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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 590 / 21.1.2014

Das Ende des Paternalismus

Antirassismus Matthias Weinzierl vom Bayerischen Flüchtlingsrat über die aktuellen Flüchtlingsproteste

Interview: Martin Beck

Proteste von Flüchtlingen und Initiativen gegen die herrschende Flüchtlingspolitik gibt es seit Jahrzehnten. Unter anderem sind die Flüchtlingsräte in diesem Bereich aktiv. Welche Auswirkungen hat der Aufschwung der Flüchtlingskämpfe auf diese Strukturen, und vor welchen Herausforderungen stehen sie?

Seit nunmehr zwei Jahren erleben wir eine neue Phase der Flüchtlingsproteste in Deutschland. Ausgangspunkt war Bayern. Ein Zufall?

Matthias Weinzierl: Der Freistaat wird seinem Ruf als asylpolitischer Hardliner gerecht, und die Lebensverhältnisse für Asylsuchende sind in Bayern im bundesdeutschen Vergleich in der Tat besonders hart. Sicherlich beeinflusst diese aussichtslose und verzweifelte Lage vieler Flüchtlinge hier die Entschlossenheit der Proteste. Aber ob sie der alleinige Auslöser für diese neue Phase des Widerstands ist, kann ich nicht sagen. Gleichzeitig gibt es hier schon eine lange Tradition unterschiedlichster Proteste von Flüchtlingen. Vielleicht zeigt die verstärkte Sichtbarkeit der Kämpfe nun, dass das Maß an Entrechtung einfach übervoll ist.

Welche Rolle spielt dabei der Bayerische Flüchtlingsrat?

Wir unterstützen und begleiten die Proteste auf unterschiedlichste Weise. Anfängliche Irritationen beim Würzburger Hungerstreik führten bei uns zu einer großen Debatte über unser Vorgehen und unsere Positionen angesichts dieser neuen und ungewohnt radikal geführten Proteste. Seitdem achten wir sehr darauf, nicht die Protestformen öffentlich zu bewerten, sondern konzentrieren uns primär darauf, die Forderungen der Flüchtlinge zu unterstützen. Zudem versuchen wir, keine Sprecherrolle einzunehmen. Im Klartext heißt das: Unsere Infrastruktur und unser Fachwissen stehen den Protestierenden offen und werden auch rege genutzt.

Getragen wird der Protest von den Flüchtlingen selbst.

Das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung. Wir haben ja bereits sehr gute und langjährige Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit den diversen »gemischten«, selbst organisierten Gruppen wie dem Lagerland-Netzwerk und den diversen Karawanegruppen gemacht. Aber das Neue an diesen Protesten ist sicher, dass sie direkt von den Betroffenen ausgehen mit ungewohnter Entschlossenheit, Intensität und Ausdauer, die eine neue Dynamik freisetzen.

Auch wenn es viele noch nicht glauben wollen: Flüchtlinge haben einen eigenen Kopf und können durchaus selbst entscheiden, wofür und wie sie protestieren wollen. Und natürlich sind sie keine homogene Gruppe. Vieles hängt von aktiven Einzelpersonen ab. Aber das ist ein allen Gruppierungen so. Was mich aber zunehmend langweilt und nervt, ist die häufig öffentlich vertretene Ansicht, Flüchtlinge seien eine amorphe Masse, hinter der sich eigentlich irgendeine Politgruppe verbirgt, die wie ein Pferdeflüsterer ansagt, wohin die Reise geht.

Dieser Vorwurf ist in der Vergangenheit dem Bayerischen Flüchtlingsrat immer wieder gemacht worden, und es ermüdet, Journalistinnen und Jounalisten immer wieder erklären zu müssen, dass Flüchtlinge uns nicht benötigen, um gegen ihre katastrophalen Lebensbedingungen aufzustehen. Viel zu lange wurde auch in der Flüchtlingssolidarität zu viel über Flüchtlinge anstatt mit ihnen geredet und eine paternalistische Haltung eingenommen. Manche Aktivistinnen und Aktivisten sprechen auch heute noch von »ihren« Flüchtlingen, wie von einer Schar Kinder, die ihnen zur Betreuung überlassen wurde. Dass sich dieser Umgang ernsthaft ändert, ist doch sehr begrüßenswert!

Welche Herausforderungen sind mit dieser Selbstorganisation für etablierte Strukturen in diesem Bereich, wie z.B. die Flüchtlingsräte, verbunden?

Natürlich lassen sich diese zuspitzenden Protestformen nicht unbedingt in die politischen Strategien von etablierten Flüchtlingsorganisationen integrieren - aber das müssen sie auch nicht, im Gegenteil. Ich sehe darin sogar eine große Chance, denn wenn wir gegen den gesellschaftlichen Mainstream angehen wollen, der sich nun mal in seiner überragenden Mehrheit gegen Flüchtlinge richtet, müssen wir doch an den unterschiedlichsten Baustellen präsent sein. Sprich, wir brauchen Organisationen und Gruppen, die kontinuierlich und ausdauernd Kampagnen gegen die bestehende Asylpolitik aufbauen, die Lobbypolitik und klassische Pressearbeit gegen Missstände und Gesetze machen. Gleichzeitig sind selbst organisierte Proteste das Herzstück jeder sozialen Bewegung, und dass diesen vermehrt Aufmerksamkeit zukommt, finde ich unglaublich wichtig.

Welche Formen der Zusammenarbeit gibt es?

