Polizeirecht statt Strafrecht
International Als Reaktion auf die Explosion demokratischer Ansprüche werden in Spanien die Mittel der Politik neu zusammengesetzt
Von Imayna Caceres und Lukas Oberndorfer
Nachdem der »europäische Frühling« 2012 in Spanien angebrochen war und auch ein Generalstreik die Verwertung des Kapitals unterbrach, ließ die spanische Regierung mit einem Gesetzesentwurf aufhorchen: Mittels einer »Reform« des Strafgesetzbuches sollten künftig unangemeldete Demonstrationen oder Prostestcamps als »Anschlag auf die Staatsgewalt« geahndet werden können. Wer über soziale Medien zur Störung der öffentlichen Ordnung aufruft, riskiert sogar eine Haftstrafe von bis zu zwei Jahren. Der katalonische Innenminister kommentiert den Gesetzesentwurf mit den Worten: »Wir brauchen ein System, das den Demonstranten Angst macht.«
Das spanische Gerichtssystem folgte bisher nicht dem politischen Wunsch nach mehr Repression. Deshalb kündigte die spanische Regierung Ende November 2013 ein weiteres »Reformvorhaben« an - obwohl die »Reform« des Strafrechts noch gar nicht umgesetzt wurde. Mit dem neu auf den Weg gebrachten »Gesetz der bürgerlichen Sicherheit« sollen sechzehn neue Verwaltungsstraftatbestände eingeführt werden. (1)
Margarita Robes, Richterin am spanischen Obersten Gerichtshof, sieht das Gesetz in einer Linie mit bisherigen Versuchen zur Beschränkung von politischen Freiheiten. Ein Großteil der angedachten Verwaltungsstraftatbestände gleicht bereits existierenden Tatbeständen im Strafgesetzbuch. Das zeigt, dass die Entscheidungsmacht der Exekutive abseits der relativ autonomen Gerichte ausgeweitet werden soll.
Das Gesetz der bürgerlichen Sicherheit gliedert die neuen Verwaltungsstraftatbestände in leichte (Geldstrafe bis zu 1.000 Euro), schwere (Geldstrafe bis zu 30.000 Euro) und sehr schwere Vergehen (Geldstrafe zwischen 30.000 und 600.000 Euro). Den Plänen der Exekutive zufolge soll eine unangemeldete Demonstration vor parlamentarischen Einrichtungen und den Höchstgerichten in Zukunft mit bis zu 600.000 Euro »geahndet« werden. Mit einer Strafe in ebensolcher Höhe werden Escraches belegt. (2) Auch die OrganisatorInnen einer Demonstration sollen mit der Höchststrafe belegt werden können, wenn es dabei zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt.
Ein schweres Vergehen, das mit bis zu 30.000 Euro geahndet wird, begeht, wer »nicht mit dem Beamten zusammenarbeitet, gewaltfreien Widerstand leistet - oder einen Polizisten beleidigt, bedroht oder es am Respekt fehlen lässt.« (taz, 21.11.2013) In diese Kategorie fällt auch das Abseilen von öffentlichen Gebäuden, um Protesttransparente anzubringen.
Viele der neuen Verwaltungsstrafen stellen genau jene neuen Protestformen der sozialen Bewegungen unter Strafe, deren Strafbarkeit die spanischen Gerichte - trotz einer massiven Anzeigenwelle - bisher verneint haben. So sprach das für besonders schwere Straftaten zuständige oberste Gericht DemonstrantInnen, die 2012 versucht hatten, den Kongress einzukreisen, von dem Vorwurf einer »strafbaren Handlung mit terroristischem Hintergrund« frei.
Joachim Bosch von den RichterInnen für Demokratie (Jueces para la Democracia) erkennt daher im Gesetz einen weiteren Schritt in Richtung Autoritarisierung, der darauf zielt, den Protest gegen die Einschnitte in das Sozialsystem zu kriminalisieren. Da die Gerichte bisher nicht den Wünschen der Regierung nach der Etablierung eines »Feindstrafrechts« entsprechen, so Bosch, solle jetzt die Exekutive ermächtigt werden. (3)
Kriminalisierung von Sozialprotesten
Angesichts der sich aufstufenden Instabilitäten und des schmelzenden Konsenses scheint es zu einem massiven Eingreifen der Staatsapparate in Ökonomie und Politik zu kommen, welches drauf zielt, die wettbewerbsorientierte »Integration« Europas vor ihrer Infragestellung zu bewahren und gleichzeitig zu vertiefen. Der sich darüber herausbildende »autoritäre Wettbewerbsetatismus« richtet sich dabei vor allem gegen die Kämpfe der Subalternen. (4) Er bietet eine Lösung der ökonomischen und politischen Krise durch repressive Herrschaftstechniken an, die mit einem Verfall der repräsentativen Demokratie, mit einer Aufwertung der Exekutiven gegenüber den Parlamenten, einer Verringerung der relativen Autonomie des Rechts und mit vielfältigen Einschränkungen der Grundrechte verbunden ist. Rechte, »die man erst wirklich schätzen lernt, wenn sie einem genommen werden.« (Poulantzas)
In Spanien äußert sich dies derzeit auch durch eine von Regierungsseite verstärkt vorangebrachte Konstruktion von MigrantInnen als »kriminell, kostspielig und überschüssig«. Repressive Praktiken werden in diesem Zusammenhang nicht gegen reale Bedrohungen der Herrschaftsverhältnisse in Stellung gebracht, sondern um die Staatsapparate durch das scheinbar durch die MigrantInnen angestoßene »Wuchern der Gefahr« zu legitimieren.
