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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 589 / 17.12.2013

Nationales Wir-Gefühl

1914 Der Kriegskurs der SPD war mehr als ein Verrat von Prinzipien

Von Ralf Hoffrogge

Warum stimmen Linke für den Krieg? Die Grünen taten es 1999 beim Kosovokrieg, die italienischen KommunistInnen zerbrachen an der Abstimmung über den Afghanistaneinsatz, die antideutsche Linke mobilisierte 2003 gegen die deutsche Friedensbewegung und für den Irak-Krieg. Die Voraussetzungen könnten unterschiedlicher nicht sein, doch eins ist gemeinsam: Parteinahme im Krieg der Herrschenden bedeutete immer eine Niederlage für linke Bewegungen, brachte Spaltungen, Hass und Verratsvorwürfe mit sich. Urbild dieser Konflikte ist der August 1914, als Gewerkschaften und SPD in Deutschland durch die Unterstützung des Ersten Weltkrieges von vaterlandslosen Gesellen zu Patrioten wurden. Ein Blick zurück auf eine Entscheidung, die mehr war als ein Verrat von Prinzipien.

Die sozialistische Bewegung in Deutschland war am Vorabend des Weltkrieges nicht nur die größte, sie galt auch als die »marxistischste« der Welt. Ihre Partei, die Sozialdemokratie, hatte trotz zwölf Jahren Verbot dem »eisernen Kanzler« Otto von Bismarck getrotzt; nach seinem Sturz 1890 erlebte sie einen unaufhaltsamen Aufstieg. Der SPD-Chefideologe Karl Kautsky galt als Nachfolger von Marx und Engels, SozialistInnen überall auf der Welt lasen seine Schriften. In der 1889 gegründeten Sozialistischen Internationale war die SPD stärkste Partei, Internationalismus ihr Markenzeichen.

Kautsky kritisierte 1907 auf dem internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart die halbherzige Haltung der niederländischen SozialistInnen zum Kolonialismus. Denn im Zeitalter des Imperialismus waren sich alle Parteien der Internationale der Gefahr eines großen Krieges bewusst; 1912 verabschiedeten sie mit großer Symbolkraft eine Friedensresolution gegen das Wettrüsten ihrer Regierungen. Noch während der Julikrise 1914 gab es in Deutschland große Antikriegsdemonstrationen, doch nur Tage später erfolgte der radikale Schwenk: Am 2. August erklärten die Gewerkschaften die Einstellung aller Streiks, am 4. August gab die SPD im Reichstag ihr Ja zu den Kriegskrediten zur Finanzierung des Weltkrieges. Sogar Karl Liebknecht stimmte beim ersten Mal dafür - aus Fraktionsdisziplin.

Disziplin im Arbeiterheer

Einheit und Disziplin wurden in der deutschen Arbeiterbewegung immer wieder beschworen, nicht selten mit militärischen Metaphern. Die Idee des Parteisoldaten stammt nicht von Lenin, sondern aus der SPD: Bereits im Erfurter Programm von 1891 traten Bourgeoisie und Arbeiterklasse als »feindliche Heerlager« auf, jede Wahl galt der Partei als »Heerschau« ihrer proletarischen Armee. Diese Rhetorik symbolisierte Stärke, unausgesprochen gleichgesetzt mit Männlichkeit.

Begründet wurde die militärische Disziplin mit dem einheitlichen Handeln der Arbeiterklasse. Allein machen sie dich ein, das hatten die deutschen ArbeiterInnen lernen müssen in der niedergeschlagenen Revolution 1848 und den Spaltungen zwischen den Richtungen von August Bebel und Ferdinand Lassalle in den 1860ern. Ein Erfolgserlebnis war dagegen der geeinte Widerstand gegen Bismarck 20 Jahre später. Auch dem linken Flügel der Sozialdemokratie um Rosa Luxemburg war die Einheit der Partei heilig, der Konflikt zwischen den Strömungen drehte sich nie um eine Spaltung, sondern stets um den richtigen Kurs der Organisation. Die ReformistInnen wollten sie nur parlamentarisch einsetzen, die Linken wollten die Partei auf die Straße führen. Das Zentrum um Kautsky und Bebel wich beidem aus. Diese Passivität führte in die Katastrophe von 1914. Ursache der Ohnmacht war nicht Verrat oder mangelnde Prinzipienfestigkeit der Führung - dahinter standen strukturelle Gründe.

Fern der großen Politik ist ein Blick auf die Basis wichtig, wenn man auf das Jahr 1914 schaut. Die Arbeitenden jener Zeit waren weder Arbeitskraftunternehmer noch Angestellte mit Eigenheim oder umworbene Wahlbürger. Das Kaiserreich behandelte sie wie Dreck, sie waren in allen Lebensbereichen der Willkür und Verachtung ausgesetzt. Im Betrieb hatten sie keine Rechte, als DienstbotInnen wurden sie von den Herrschaften herumkommandiert, in den »Volksschulen« erhielten Abeiterkinder nur eine rudimentäre und national-christlich gefärbte Bildung.