Wie gesagt, wir stellen unsere Infrastruktur bereit. Protestierende und deren Unterstützer nutzen unsere Telefone, Faxgeräte, Kopierer, Drucker und Computer und unsere Räumlichkeiten. Wir vermitteln Pressekontakte und Rechtshilfe und leiten Presseanfragen an die Protestierenden weiter. Wenn es akut wird, stapeln sich schon mal in unseren Räumen Menschen, Schlafsäcke oder Isomatten. Zudem bringen wir uns dort ein, wo es gewünscht ist. So waren bei den dramatischen Aktionen am Münchner Rindermarkt ständig Aktivistinnen und Aktivisten vom Flüchtlingsrat und der Münchner Karawane als Unterstützer involviert. Als dann das Camp von der Polizei geräumt wurde, sammelten sich am Sonntag Aktivistinnen und Aktivisten sowie Unterstützer in unserer Geschäftsstelle und berieten dort ihr weiteres Vorgehen.

Wo stoßt ihr an Grenzen in der Zusammenarbeit?

An Grenzen stoßen wir, wenn wir auf eine Wand aus Misstrauen stoßen und auf eine Art Dienstleisterrolle reduziert werden. Manchen fällt es schwer einzuschätzen, was der Flüchtlingsrat eigentlich ist. So werden wir von einigen für eine staatliche oder zumindest städtische Einrichtung gehalten, der mit großer Vorsicht zu begegnen ist und die eigentlich fast schon als potenzieller Gegner betrachtet werden muss. Das schmerzt, denn der Bayerische Flüchtlingsrat ist unabhängig und versteht sich als lebendiger und streitbarer Teil der sozialen Bewegung. Wir verstehen unseren Einsatz gegen die Abschottung der EU und die Asylpraxis nicht als Dienstleistung, sondern verfolgen damit ein Eigeninteresse.

Die dramatische Lage der Flüchtlinge, in der zu leben sie gezwungen werden, prägt ihre Aktionsformen. Aktivisten haben sich Lippen zugenäht und Hunger- und Durststreiks durchgeführt. Wie geht ihr damit um?

Folgendes vorausgeschickt: Wir werden nicht gefragt, wenn Flüchtlinge beschließen zu protestieren, und sie fragen uns auch nicht, welche Protestformen sie wählen sollen. Davon abgesehen, wer fühlt sich dazu berufen, jemanden zu einem Hungerstreik oder gar Durststreik zu raten? Solche Entscheidungen können nur die Betroffenen selbst treffen. Wir wollen aber auch keine Aktionsformen bewerten, auch wenn wir uns zugegebenermaßen mehrmals verunsichert gefühlt haben. Uns ist es wichtig, deutlich zu machen, welche Lebensverhältnisse die Betroffenen in diese Verzweiflung treiben und wer dafür die Verantwortung trägt. Natürlich lässt uns die Dramatik der Proteste nicht kalt, aber wir versuchen, uns auf die Unterstützung der Forderungen zu beschränken und dort mitzudiskutieren, wo wir gefragt werden. Dennoch waren wir sehr erleichtert, dass bei keiner und keinem der Streikenden bleibende Gesundheitsschäden entstanden sind.

Parallel zu dieser Entwicklung hört man häufig die Forderung, weiße AktivistInnen sollten sich auf die Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Rassismus konzentrieren und ansonsten die Politik der von Rassismus betroffenen »People of Color« (PoC) unterstützen. Welche Rolle spielt diese Auseinandersetzung für eure Arbeit?

Die Critical-Whiteness-Debatte stellt auch bestehende Dominanzen in der Antira-Bewegung infrage. Besonders die Kritik an der nur eingeschränkten Teilhabe der von Rassismus Betroffenen an den Meinungs- und Entscheidungsfindungsprozessen finde ich nachvollziehbar und überfällig. Auch das Citizen/Non-Citizen-Konzept, also die Trennung entlang von staatsbürgerlichen Rechten, hatte sicher seine Berechtigung, wenn es darum geht, einer Fremdbestimmung durch »Politprofis« Einhalt zu gebieten. Fragwürdig erscheint mir jedoch, wenn jetzt Herkunft oder Aufenthaltsstatus grundsätzlich darüber entscheiden sollen, wer sich politisch einbringen darf und wer nicht.

Beim Hungerstreik auf dem Rindermarkt und den anschließenden Protesten konnte man beobachten, wohin diese strikte Trennung führen kann.Vor Ort war eine große Verunsicherung festzustellen, denn viele der weißen Aktivistinnen und Aktivisten verzichteten darauf sich einzubringen, aus Angst davor, als Rassistin bzw. Rassist gelabelt zu werden. Wenn es weißen Aktivisten praktisch untersagt ist, sich an einer politischen Meinungsfindung zu beteiligen, ist deren Handeln auf reine Supporttätigkeiten, wie die Organisation von Schlafutensilien, Essen, Fahrdiensten und ähnlichem reduziert.

Ich halte es für gefährlich, wenn Aktivistinnen und Aktivisten ihre eigene politische Meinung in solchen Kämpfen abschalten und sich auf eine reine Unterstützungsrolle zurückziehen. Wenn politische Strategien nicht mehr diskutiert werden und eine partnerschaftliche Zusammenarbeit komplett ausgeschlossen wird, ist das eine Protestbewegung, der ich mich nicht mehr zugehörig fühle. Wir müssen aus den Debatten wichtige Konsequenzen ziehen und gleichzeitig weiter an einem Raum für gemeinsame Diskussionen arbeiten.

Matthias Weinzierl ist Mitarbeiter des Bayerischen Flüchtlingsrats und Redakteur des Magazins Hinterland.