Der Hungerstreik macht's sichtbar
Antirassismus Den Bewegungen gegen Rassismus ist die gemeinsame politische Vision abhanden gekommen
Von Max Buschmann und Bernd Kasparek
Ausgehend von einer Kritik an dem Artikel »Here is hunger strikers' area. Please DO NOT enter!« (ak 585) zum Hungerstreik auf dem Münchner Rindermarkt setzen wir uns in diesem Beitrag mit der gegenwärtigen Krise in der antirassistischen Bewegung in Deutschland auseinander.
In dem genannten Artikel sehen wir ein zentrales Problem: Der Hungerstreik wird als ein isoliertes politisches Ereignis beschrieben und damit sowohl dem Kontext der derzeitigen Konjunktur selbstorganisierter Kämpfe von Geflüchteten als auch der Geschichte antirassistischer Bewegungen in Deutschland und Europa enthoben. Diese verkürzende Perspektive auf den Hungerstreik ermöglicht es den Autorinnen, einen scharfen Kontrast zwischen den Non-Citizens als aufrechten KämpferInnen und einer imaginierten homogenen Münchner Linken zu konstruieren, deren Handeln aus Sicht der Autorinnen scharf zu kritisieren ist: Sie sei sowohl passiv als auch unfähig gewesen, die Situation und soziale Position der Geflüchteten zu realisieren. Darüber hinaus wird dieser Linken eine »emotionale Ablehnung« vorgeworfen, die angeblich in einer Entsolidarisierung gemündet sei.
Aber tatsächlich unterstützten viele aus der linken Szene Münchens den Hungerstreik. Sie brachten sich materiell und logistisch ein und zeigten sich durch aktive Präsenz vor Ort solidarisch. Dass es dennoch zu keinen sichtbaren, eigenständigen Solidaritätsaktionen der »Münchner Linken« kam, lag unserer Ansicht nach im Wesentlichen an der Politik jener, die als primäre SupporterInnen des Hungerstreiks auftraten und großen Einfluss ausübten. Sie beanspruchten einerseits, exklusiv zwischen Hungerstreikenden und anderen AktivistInnen zu vermitteln, und hierarchisierten so den Kontakt zu den Streikenden. Andererseits versuchten sie, die konkreten Formen der Solidarität zu bestimmen. Bedeutsam war hier sowohl ein zweiseitiges Dokument (Supporter-Kodex), das festschrieb, welche Arten des solidarischen Handelns erwünscht waren, als auch die konkrete Plenumsstruktur: Gemeinsamer politischer Austausch wurde in den Plena zugunsten von organisatorischen und logistischen Fragen unterbunden. Wünsche, sich über weitere Aktionsformen oder Schwierigkeiten auszutauschen, wurden abgeschmettert.
Zu Recht fordern die Autorinnen des Artikels Diskussionen und Analysen um »politische Differenzen, Spaltungen, inhaltliche Bruchlinien, identitäre Praxen und die Frage, wie gemeinsame solidarische Kämpfe, aussehen können« ein. Jedoch machen sie diese durch ihre eigene Argumentation effektiv unmöglich, da sie die binäre Einteilung in Non-Citizens auf der einen und »die Münchener Linke« auf der anderen Seite weder erklären noch kritisch prüfen. Stattdessen leisten sie einer Heroisierung Vorschub, ein Rückfall in die simplen Deutungsmuster der deutschen flüchtlingspolitischen Bewegung der 1980er Jahre, als Geflüchtete per se als die Avantgarde der globalen sozialen Revolution angesehen wurden.
In dieser Hinsicht ist es schlichtweg falsch, dass der Hungerstreik zur »Bühne einer politischen Auseinandersetzung« wurde, in der sich die Debatten um antirassistische Praxen, Critical Whiteness und solidarische Kämpfe verdichtet hätten. Es gab eine große Bereitschaft zur Solidarität und für eine gemeinsame Politik, die sich weit über das antirassistische Spektrum in München hinaus erstreckte. Doch die Debatte um die Ausgestaltung einer solchen Politik wurde mit dem Rückgriff auf identitäre Deutungen verhindert. Der Artikel schreibt dies lediglich weiter.
Die Krise der antirassistischen Bewegung
Nun wäre es an und für sich müßig, sich an einem Ereignis abzuarbeiten, das bereits einige Monate zurückliegt. Doch der Protest am Münchner Rindermarkt wie auch das Desaster des Kölner Noborder Camps im Sommer 2012, bei dem die Auseinandersetzung um die konkrete Umsetzung von Perspektiven der kritischen Weißseinsforschung eskalierte, verweisen auf eine fundamentale Krise in der antirassistischen Bewegung. Es fehlt sowohl an produktiven Debatten als auch an aktuellen politischen Analysen. So lässt sich jedoch nicht erfolgreich antirassistische Politik betreiben.
