Humboldts Erben
Kultur Das Humboldt-Forum in Berlin ignoriert koloniale Verstrickungen und betreibt eine nationale Nabelschau
Von Kien Nghi Ha
Die seit Jahren andauernde Kontroverse über Sinn und Unsinn des geplanten Humboldt-Forums hat sich in den letzten Monaten politisch deutlich zugespitzt. (Siehe Kasten) Anlässlich der Grundsteinlegung forderte die im Juni 2013 initiierte Kampagne No Humboldt 21! ein Moratorium des strittigen Bauvorhabens. Nur so sei es möglich, die grundsätzlichen Probleme und offenen Widersprüche des wenig transparenten Nutzungskonzeptes in einer breiten, öffentlichen Debatte aufzuarbeiten.
Anfänglich unterstützten über 40 NGOs aus entwicklungs- und kulturpolitischen sowie diasporischen Zusammenhängen die Initiative. Inzwischen haben fast 80 Organisationen und Verbände aus dem In- und Ausland den Aufruf unterzeichnet. Dieser zivilgesellschaftliche Konflikt über die Notwendigkeit, dekoloniale Besitz-, Restitutions-, Reparations- und Repräsentationskonzepte in Kultur- und Bildungseinrichtungen zu entwickeln und institutionell zu verankern, weist eine globale Dimension auf, die weit über Deutschlands Grenzen hinaus von Bedeutung ist.
Die Konfliktlinien und Beweggründe der Kritik am geplanten Humboldt-Forum sind vielfältig. Ein zentraler Streitpunkt ist die Frage, inwieweit das Berliner Schloss nicht nur architektonisch, sondern auch politisch das antidemokratische Preußentum und koloniale Reminiszenzen positiv auflädt. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) ist Bauherrin und Trägerin des Humboldt-Forums. Ihr Präsident Hermann Parzinger bezeichnet das Vorhaben in einer Werbebroschüre als »das wichtigste Kulturprojekt in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts«. Den historischen Altlasten Deutschlands gewinnt er überraschende Seiten ab, wenn er schreibt, das »Kulturerbe Preußens« eröffne »neue Perspektiven im interkulturellen Dialog«. Ungeklärt bleibt dabei, wie etwa die Berliner Konferenz von 1884/85 zur imperialistischen Zerstückelung Afrikas mit diesem Ansatz sinnvoll bearbeitet werden kann.
Humboldt-Manie in Berlin
Ein anderes öffentlichkeitswirksames Werbemotiv liegt in der Inszenierung der »kosmopolitischen Weltsicht der Brüder Humboldt« als ethischer Kompass des Forums. Mantraartig wird betont, die Humboldts stünden als nationale Galionsfiguren »für Gleichberechtigung der Weltkulturen, Aufklärung und die Neugier auf das Andere und das Fremde in der Welt«. Das Humboldt-Forum soll so als großzügiges Geschenk Deutschlands an die Welt präsentiert werden. Gleichzeitig ist dieser Habitus durchaus eigennützig: Schließlich geht es um nationale Selbstaufwertung im internationalen Standortwettbewerb der westlichen Metropolen mit ihren milliardenschweren Tourismus- und Kulturmärkten.
Die grassierende Humboldt-Besessenheit in Berlin ist ein auffälliges Motiv in der kollektiven Gedenkpolitik mit ihren allgegenwärtigen Erinnerungslandschaften. Die Humboldts sind eine kollektive Projektionsfläche und kulturpolitische Erfindung für das, was Deutschland eigentlich noch nie war. Damit erschafft die »Kulturnation« ein fantastisches und positiv gefärbtes Bild von sich, das kaum mit ihrer Geschichte vereinbar ist. Das nationale Label »Humboldt« ist allgegenwärtig: Wo Humboldt drauf steht, ist auch das Versprechen auf ein gutes Deutschland drin. Der Humboldt-Kult ist also auch im Sinne einer nationalen Inszenierung zu lesen und zu dekonstruieren.
