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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 590 / 21.1.2014

Istanbul-Yeldegirmeni: Wir sind alle Don Quijote

International Besetztes Haus ist zu einem Begegnungsort der Nachbarschaft geworden

Von Fatma Umul

Derzeit sind Gezi-Protestierende wegen »Mitgliedschaft in einer terroristischen Gruppe« angeklagt und wegen eines Korruptionsskandals wechselt der türkische Ministerpräsident Recep Erdogan sein halbes Kabinett aus. Die Türkei erlebt staunend eine erneute Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb des Staatsapparats.

Gleichzeitig eröffnen die zivilgesellschaftlichen Veränderungen nach den Juniprotesten 2013 neue Möglichkeiten für neue Aktionsformen, wie etwa die Besetzung eines leer stehenden Gebäudes in Yeldegirmeni. Mit dem Don-Kisot-Solidaritätshaus soll den Zielen der Gezi-Park-Bewegung Kontinuität gegeben werden.

Yeldegirmeni ist ein Bezirk auf der asiatischen Seite von Istanbul. Er grenzt an den Bezirk Kad?köy. Hier leben ein Drittel Studierende. Kleine Cafés und Kunstateliers prägen das Bild des Bezirks mit seiner historischen Bebauung. Nach der Räumung des Gezi-Parks am 15. Juni 2013 entstanden zahlreiche basisdemokratisch organisierte Diskussionsforen überall in der Stadt.

In Kad?köy traf man sich im Yogurtçu Park. Von hier aus gingen die Proteste weiter, deren Dynamik den ganzen Sommer über sichtbar blieb und sich in unterschiedlichen Aktionsformen ausdrückte: öffentliches Fastenbrechen, Solikonzerte, Stehproteste, Gedenkfeiern für die durch die Polizei bei den Protesten Getöteten.

Sichtbares Zeichen der Veränderungen in der Türkei

Zu Beginn wurde in den Foren vor allem über die Proteste, Polizeigewalt und anstehende Aufgaben diskutiert. Angesichts der vielen diskussionswürdigen Themen ging allerdings im Lauf der Zeit der Konsens über das verloren, was gemeinsam diskutiert werden sollte, und man löste sich in kleinere Gruppen auf.

»Nach den Protesten hat sich das Yogurtçu Forum auf kleinere Bezirke in Kadiköy verteilt. Daraus entstand unter anderem das Forum Solidarität-in-Yeldegirmeni«, erklärt mir Müge Degirmenci. Degirmenci lebt in Yeldegirmeni, ist Aktivistin und arbeitet bei ÇEKÜL, einer Stiftung zur Förderung und für den Schutz von Umwelt und Kulturerbe.

Weil es keinen öffentlichen Ort gab, an dem man sich im Winter hätte treffen können, entstand im August die Idee, ein seit 20 Jahren leer stehendes, vierstöckiges Haus zu besetzen. Das Gebäude war gleichzeitig an fünf Interessierte verkauft worden. Nach jahrelangen Gerichtsverhandlungen sind bis heute die Besitzverhältnisse ungeklärt. Das konnten die BesetzerInnen zu ihrem Vorteil nutzen.

»Aufgrund der unklaren Besitzverhältnisse des Hauses hatten wir juristischen Spielraum. Deshalb sind wir hineingegangen und haben sofort mit den Aufräum- und Renovierungsarbeiten begonnen. Diese Unklarheit hat auch die verantwortlichen Stellen in die Irre geführt, so dass wir jetzt in diesem Haus bleiben können«, so Degirmenci.

Das Umweltbewusstsein ist durch die Gesi-Park-Proteste in der Türkei gewachsen. Diesen Umstand will das Solidarität-in-Yeldegirmeni-Forum für sich nutzen. So wird das Haus mit umweltfreundlichen Materialien renoviert. Daneben geht es dem Hausverein auch darum, die historische Bausubstanz zu retten. Die Renovierungs- und Umbauarbeiten kommen gut voran. Nicht zuletzt, weil die BesetzerInnen aus allen Schichten kommen. Unter ihnen sind AnwältInnen, ArchitektInnen, KünsterInnen, HandwerkerInnen, StudentInnen, LehrerInnen oder GärtnerInnen.

»Wir versuchen, dem elitären Charakter, der einem umweltbewussten Leben anhaftet, entgegenzuarbeiten«, erzählt Degirmenci. Das Ziel, »ein seit Jahren leer stehendes Haus zu besetzen und für die Bedürfnisse in der Nachbarschaft durch Eigenleistung zu einem autonom selbstverwalteten Ort umzugestalten«, sei der kleinste gemeinsame Nenner der BesetzerInnen. Aber es gibt noch ein anderes Argument, das die AktivistInnen motiviert: Als erste sichtbare, politisch motivierte Hausbesetzung in der Türkei will man zur Entwicklung einer Hausbesetzerbewegung beitragen.

Ein Ort für Diskussionen, Vorträge und Hochzeiten

Doch nicht nur mit der Renovierung des Hauses sind die BesetzerInnen beschäftigt. Schon jetzt finden regelmäßig Veranstaltungen, Workshops und Konzerte statt. Und natürlich trifft sich das Solidarität-in-Yeldegirmeni-Forum hier. Das Haus ist täglich von 8 bis 23 Uhr geöffnet. Die Nachbarschaft und die BesetzerInnen arbeiten Hand in Hand zusammen, sagt uns Degirmenci.

