Kleinkrieg im Hinterhof
International Die Ukraine ist geopolitisch zwischen Russland und dem Westen und deren imperialen Politiken eingeklemmt
Von Tomasz Konicz
Mit der Eskalation der geopolitischen Auseinandersetzungen um die Ukraine, die zur schwersten internationalen Krise seit dem Ende des Kalten Krieges ausartet, scheint das kapitalistische Weltsystem in seine finstere Vergangenheit katapultiert worden zu sein: in das Zeitalter des Imperialismus. Die »Großmächte« - der Westen wie auch Russland und China - scheinen nicht nur im Fall der Ukraine immer rücksichtsloser, offensiver und auch offener ihre macht- und geopolitischen Interessen zu vertreten.
Dabei bringt der Konflikt um die Ukraine innerhalb der westlichen »Wertegemeinschaft« zunehmend Differenzen an die Oberfläche. Während die USA und die osteuropäischen NATO-Staaten eine harte Haltung gegenüber Russland einnehmen und auf umfassende Sanktionen drängen, versucht die deutsche Bundesregierung sich in einer Vermittlerrolle zu positionieren und die Sanktionen gegenüber Russland auf ein Minimum zu beschränken.
Dieser deutsche Kurswechsel - der im scharfen Kontrast zu dem Jubel über den deutschen Verhandlungserfolg in Kiew steht, der dem Sturz der ukrainischen Regierung vorausging - ist vor allem durch wirtschaftliche Überlegungen motiviert. Russland bildet einen wichtigen Absatzmarkt für die deutsche Exportwirtschaft und ist ein wichtiger Lieferant von Energieträgern. Während die deutschen Investitionen in Russland sich inzwischen auf 22 Milliarden US-Dollar summieren, importierte die Bundesrepublik 35 Prozent ihres Erdöls und 40 Prozent ihres Erdgases aus der Russischen Föderation. Jede Sanktion habe »ihren Preis«, warnte deshalb die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Den deutschen Kurswechsel - der Differenzen zwischen Berlin und Washington aufzeigt - erläuterte die New York Times (NYT) am 3. März 2014. Demnach hätten sich deutsche DiplomatInnen den US-Plänen zur Verhängung scharfer Sanktionen und zum Ausschluss Russlands aus der G8 verweigert. Stattdessen hätten die Kanzlerin und viele ihrer westeuropäischen PartnerInnen auf »diplomatische Lösungen« und »beschränkte Aktionen« gegen Russland gesetzt. Frau Merkel sei aber auch eine »Verfechterin enger Bindungen der Ukraine an die Europäische Union« gewesen, die durchaus eine harte Linie gegenüber Russland einnehmen konnte - etwa in »Menschenrechtsfragen«, so die NYT. Da ein rascher und geräuschloser Umsturz in der Ukraine mitsamt der intendierten Westeinbindung des Landes nicht gelang, betreibt Berlin nun offensichtlich Schadensbegrenzung, um den wirtschaftlichen Fallout dieser Krise zu minimieren.
In den USA braucht man auf solche wirtschaftlichen Erwägungen kaum Rücksicht zu nehmen, da die wirtschaftlichen Verflechtungen beider Länder marginal sind. In Teilen Mittelosteuropas, wie etwa in den baltischen Ländern oder Polen, wird ebenfalls auf eine harte Haltung gegenüber Russland gedrängt. Hier sind noch Befürchtungen vor einem gen Westen gerichteten russischen Expansionsstreben - und mittelbar vor dem Verlust der eigenen Souveränität - zumindest innerhalb der politischen Klasse sehr lebendig. So war es etwa Polen, das eine Sitzung des NATO-Rats einberufen ließ, da es sich durch die russische Intervention in der Ukraine bedroht sah. Bei vielen östlichen NATO-Ländern ist das geopolitische Bemühen präsent, zwischen den eigenen Grenzen und Russland einen möglichst großen Puffer westlich orientierter Staaten aufzubauen.
Angesichts dieser aktuellen Differenzen geraten die gemeinsamen Interessen des Westens in den Hintergrund. Zum einen ging es Washington und Brüssel gemeinsam darum, die Formung eines eurasischen Konkurrenzbündnisses zur EU zu verhindern. Die vom Kreml forcierte »Eurasische Union« sollte etliche Volkswirtschaften des postsowjetischen Raums in einem nach dem Vorbild der EU strukturieren transnationalen Bündnissystems zusammenschließen. Neben Kasachstan und Belarus sollte diese Union auch die Ukraine umfassen.