Insbesondere das Bildungsprivileg des Bürgertums erzeugte in der Arbeiterschaft nicht immer Klassenhass, sondern auch einen kulturellen Minderwertigkeitskomplex. Autodidaktische Bildung genoss daher hohen Stellenwert in allen proletarischen Vereinen. Der Maßstab für Kultur und Bildung blieb dabei stets das Bürgertum, auch in sozialistischen Lesegruppen wurden Goethe und Schiller gelesen: Die Beherrschten wollten den Herrschenden ähnlich sein. Ein Ergebnis dieser kulturellen Hegemonie waren Antifeminismus und bürgerliche Familienideale. Aber auch auf ökonomischem Gebiet blieb sie nicht ohne Wirkung. Der gewerkschaftlich vermittelte Aufstieg der Befehlsempfänger zum Verhandlungspartner schmeichelte dem »lesenden Arbeiter«, hier gab es Anerkennung in der Gegenwart statt Vertröstung auf den sozialistischen Zukunftsstaat.

Gewerkschaften auf dem Weg nach oben

Die Gewerkschaften wurden nach dem Sieg über Bismarck Opfer ihres eigenen Erfolges. Anfang der 1890er Jahre waren sie noch klein und oft hilflos gegen die Unternehmerwillkür. Dafür hatten sie Kampferfahrung in der Illegalität, waren taktisch flexibel und lösten Konflikte in einer Kultur lokaler Versammlungsdemokratie. Nur 15 Jahre später hatte sich die Lage völlig verändert: Mit zwei Millionen Mitgliedern, 33 Millionen Goldmark Kassenbeständen und einem riesigen Verwaltungs- und Presseapparat gab es viel zu verlieren. Ein neues Verbot wollte man nicht riskieren, der Anpassungsdruck stieg.

Gleichzeitig bestätigten die Erfahrungen der Gewerkschaften den Grundsatz »Einigkeit macht stark«. Seit 1890 hatten die Unternehmer Arbeitgeberverbände gegründet, um durch Aussperrungen die Streikkassen zu sprengen. Die Arbeitenden reagierten mit Konzentration: Aus der örtlichen Streikkasse wurde ein überregionaler Fonds mit mehr Geld, über dessen Verwendung jedoch nicht mehr die lokale Vollversammlung, sondern der Gewerkschaftsvorstand entschied. Die erzwungene Zentralisierung brachte neue Mitglieder, Streikerfolge und Lohnerhöhungen. Die Erfolge beförderten zugleich Integrationsprozesse: Es gab Tarifverträge mit selbst auferlegter Friedenspflicht, Posten und Mitsprache in Gewerbegerichten und Krankenkassen. Die Sozialdemokratie als Partei wurde zwar vom Staat geächtet. Die Gegentendenz - die bei Tarifverhandlungen, Sozialversicherung und Arbeitsrecht erfahrene Anerkennung durch Staat und Unternehmer - bedeutete noch keine ideologisch verklärte »Sozialpartnerschaft«, sondern allenfalls eine Vorstufe, in der die Gewerkschaften eine Verrechtlichung der Klassenkämpfe nicht als Behinderung, sondern als Erfolg wahrnahmen.

Während in anderen Ländern Integrationsprozesse über Parlamente und Koalitionen liefen, verschob sich dies in Preußen-Deutschland auf den ökonomischen Bereich, denn hier gab es weder einen demokratischen Staat noch linksliberale Koalitionspartner. Hier löst sich das Rätsel vom Nebeneinander von Ohnmacht und Radikalität: Die deutsche Sozialdemokratie konnte im Reichstag oder auf internationalen Kongressen stets prinzipienfest auftreten, denn sie verpasste nichts mit ihrer Fundamentalopposition. Die Minister wurden am Ende doch vom Kaiser ernannt und nicht vom Parlament gewählt.

Durch Evolution zur Revolution?

Schon in Süddeutschland sah dies anders aus, und in Frankreich erst recht. In Deutschland dagegen zeigten sich unerwartete Überschneidungen zwischen Ordnungsstaat und den Sozialismusvorstellungen der Arbeiterbewegung. Bismarcks Sozialgesetze ab 1883, die Einführung von Renten-, Kranken- und Unfallversicherung, konnte der Bewegung nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Sie formten aber deren Erwartungen, wie der Sozialismus auszusehen hatte: als Reform von oben durch den Staat.