Vor diesem Hintergrund hinterfragt die Kampagne No Humboldt 21! das kanonisierte Bild Alexander von Humboldts (1769-1859) als humanistischer und weltoffener Wissenschaftsheld und unterzieht seine (wissenschafts-)politische Rolle während seiner hoch gepriesenen Forschungsreise in Südamerika einer kritischen Relektüre. Humboldts eigene Aufzeichnungen in seinem Buch »Die Reise nach Südamerika« bezeugen seine koloniale Kooperation und das gute Verhältnis zur spanischen Krone. Als Gegenleistung für Reisevisa und andere Privilegien versorgte Humboldt die Kolonialverwaltung mit »Abschriften des von mir gesammelten Materials über die Geographie und Statistik der Kolonien, das dem Mutterlande von einigem Nutzen sein konnte«.
Die wissenschaftlichen Ergebnisse seiner sogenannten Entdeckungsreisen entstanden in Zusammenarbeit mit einem kolonialen Ausbeutungs- und Unterdrückungsregime und dienten ihm willentlich. Der renommierte Lateinamerikanist Michael Zeuske befindet in dem kürzlich erschienenen Sammelband »Kein Platz an der Sonne: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte« (2013), dass der junge Humboldt trotz seiner Kritik an den empirischen Verhältnissen »die Legitimität der Herrschaft der spanischen Krone über die Gebiete jenseits des Atlantiks nicht infrage [stellte]«. Diese koloniale Komplizenschaft lässt nicht nur Zweifel an der kosmopolitischen und wissenschaftsethischen Erhabenheit seines Gesamtwerks aufkommen. Sie nimmt auch die ihn ehrenden Institutionen in die Pflicht, für eine kritische Aufarbeitung zu sorgen.
Raub menschlicher Gebeine
Dies gilt umso mehr, als Humboldt als Wissenschaftler anscheinend weitaus skrupelloser war, als das nationale Heiligenbild es bisher wahrhaben will. So beschreibt er in seinen Reiseerzählungen, wie seine Reisegruppe im Jahr 1800 in der Höhle von Ataruipe (im heutigen Venezuela) mehrere Leichenskelette und Schädel der indigenen Atures gegen den erklärten Willen ihrer Angehörigen heimlich an sich nahm, sie belog und sich dann davon schlich.
Ein Teil des Raubguts ging bei der Verschiffung verloren. Einen Schädel schenkte er seinem Mentor Johann Friedrich Blumenbach. Der Göttinger Professor für Anthropologie verwendete das menschliche Relikt für die Ausarbeitung seiner pseudo-wissenschaftlichen »Rassenkunde«. Humboldts »wissenschaftliches« Fehlverhalten ist also in diesem Fall mit der Etablierung rassenkonstruktivistischer Ideologeme verknüpft, die die biopolitische Grundlage für den »colonial divide« in der Moderne und darauf basierende rassistische Praktiken bilden.
Obwohl eine Reihe von Statements Humboldt als Vertreter eines auf Dialog und Akzeptanz setzenden Umgangs mit kolonialisierten Menschen und außereuropäischen Kulturen ausweisen, sind seine Positionen keineswegs so eindeutig und frei von Widersprüchen, wie gemeinhin suggeriert wird. Zahlreiche Stellen in Humboldts Werk zeigen, dass er Vertreter einer eurozentrierten Kultur- und Zivilisationsidee war.
Zum Beispiel bilden ihm zufolge die »halbbarbarischen Völker« Südamerikas mit ihren »unförmigen Idolen« den Gegensatz »zu den gemeißelten Meisterwerken des Praxiteles und des Lysippos«. Und weiter: »Wundern wir uns nicht über die Rohheit des Stils und die Fehlerhaftigkeit der Umrisse in den Werken der Völker Amerikas.« Kulturentwicklung erscheint hier als linearer Fortschritt, bei der Europa durch seinen avancierten Status Vorbildcharakter hat.