»Die Nachbarschaft unterstützt uns, hilft mit, bringt uns Essen und Trinken. Der feste Kern besteht aus 30-40 Menschen.« Unterstützung findet das Solidaritätshaus aber nicht nur in der unmittelbaren Nähe: »Aus Diyarbak?r wurde z.B. eine Solaranlage für das Dach gespendet«, erfahre ich. Alle arbeiten fieberhaft daran, vor dem Wintereinbruch fertig zu werden, damit auch in der kalten Jahreszeit ein öffentlicher Ort im Bezirk zur Verfügung steht.

Als ich das Haus an einem Samstag im November besuche, werden in dem bereits renovierten Teil Sprühschablonen mit Bildern verstorbener Protestierender gefertigt und die Porträts anschließend an die Außenwände des Hauses gesprüht. Neben dem regelmäßigen »Brainstorming Saturday« fand an diesem Samstag zudem noch ein Vortrag statt, in dem über umweltbewusste Baumaterialien informiert wurde. Wenn das Haus instand gesetzt ist, soll es eine Soliküche geben. Geplant sind darüber hinaus eine Bibliothek sowie Räume für Kinder, Frauen und Veranstaltungen.

Auch eine erste Hochzeit fand schon statt. Am 23. Dezember 2013 feierte ein Paar aus der Nachbarschaft im Don-Kisot-Solidaritätshaus, weil es sich der wahnsinnigen Kommerzialisierung der Hochzeitsidee entziehen wollte. Nicht nur in diesem Beispiel verbinden sich in dem Besetzungsprojekt parallele, unterschiedlich ausgetragene soziale Kämpfe. Nach der Eröffnung besuchten die BesetzerInnen etwa die Textilfabrik Kazova, die von den Beschäftigten besetzt und nun in Eigenregie geführt wird (vgl. ak 587), um sich gegenseitige Unterstützung zu versichern und sich zu vernetzen.

Viele UnterstützerInnen schlossen sich sowohl dem Widerstand der Kazova-ArbeiterInnen als auch dem Umbau des Don-Kisot-Solidaritätshauses erst nach den Gezi-Protesten an. Den Bezug zu den Juni-Protesten hebt Degirmenci wie folgt hervor: »Ausschlaggebend ist nicht, die Methode des kollektiven Handelns einfach nur zu deklarieren, sondern dass sie sich aus sich selbst heraus entwickelt, sie eine eigene Dynamik bekommt und aus einem kollektiven Bewusstsein heraus geschaffen wird. Genau das ist die Kraft des kollektiven Handelns. Die Gezi-Proteste waren ein Beispiel hierfür. Die Proteste hatten ihre eigene Dynamik entwickelt, deshalb haben sie auch eine starke Wirkung im Nachhinein.«

Ein Experiment mit Ausstrahlungskraft

Die Polizei hält sich bislang auffallend zurück, auch wenn es einen ersten Polizeieinsatz am 18. Oktober 2013 gab: »Sie kamen mit Polizeiwägen und versuchten, mit unsinnigen Polizeikontrollen die Nachbarschaft zu terrorisieren.« Die Zurückhaltung der Polizei erklärt sie wie folgt: »Hier in Yeldegirmeni haben die staatlichen Behörden keine profitorientierten Gentrifizierungsprojekte im Sinn. Aufgrund der gesetzlichen Unklarheit sollte das zuvor vermüllte Gebäude noch fast 40 Jahre leer stehen.«

Die Zurückhaltung hängt aber ebenso mit der Zusammensetzung der BesetzerInnen zusammen. Die Entstehung des Solidaritätshauses aus einer Besetzung heraus ist zum Teil institutionell gebunden und arbeitet im Dialog mit der Gemeinde Kadiköy zusammen, die Mitglied von ÇEKÜL, der Vereinigung für historische Städte TKB und auch Teil des »Belebungsprojekts des Bezirks Yeldegirmeni« ist.

Wir diskutieren auch über die Heterogenität der BesetzerInnen. »In diesem Haus vereinigen sich verschiedene Meinungen: Kommunisten, Anarchisten, Religiöse, Nationalisten, Sozialisten. Trotz der differenten Vorstellungen über eine gute Gesellschaft kann jeder kommen und mitgestalten. In diesem Haus leben wir die Basisdemokratie - wie auch im besetzten Gezi-Park. Keiner ist ausgeschlossen - auch ein Nationalist kann teilnehmen. Das Haus ist eine common area. Wir müssen uns nicht mehr streiten. Das haben wir gemacht, weil der Staat uns in Kategorien eingeteilt hat. Jetzt müssen wir klug genug sein und es schaffen, uns zu vereinen und für ein Ziel zu kämpfen.« Und sie ergänzt: »Dieses Haus ist die Verlängerung der Besetzungszeit und zugleich auch ein Experiment.«

Nach den Gezi-Protesten kristallisiert sich heraus, dass sich ein Teil der Bewegung vom Barrikadenbau hin zu einer Bewegung transformiert, die nach vom Profit unabhängigen, alternativen Beziehungsformen sucht und sie innerhalb des Systems zu realisieren versucht. Die Ausbreitung der ökonomischen Handlungslogik in alle gesellschaftlichen Bereiche, diesem Ziel folgt die momentane Staatslogik der türkischen Regierung. In diesem Kommerzialisierungskampf könnte das Don-Kisot-Solidaritätshaus den Beginn einer neuen zivilgesellschaftlichen Opposition darstellen.

Fatma Umul schrieb in ak 587 über die Besetzung der Istanbuler Textilfabrik Kazova.