Durch eine Notstandsverordnung hat Ministerpräsident Rajoy bereits den Ausschluss aller MigrantInnen ohne Papiere vom Gesundheitssystem verfügt. Denn MigrantInnen, so die Begründung, würden die Krankenhäuser »überfluten« und hohe Kosten verursachen. Der Einsatz von Notstandsverordnungen zur Umsetzung solcher »Sparmaßnamen« stieß dabei auf die Kritik von VerfassungsjuristInnen: Notstandsverordnungen seien ein Mittel für den Ausnahmezustand. Ihr wahlloser Einsatz unterminiere die Stellung des Parlaments, so Luis Aguiar de Luque, Professor für Verfassungsrecht.
Wofür diese - den autoritären Wettbewerbsetatismus kennzeichnende - Erosion und Umgehung rechtlicher Verfahren steht, brachte die Regierungssprecherin auf den Punkt: Die Notstandsverordungen seien ein Weg zur Bearbeitung der tiefen Krise. Nach deren Lösung würden sich die Verhältnisse wieder normalisieren.
In diesem Zusammenhang überrascht es nicht, dass es gerade dasLand Spanien ist, in dem das oben angesprochene Gesetz der bürgerlichen Sicherheit durchgesetzt werden soll. In Spanien hat sich die Wirtschaftskrise auf besonders dramatische Art und Weise entfaltet. Die drastischen Spar- und Restrukturierungsprogramme, die Ministerpräsident Rajoy auf Weisung der Europäischen Zentralbank (EZB) teilweise ebenfalls in Form von Notstandsverordnungen verfügt hat, führen darüber hinaus zu einem weiteren Wegbrechen der Inlandsnachfrage und sorgen dafür, dass die spanische Wirtschaft seit 2009 nicht aus der Rezession kommt - Arbeitslosigkeit und Verarmung sind die Folge.
Politik mit Notstandsverordnungen
Ab 2011 entwickelte sich vor diesem Hintergrund eine facettenreiche Bewegung. Am 15. Mai besetzen die sogenannten Empörten (Indignad@s) die Puerta del Sol, den bekanntesten Platz Madrids. Auf die daran anschließende erfolgreiche Mobilisierung in ganz Spanien reagierten die staatlichen Apparate mit Gewalt und Kriminalisierung: »Nach der brutalen Räumung der Plätze streute die Bewegung in die Barrios (die Nachbarschaften) - ohne zu zerstreuen.« (5) In den Stadteilen finden seither immer wieder Versammlungen (Asambleas) statt, in denen weiter nach Praxen für die Erringung einer »echten« Demokratie gesucht wird.
Mit dieser Kritik der repräsentativen Demokratie ist auch die massive Legitimationskrise der beiden ehemaligen Volksparteien verbunden, welche für die Krise und ihre Verschärfung verantwortlich gemacht werden. Nachdem die bis 2011 regierende Spanische Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) bei den Wahlen ein Debakel erlitt und die rechts-konservative Spanische Volkspartei (PP) eine absolute Mehrheit erringen konnte, liegt auch sie in Umfragen bei nur noch 25 Prozent.
Wie das Gesetz der bürgerlichen Sicherheit gegen die konstituierenden Prozesse des Widerstands von unten in Stellung gebracht wird, lässt sich anhand eines der erfolgreichsten Projekte veranschaulichen: Die »Plattform der Betroffenen der Hypothek« (Plataforma de Afectados por la Hipoteca, PAH) ist ein Kollektiv aus hunderten von lokalen Gruppen, die Menschen unterstützt, die von Zwangsräumungen bedroht sind - trotz gigantischem Leerstand sind seit Beginn der Krise mehr als 400.000 Wohnungen zwangsgeräumt worden.