Bedenklich muss auch stimmen, dass der Raub menschlicher Gebeine in der bisherigen Humboldt-Rezeption zwar nicht unbekannt ist, aber dort auf kein ausgeprägtes Forschungsinteresse stößt. Auch in der breiten Öffentlichkeit wird das historische Unrecht kaum zur Kenntnis genommen, weil anscheinend auch das Feuilleton kaum Aufklärungs- und Diskussionsbedarf sieht. Es könnte schließlich die Nationalikone in Verlegenheit bringen. So wird aber koloniales Unrecht in der Gegenwart reproduziert.
Anfang März 2014 sind die für zwölf Millionen Euro angekauften Reisetagebücher Humboldts in Berlin angekommen. Wie beim hochoffiziellen Festakt verkündet wurde, sollen die rund 4.000 Seiten in einem drei Millionen Euro teuren Forschungsprojekt der SPK und der Universität Potsdam ausgewertet werden. Ob Humboldts koloniale Schattenseiten dabei erforscht werden, ist nicht bekannt. Das bisherige politische Desinteresse und Schweigen macht jedoch wenig Hoffnung.
Kolonialkritisch und kosmopolitisch?
Angesichts der politischen und wissenschaftlichen Bedeutung des Humboldt-Komplexes ist zu fragen, ob der Humboldt'sche Geist, der den Maßstab für »die Vermessung der Welt« (Daniel Kehlmann) vorgibt, nicht die erklärtermaßen kolonialkritische und kosmopolitische Ausrichtung des Kulturforums konterkariert. Wollte man statt der nationalen Nabelschau tatsächlich ein kulturpolitisches Zeichen durch einen Namensgeber mit Lateinamerika-Bezug setzen, dann wären Frantz Fanon oder Che Guevara spannendere Kandidaten. Ihre Namen würden zumindest kein müdes Gähnen, sondern nicht nur in dieser Weltregion ein Aufhorchen auslösen.
Eine andere Möglichkeit, das Verhältnis zwischen interkulturellem Dialog und der Dialektik kolonial-rassistischer Unterdrückung mit ihren weltweiten Befreiungskämpfen anzugehen, wären globale Symbolfiguren wie Mahatma Gandhi, Kwame Nkrumah, Ho Chi Minh und Nelson Mandela. Revolutionäre Frauen wie Phoolan Devi, Halide Edip Adivar oder Angela Davis hätten aber den Vorteil, dass sie die Frage der rassifizierten Gendergerechtigkeit im kolonialen und postkolonialen Kontext aufwerfen.
Die Namensdebatte ist aber sowieso erst wirklich sinnvoll, wenn die unbedenkliche Herkunft der Sammlungsbestände nach gültigen internationalen Standards zweifelsfrei sichergestellt ist, die strukturellen Machtverhältnisse bei der Konzeptionalisierung des Kulturforums neutralisiert und dekonstruierende Repräsentationsformen gefunden sind. Die Frage ist, ob das zukünftige Museumspublikum dann noch weiß, wer Humboldt ist.
Kien Nghi Ha ist Kulturwissenschaftler mit den Schwerpunkten Migration, postkoloniale Kritik und Rassismus.
Umstrittenes Humboldt-Forum
Der Wiederaufbau des Berliner Schlosses ist eines der umstrittensten Bauprojekte der jüngeren deutschen Geschichte. Teil des Neubaus wird das Humboldt-Forum, dessen Eröffnung für 2019 geplant ist. Berlins »außereuropäische Sammlungen« sollen von ihrem abgelegenen Standort Berlin-Dahlem ins Stadtzentrum ziehen - der größte Teil der über 500.000 Exponate kam im Zusammenhang mit kolonialen Eroberungen nach Berlin. Die Kampagne No Humboldt 21! kritisiert das Konzept daher als eurozentrisch und restaurativ und fordert ein Moratorium. Mit dem Humboldt-Forum würden der deutsche Kolonialismus rehabilitiert, Kulturen als »fremd« und »anders« diskriminiert, die Erforschung »außereuropäischer Kulturen« nicht problematisiert und kulturelle Schätze der Welt den Privilegierten im Norden vorbehalten. Der Aufruf kann weiterhin unterzeichnet werden, Infos unter www.no-humboldt21.de. Dort erscheint auch die Langfassung dieses Artikels.