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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 589 / 17.12.2013

Was heißt hier »nationaler Verrat«?

International Die Ukraine braucht weder »Europäisierung« noch »Russifizierung«

Aufruhr in der Ukraine. Hunderttausende auf den Straßen. Nachdem Präsident Janukowytsch dem Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU die Unterzeichnung verweigerte und statt dessen trilaterale Verhandlungen zwischen der EU, Russland und der Ukraine anbot, schlug die Empörung hohe Wellen. Rufe nach Fortsetzung der »orangenen Revolution« von 2004 wurden laut. Julia Timoschenko, inhaftierte Galionsfigur der ukrainischen Opposition, warf dem Präsidenten in einem offenen Brief vor, mit der von ihm angestrebten »Neutralität zwischen EU und Russland« das Assoziierungsabkommen zu zerstören; das sei »Verrat der nationalen Interessen der Ukraine«. Diese könne »die finanzielle, geistige und politische Unterstützung der ganzen Welt« bekommen - »trotz der Größe der russischen Ressourcen können diese nicht mit der Gesamtkapazität der demokratischen Werte verglichen werden.«

In tausendfacher Variation war dies auch der Tenor der Straßenproteste; hinzu kamen Forderungen nach Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes. Dabei ist offensichtlich, dass nicht nur Russland Druck auf die Ukraine ausübt, sondern die EU nicht minder. Erinnert sei an den US-Strategen Sbigniew Brzezinski, der die Ukraine zum Dreh- und Angelpunkt erklärte, von dem aus Russland auf dem eurasischen Kontinent kleingehalten werden könne und müsse. Auch Brzezinskis neueste Erkenntnisse in seinem Buch »Strategic Vision«, nach denen Russland nicht mehr aus-, sondern eingeschlossen werden soll, ändern nichts an der Schlüsselrolle, die er der Ukraine für den Machterhalt des »atlantischen Bündnisses« zuweist.

Die russische Regierung ließ ihrerseits durch nadelstichartige Handelsbeschränkungen erkennen, was geschehen könnte, wenn die Ukraine, wie in dem geplanten Assoziierungsabkommen gefordert, sich einseitig für die Mitgliedschaft in der europäischen Freihandelszone entscheide. Die EU bestand auf der Forderung, die Ukraine müsse zwischen der eurasischen und der europäischen Zollunion wählen. Hinzu kommen die in das Assoziierungsabkommen eingeschlossenen Bedingungen des IWF, die Ukraine müsse u. a. ihre kommunalen Strukturen kapitalisieren, und die Koppelung der Unterzeichnung des Abkommens seitens der EU an die Haftentlassung Julia Timoschenkos.

Der Vorwurf des »Verrats nationaler Interessen« ist in der heutigen Ukraine nichts anderes als eine Luftblase, wenn nicht gar bewusste Demagogie, mit der wirtschaftliche oder sonstige Sonderinteressen dieser oder jener Oligarchenclique oder Seilschaft verschleiert werden. Für die Masse der Bevölkerung gelten diese »nationalen Interessen« nicht; sie hat andere Sorgen, z.B. die Forderung nach freiem Visaverkehr, um im Ausland Arbeit zu finden. Das macht das Assoziierungsabkommen mit der EU natürlich attraktiv, aber auch den freien Zugang nach Russland.

Das einzige »nationale« Interesse, das der Geschichte und der heutigen Situation des Landes entspräche, bestünde in der Erkenntnis, dass es dieses »nationale« Interesse nicht gibt, dagegen den dringenden Bedarf an einem innenpolitischen und ins Außenpolitische reichenden Konsens zwischen den unterschiedlichen weltanschaulichen, wirtschaftlichen und kulturellen Teilen der Bevölkerung - wenn die Ukraine nicht zum permanenten Kampfplatz oder gar zum Schlachtfeld zwischen den sich seit dem Ende der Sowjetunion neu formierenden Blöcken Eurasiens werden soll. Als eindeutig kontraproduktiv hat sich die Forderung an die Ukraine erwiesen, sich zwischen einer Mitgliedschaft in der europäischen oder eurasischen Zollunion zu entscheiden. Es ist klar, dass ein solches Entweder-Oder - »Europäisierung« oder »Russifizierung« - die Ukraine nur spalten kann. Mit tödlicher Sicherheit würde eine solche Entwicklung unter heutigen Bedingungen jedoch eine Blutspur hinter sich herziehen.

Kai Ehlers

Mehr zum Thema unter www.kai-ehlers.de.