Wie notwendig diese wäre, zeigt ein Blick in eine beliebige Zeitung. Deutschland und Europa erleben derzeit neue rassistische Konjunkturen, aber auch Gegenmobilisierungen. Unter dem Slogan »We will rise« starteten Geflüchtete eine neue Welle selbstorganisierter Kämpfe, gleichzeitig organisieren AktivistInnen unter der Maxime »Das Problem heißt Rassismus« Widerstand gegen Nazis, Rechtspopulismus und rassistische Mobilisierungen gegen Geflüchtete und MigrantInnen. Hier muss sich eine antirassistische Bewegung einbringen. Aber zugespitzt zeigt sich an diesem Punkt eine Krise jener Strukturen, die sich einst als das Zentrum der antirassistischen Kämpfe verstanden und positioniert haben, denn sie fallen darin kaum auf.
Wir wollen damit nicht nur Support für selbstorganisierte Kämpfe von Geflüchteten oder eine verstärkte Teilnahme an antirassistisch-antifaschistischen Mobilisierungen einfordern. Ebenso wichtig wäre es, geschichtliches und in der aktuellen Praxis erworbenes Wissen über sich wandelnde Formen des Rassismus, Ausgrenzungsstrukturen, das Regieren von Migration und Widerstandsperspektiven einzubringen. Ansonsten erschöpft sich die Analyse der gegenwärtigen Rassismen in der nutzlosen Frage, ob die derzeitige rassistische Mobilisierung eine Wiederkehr der 1990er Jahre darstellt. Beispielhaft wird dies in der Jungle World diskutiert (Jungle World 46/13, 48-50/13, 01/14).
Zwar sehen auch wir in der massiven Einschränkung des Grundrechts auf Asyl 1993 und der damaligen rassistischen Mobilisierung in Deutschland einen zentralen Katalysator für das rassistische System von Grenz- und Migrationskontrollen in Europa. Auch ist es wichtig, die Kontinuitäten seit den 1990ern herauszuarbeiten. Weitaus notwendiger wäre jedoch eine Auseinandersetzung mit den aktuellen und europäisierten Modi des rassistischen Ausschlusses, die eben auch durch die Kämpfe gegen sie geprägt sind. Nur so ist zu verstehen, warum sich etwa die ProtagonistInnen von Lampedusa in Hamburg einem Eintritt in das System des individualisierten Asyls verweigern oder warum das Camp am Berliner Oranienplatz als Ort der Flucht aus dem Asyl eine so zentrale Bedeutung hat.
Die Frage des Asyls spielt heute eine andere Rolle als noch in den 1990er Jahren. Angesichts der neuen rassistischen Konjunkturen halten wir es für notwendig, die starke (deutsche) Fokussierung auf das Asylrecht aufzugeben. Denn letztlich ist die Asylpolitik nicht der ausschließliche Gradmesser, anhand dessen sich die gegenwärtigen, vielschichtigen Rassismen bestimmen lassen. Zudem führt die Konzentration auf Asyl zu einer Blockade der Politik. Denn die gegenwärtige Debatte um die verschiedenen Subjektpositionen von AktivistInnen, das Ringen um die Möglichkeit einer gemeinsame Perspektive und Praxis sowie die Festschreibung von Identitäten lassen letztlich für viele nur klassische Antifa-Arbeit oder Support für selbstorganisierte Flüchtlingskämpfe als Option erscheinen. Dies verengt den antirassistischen Horizont.
Für die Rückgewinnung des utopischen Moments
Neben den Fragen nach unterschiedlichen Identitäten und gesellschaftlichen Spaltungslinien und danach, welche Rolle diese in antirassistischen Widerstandsbewegungen spielen, geht es doch darum, das utopische Moment wiederzugewinnen, welches antirassistische Bewegungen immer in den Kämpfen von Geflüchteten und der Praxis der Migration gesehen haben: die Utopie einer gleichen rechtlichen, sozialen und politischen Partizipation, die Anerkennung eines sozialen Raumes, der über die Nationalstaaten hinausweist, letztendlich die Vision einer anderen Gesellschaft. Klar ist, dass diese Utopie nur aus gemeinsamen Kämpfen hervorgehen kann, aber ebenso klar ist, dass alle, jenseits von Herkunft, Staatsbürgerschaft etc., dabei etwas zu gewinnen haben.
Gerade unter dieser Perspektive müssen wir die Deutung der Räumung des Camps am Münchner Rindermarkt als Niederlage zurückweisen. Über den repressiven Charakter der Räumung und ihrer diskursiven Legitimation besteht kein Zweifel. Doch äußerte sich diese Etappe selbstorganisierter Kämpfe vor allem als Widerstand gegen den staatlichen Souveränitätsanspruch über das Leben. In ihrer Abfolge von Protestmärschen, Hungerstreiks und Protestcamps sehen wir die eigentliche Autonomie der Kämpfe, die den biopolitischen Zugriff des deutschen Asylsystems nicht nur aufzeigt, sondern zugleich aufbricht und den Möglichkeitsraum der Kämpfe damit zunehmend erweitert. Dies ist für uns der eigentliche Erfolg: nach dem Rindermarkt ist es in Bayern zu einer Vervielfältigung des Protestes und des Widerstands von Geflüchteten gekommen. Hierin liegt das Potenzial der gegenwärtigen Proteste, ihrer neuen Formen und AkteurInnen.
Max Buschmann und Bernd Kasparek sind aktiv in der »Karawane München. Für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen.«