Krise der Repräsentation
Neben der gewaltfreien Verhinderung von Räumungen und der rechtlichen und strategischen Beratung von Betroffenen hat die Initiative 2013 auch eine Gesetzesvorlage über eine »Volksbegehren« eingebracht. Das mit 1,4 Millionen UnterstützerInnen zweiterfolgreichste Volksbegehren in der spanischen Geschichte zielt auf ein Räumungsmoratorium für Betroffene, die andernfalls sozial gefährdet wären, möchte eine Gesamttilgung der Schulden, wenn die entsprechende Immobilie der Bank übertragen oder zwangsgeräumt wird und die Vergabe von leer stehenden Immobilien gegen eine Sozialmiete.
Da die Umsetzung der Gesetzesvorlage aber verwässert wurde, ging die PAH seit dem Frühjahr 2013 verstärkt dazu über, durch öffentlichen Protest den Druck auf die Regierungspartei PP zu erhöhen. Dass die PAH Escraches gegen Abgeordnete einsetzt, die sich öffentlich gegen den Gesetzvorschlag stemmen und die Interessen der Banken verteidigen, hat die PP dazu veranlasst, die Escraches als kriminelle Handlungen zu bezeichnen. (2)
Dass Grundrechte, vor allem das Recht auf Versammlungs- und Meinungsäußerungsfreiheit, gerade solche konstituierenden Prozesse zur Neubegründung der Demokratie schützen, hielt der Präsident des Obersten Gerichtshofs Gonzalo Moliner im April 2013 fest: Die Escraches seien eine Form der Ausübung von Grundrechten. Zwar werde die Privatsphäre der betroffenen PolitikerInnen eingeschränkt, allerdings wäre dieser Eingriff durch das Recht auf Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit gerechtfertigt. Obwohl diese Rechtsansicht im Mai 2013 auch gerichtlich bestätigt wurde, will das Gesetz der bürgerlichen Sicherheit nun die Escraches mit einer Geldstrafe von bis zu 600.000 Euro belegen.
Nachdem der mit der EU institutionell nicht verbundene Europarat schon im Herbst 2013 die spanische Polizei aufgrund ihres unverhältnismäßigen Einsatzes von Gewalt gegen die Protestbewegungen kritisiert hatte, sah sich Anfang Dezember 2013 sein Menschenrechtskommissar, Nils Muiznieks, erneut zu einer Stellungnahme veranlasst. Das Gesetz der bürgerlichen Sicherheit sei mit dem Recht auf Versammlungsfreiheit unvereinbar, so Muiznieks. Die EU-Kommission ließ hingegen verlautbaren, dass sie die Entwicklungen in Spanien nicht kommentieren könne, da es sich um eine nationale Angelegenheit handele.
Dass mit dem Gesetz der bürgerlichen Sicherheit genau jene Protestformen kriminalisiert und mit hohen Geldstrafen belegt werden sollen, die die Bewegung in Spanien in ihren Suchprozessen entwickelt hat, ist kein Zufall. Es geht mit der Herausbildung eines autoritären Wettbewerbsetatismus aber nicht nur um die Bewahrung »bürgerlicher Sicherheit« und der damit verbundenen Verteilungs- und Eigentumsverhältnisse, sondern auch um die Eindämmung der »wahrhaftigen Explosion demokratischer Ansprüche« (Poulantzas).
Imayna Caceres ist Aktivistin und arbeitet als Künstlerin und Soziologin in Barcelona und Wien. Lukas Oberndorfer ist Wissenschafter in Wien und aktiv im Arbeitskreis kritische Europaforschung der AkG.
Eine Langfassung des Beitrages ist in juridikum. zeitschrift für kritik | recht | gesellschaft erschienen und unter juridikum.at online abrufbar.
Anmerkungen:
1) Die Verwaltungsstrafe bzw. Ordnungswidrigkeit (so der bundesdeutsche Begriff) wird durch Polizei- oder andere Verwaltungsbehörden und nicht durch Gerichte verhängt.
2) Dabei handelt es sich um eine in Lateinamerika entwickelte Protestform gegen Personen, die für politische Verhältnisse oder Verbrechen (oft gegen die Menschenrechte) verantwortlich gemacht werden. Beim Escrache werden durch Sprechchöre, Flashmobs oder andere kreative Aktionen die Arbeits- und Lebensabläufe der betreffenden Personen gestört.
3) Dieser Begriff, der für die partielle Aufhebung der Grundrechtsbindung des Staates gegenüber »Feinden der gesellschaftlichen Grundordnung« steht, wurde in den 1980ern von Günther Jakobs unter implizitem Rückgriff auf Carl Schmitt entwickelt.
4) Zum autoritären Wettbewerbsetatismus siehe: Lukas Oberndorfer: Hegemoniekrise in Europa - Auf dem Weg zu einem autoritären Wettbewerbsetatismus? In: Die EU in der Krise, Münster 2012.
5) Mario Candeias: Die konstituierende Macht muss organisiert werden. In: arranca, Nr. 47, 2013.