Aufgeblättert
Prekarität und Freiheit
Der Begriff der »Prekarität« ist in aller Munde. Ein neuer Sammelband beleuchtet das komplizierte Verhältnis von Prekarität und Freiheit aus einer feministischen Perspektive - mit einem Schwerpunkt auf der Arbeit an Universitäten und - meist freiberuflich - im Kulturbereich. Das Buch versteht sich als eine Zwischenbilanz der Erfahrungen aus der zehnjährigen Geschichte des österreichischen Verbandes feministischer Wissenschafterinnen (VfW). Wohl auch deshalb liegt ein Schwerpunkt auf der Frage, wie (nicht nur) Frauen der Individualisierung eines deregulierten Arbeitsmarktes etwas entgegensetzen können, indem sie sich kollektiv organisieren. Denn die individualisierte, neoliberale Arbeiterin zeichnet sich aus durch ein »Handeln der Selbstunterwerfung, das von Angst begleitet ist« (Isabell Lorey) und das gemeinsames politisches Handeln erschwert. Nicht zuletzt bringt diese Form der Selbstreg(ul)ierung es mit sich, dass ein Scheitern an den Ansprüchen der entgrenzten Arbeitswelt als persönlicher Misserfolg gilt. Demgegenüber zeigt Beatrix Bender in ihrem Beitrag, wie die Forderung nach einer »Work-Life-Balance« als moderne Verhaltensmoral fungiert, »um das individuelle Humankapital-Potenzial bestmöglich auszuschöpfen«. Auch wenn die Beiträge zum Teil sehr dicht geschrieben sind, sind sie aufgrund ihrer Kürze gut »verdaulich« und liefern vielfältige Inspirationen nicht nur für feministische Wissenschaftlerinnen.
Sarah Lempp
Dagmar Fink u.a. (Hg.): Prekarität und Freiheit? Feministische Wissenschaft, Kulturkritik und Selbstorganisation. Westfälisches Dampfboot, Münster 2013. 281 Seiten, 19,90 EUR.
Casa Pound Italia
Seit Jahren pilgern Scharen deutscher Neonazis nach Rom. Voller Neid blicken sie auf das, was ihre italienischen GesinnungsgenossInnen dort aufgebaut haben. Vor zehn Jahren, im Dezember 2003, besetzten Gianluca Iannone und seine MitstreiterInnen unweit des Hauptbahnhofes Roma Termini ein Haus, aus dem eine Art rechtes Sozialzentrum wurde. Kneipen, Läden und Büros kamen hinzu, es entstand ein »Versuchslaboratorium für diverse politische und kulturelle Sozialraumexperimente«, schreibt Heiko Koch in seinem Buch über »Mussolinis Erben« von der Bewegung »Casa Pound Italia« (CPI). Benannt nach dem US-amerikanischen Schriftsteller und Mussolini-Bewunderer Ezra Pound (1885-1972), orientiert sich CPI an der faschistischen Bewegung der Anfangsjahre und an Ideologien der Neuen Rechten. Zugleich saugt sie diverse kulturelle und politische Einflüsse auf, beruft sich auf den irischen Befreiungskampf und Che Guevara und gibt sich ein »modernes«, Jugendliche ansprechendes Image. Nach außen hin distanziert sie sich von Rassismus und Antisemitismus, im Namen ethnischer »Identität« bekämpft sie aggressiv alles Nicht-Italienische. Ihr Aufstieg ist nur vor dem Hintergrund der seit 20 Jahren in Italien bestehenden Hegemonie des von Berlusconi angeführten Rechtsblocks zu verstehen, wie Heiko Koch überzeugend herausarbeitet. Eine Reihe eindrucksvoller Fotos, insbesondere von CPI-Propagandaplakaten, rundet sein hervorragend recherchiertes Buch ab.
Jens Renner
Heiko Koch: Casa Pound Italia. Mussolinis Erben. Unrast Verlag, Münster 2013. 145 Seiten, 13 EUR.
