicht aus dem Bundestag geflogen ist. Im Osten erlitt sie hohe Einbußen zugunsten der AfD. Da verschwinden wohl bisherige regionale Selbstverständlichkeiten, auf die die Linkspartei meinte, bauen zu können. Dass sie im Westen über fünf Prozent hatte und sogar wieder in den Hessischen Landtag kam, mag eine vorweggenommene Reaktion auf eine absehbare Große Koalition gewesen sein. Insofern bleibt DIE LINKE eine abhängige Variable der SPD ohne ausreichende eigene Stammwählerschaft. Ihr Einfluss unter Ostdeutschen sinkt, sie ist auf Flugsandstimmen angewiesen, die manchmal kommen, manchmal ausbleiben.
Wer in einer solchen Situation von linker Strategie und Oppositonsführerschaft spricht, zahlt einen Euro in die Schwätzerkasse - 49,41 Prozent der Bundestagsopposition, die Grünen, werden sich nämlich von Gregor Gysi nicht führen lassen wollen.
Georg Fülberth war bis 2004 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Marburg. Er schrieb in ak 557 über die neue Bürgerlichkeit.