Die theoretische Ebene, auf der sich das Nebeneinander aus Organisationserfolg und politischer Ohnmacht spiegelte, war der von Karl Kautsky geprägte »orthodoxe Marxismus«. Insbesondere Kautskys historische Schriften sind bis heute lesenswert, doch ihnen eigentümlich ist Fortschrittsoptimismus und eine ökonomische Verkürzung, die den Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis unklar ließ. Kautsky und auch der Parteiführer August Bebel betonten die Kapitalkonzentration, die immer neue Krisen hervorbrachte und eines Tages zum »großen Kladderadatsch« führen würde - dem Zusammenbruch des Kapitalismus. Eine Dosis Darwin durfte dabei nicht fehlen - das eigene Selbstbild war eine Erfolgsgeschichte von der Evolution der Wirbeltiere über den aufrechten Gang hinein in den sozialistischen Zukunftsstaat.

Es wäre jedoch falsch, Theorie als alleinige Ursache politischer Blockade zu sehen, denn Kautskys Marxismus war Produkt der historischen Situation. Eine Theorie, die von der Unausweichlichkeit des Fortschritts ausging, gedieh gut in einer Partei, die stetig wuchs, einen Wahlerfolg nach dem anderen einheimste, aber den politischen Rahmen ihrer Existenz nicht zu sprengen vermochte, obwohl sie ständig von Revolution redete. Auch Kautsky verteidigte in seinem Werk »Der Weg zur Macht« aus dem Jahr 1909 die Notwendigkeit der Revolution. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Parteivorstand das Buch kurz nach Erscheinen aus dem Verkehr zog: Man fürchtete einen Hochverratsprozess.

Der Weg zur Macht schien der Sozialdemokratie durch ein Gesetz versperrt. Es ging ihr wie Kafkas Mann vom Lande in der Erzählung »Vor dem Gesetz«: Nur die eigene Tatenlosigkeit verhinderte, dass der Landmann zu seinem Recht kam. Die bittere Ironie war jedoch für die ZeitgenossInnen nicht erkennbar, und erst im August 1914 zersplitterte die Illusion der eigenen Stärke. SPD und Gewerkschaften unterstützten mit der Berufung auf die »Landesverteidigung« den Kriegskurs, in anderen europäischen Ländern geschah dasselbe. Die Internationale war zerbrochen, der Sozialismus erlitt seine erste globale Niederlage.

»Industrielle Suprematie« - kämpfen für den Standort

Indem sie den Krieg als Verteidigung gegen einen Angriff von außen darstellte, gelang es der deutschen Regierung, die Arbeiterbewegung zu überrumpeln und ein nationales Wir-Gefühl herzustellen - woran Bismarck einst gescheitert war. Die »vaterlandslosen Gesellen« wurden ideologisch umarmt und gleichzeitig materiell eingebunden. Mit dem Vaterländischen Hilfsdienstgesetz von 1916 wurden Gewerkschaften erstmals als Verhandlungspartner anerkannt. Sie bekamen neben Staat und Unternehmern einen Sitz in den Kriegsausschüssen der Rüstungsindustrie.

Die Geburtsstunde der deutschen »Sozialpartnerschaft« war ein Kompromiss von Arbeitskraft und Kapital, um die Mordmaschinerie des Ersten Weltkriegs am Laufen zu halten. Denn ohne aktive Mitarbeit der Arbeitenden hätte die deutsche Kriegswirtschaft unmöglich durchhalten können. Manch ein Gewerkschaftsführer sprach nun Klartext: Ein deutscher Sieg würde »industrielle Suprematie« gegenüber dem Britischen Empire bedeuten. Der Krieg war ein Wirtschaftskrieg um Exportmärkte, und damals wie heute war den Schulterschluss mit dem heimischen Kapital eine Strategie zur Verteidigung des eigenen Wohlstands im globalen Wettbewerb.

Diese Strategie ging zunächst katastrophal schief - die Kriegsniederlage führte 1918 direkt in die Novemberrevolution. Doch die blieb Episode. Die Räte von 1918 wurden in der Weimarer Republik zu Betriebsräten degradiert, ihre Kompetenzen ähnelten denen der Kriegsausschüsse von 1916. Auch die Ideologie dahinter war dieselbe: gemeinsames Handeln von Arbeitskraft und Kapital im Kampf um den Weltmarkt. Die Konzepte von Sozialpartnerschaft und Exportnationalismus sind bis heute Konstanten deutscher Innenpolitik. Der Rückblick auf 1914 zeigt: Eine linke Auseinandersetzung mit Nationalismus kann nicht nur Ideologiekritik betreiben; sie muss auch die materiellen Versprechen angreifen, die das nationale Wir-Gefühl plausibel machen.

Ralf Hoffrogge ist Historiker. In der Reihe theorie.org (Schmetterling Verlag) erschien sein Buch »Sozialismus und Arbeiterbewegung«, auf dem auch dieser Artikel beruht.