Antispeziesismus
Die »Solidarität mit Tieren (sollte) endlich integrales Element linker Programmatik und Praxis werden«, schreibt Matthias Rude in dem bei Theorie.org erschienenen Buch »Antispeziesismus«. Denn, so zeigt der Autor, die Ausbeutung des Menschen hängt eng zusammen mit der Ausbeutung der Natur - und somit der Tiere. HIerfür macht er sich auf die Reise durch die Geschichte modernen empanzipatorischen Denkens. Die New Model Army in England kommt ebenso vor wie die Pariser Kommunarden oder der Internationale Sozialistische Kampfbund; in den Schriften von Horkheimer und Adorno, von Rosa Luxemburg und Louise Michel findet Rude Ansätze für eine Gesellschaftskritik, die das Verhältnis von Mensch und Tier mitdenkt. Durch diesen Streifzug bietet das Buch mehr als nur die Herleitung des Tierbefreiungsgedankens. Allerdings scheinen einige Rückschlüsse etwas konstruiert. So lässt sich aus dem Vergleich der eigenen Unterdrückung mit der Behandlung von Tieren nicht automatisch ein expliziter Wille zu deren Befreiung folgern. Im letzten Teil des Buches wird sowohl die Entwicklung der »zweiten Tierbefreiungsbewegung« seit den 1960er Jahren nachgezeichnet als auch die Diskussionen, die vor allem in den 1990er Jahren zu harten Auseinandersetzungen in der Linken führten. Erfrischend ist, dass Rude reaktionäre Strömungen wie Hardline oder Earth First eine klare Absage erteilt und mit dem gängigen Vorurteil aufräumt, Peter Singer sei geistiger Urvater der Tierrechtsbewegung.
Maike Zimmermann
Matthias Rude: Antispeziesismus. Die Befreiung von Mensch und Tier in der Tierrechtsbewegung und der Linken. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2013. 204 Seiten, 10 EUR.
Glaube und Aufstand
Dass Anarchismus nicht zwangsläufig mit der Ablehnung von Religion einhergehen muss, zeigt ein inspirierendes Buch mit Beiträgen, denen sowohl der Bezug zum christlichen Glauben, als auch die Ablehnung kapitalistischer und staatlicher Herrschaft gemein ist - frei nach Jacques Elluls Motto: »Biblisches Gedankengut führt direkt zum Anarchismus.« Das Prinzip der Gewaltfreiheit (gegenüber Personen) stellt dabei ein zentrales Element dar. Ein australischer Aktivist legt Zeugnis ab von antimilitaristischen, direkten Aktionen (NATO-Basen sind mitunter schlechter gesichert, als wir denken!), die Geschichte der Bewegung der US-amerikanischen Catholic Workers wird am Beispiel einer ihrer führenden Aktivistinnen, Dorothy Day, nacherzählt; es ist aber auch Raum für Theorie bzw. radikale Bibelinterpretation, wenn zum Beispiel Alexandre Christoyannopoulos die anarchistische Dimension der Bergpredigt auslotet. In die Geschichte begibt sich auch der hervorragende Beitrag von Gustav Wagner und Herausgeber Sebastian Kalicha, welcher die libertären Dimensionen im Denken und Handeln des böhmischen Revoluzzers Peter Chelcický im 15. Jahrhundert nachzeichnet. Kalichas Einleitung führt grundlegend in die Thematik ein und zeigt, dass Glaube und Anarchismus kein Widerspruch sein muss, auch wenn das zumindest in den deutschsprachigen Ländern noch immer 99 Prozent der Linken glauben. Unter den schwarz-roten Weihnachtsbaum damit!
Martin Birkner
Sebastian Kalicha (Hg.): Christlicher Anarchismus. Facetten einer libertären Strömung, Verlag Graswurzelrevolution, Münster 2013. 192 Seiten, 14,90 EUR.