Die Zollunion, die der Kreml einführte, gilt als erster Schritt zu diesem ambitionierten geopolitischen Projekt Putins. Hierdurch würde die EU, die sich längst angewöhnt hat, den Osten als ihren Hinterhof zu betrachten, ein ernsthaftes Gegengewicht erwachsen, wie die Wiener Zeitung bemerkte: »Die Eurasische Union wäre der russische Wirtschaftsblock zwischen dem Westen und China. Und mächtiger als die EU, denn Russlands Militär würde wohl eine gemeinsame Sicherheitspolitik anführen. Dieser Arm fehlt der Europäischen Union völlig. Mit einer voll ausgebildeten Eurasischen Union wäre die EU - auf Basis der jetzigen Warenströme - bei etlichen Rohstoff- und Energiesparten von Moskau abhängig. (...) Auf Basis all dieser Informationen versuchte die EU, die Ukraine mit einem Assoziierungsabkommen auf ihre Seite zu ziehen. Leider sagte Brüssel davon kein Wort.«
Und Russland? Ohne das sozioökonomische Potenzial der Ukraine bleibt das russische Projekt einer »Eurasischen Union« kaum realisierbar. Der Kreml würde sich auch künftig nicht »auf Augenhöhe« mit der EU befinden. Neben diesem zentralen strategischen Motiv spielen auch militärische und wirtschaftliche Überlegungen bei der Intervention des Westens eine Rolle. Die Ukraine verfügt über ausgezeichnete landwirtschaftliche Nutzflächen. Zudem könnte der industriell geprägte Osten des Landes aufgrund des niedrigen Lohnniveaus zu einer »verlängerten Werkbank« westlicher Konzerne umgebaut werden. Ein Beitritt der Ukraine zur NATO, der bereits diskutiert wird, käme einer schweren militärischen Niederlage Russland gleich, das nun einen »Pufferstaat« zum westlichen Militärbündnis verlieren würde. Die mittelfristige Verdrängung Russlands aus der Flottenbasis in Sewastopol würde schließlich den Aktionsradius russischer Streitkräfte massiv beschneiden.
Ukraine kann kein Pufferstaat mehr sein
Für Russland stellt die Auseinandersetzung um die Ukraine somit eine letzte Chance dar, auch zukünftig den Status einer Großmacht innezuhalten. Ohne die Ukraine sei Russland »kein eurasisches Reich mehr«, bemerkte etwa der US-Geopolitiker Zbigniew Brzezinski in seinem geopolitischen Klassiker »The Grand Chessboard« von 1998. Der »Verlust« der Ukraine käme für den Kreml somit einem geopolitischen Super-GAU gleich, der die machtpolitischen Ambitionen Putins zunichtemachen würde. Mittelfristig würde sich bei einer Westintegration der Ukraine die wirtschaftliche und militärische Stellung der Russischen Föderation gegenüber dem Westen massiv verschlechtern, der gesamten Region drohe so die Zurichtung zur Peripherie des Westens, wie sie in Mittelosteuropa stattfand. Deswegen war eine scharfe Reaktion Moskaus auf den Umsturz in Kiew, bei dem die anscheinend als »Vermittler« agierenden europäischen Außenminister plötzlich für die vertragsbrüchige Opposition Partei ergriffen, eigentlich vorhersehbar. Russland wird alle machtpolitischen Möglichkeiten ausschöpfen, um die Westintegration der Ukraine zu verhindern. Sollten diese Bemühungen nicht fruchten, wird Moskau bestrebt sein, neben der Krim möglichst weite Regionen der Süd- und Ostukraine aus dem ukrainischen Staatsverband herauszulösen.
Am Ende dieses geopolitischen Ringens um die in einer schweren Wirtschaftskrise versinkende Ukraine könnte der Westen sich mit einem westukrainischen »Rumpfstaat« zufriedengeben müssen, in dem gerade die rückständigsten Regionen dieses auch sozioökonomisch gespaltenen osteuropäischen Landes zu finden wären. Dabei war es gerade die seit Jahren schwelende Wirtschaftskrise, die das Land zu einem Objekt geopolitischer Machtkämpfe machte: Der Status quo der Ukraine als ein unabhängiger »Pufferstaat« zwischen Russland und dem Westen war nicht mehr aufrecht zuerhalten, da diese durch hohe Handels- und Leistungsbilanzdefizite gekennzeichnete Volkswirtschaft nicht mehr ohne ausländische Finanzierung überlebensfähig war. Folglich musste sich Kiew irgendwann für eine West- oder Ostintegration - für Brüssel oder Moskau - entscheiden. Die um ihre Unabhängigkeit kämpfende ostukrainische Oligarchie, deren politischer Vertreter Janukowitsch war, bemühte sich jahrelang durchaus erfolgreich, diese Entscheidung durch einen geopolitischen Spagat, bei dem Kiew zwischen Moskau und Brüssel pendelte, bis zur Zuspitzung der Wirtschaftskrise 2013 hinauszuschieben.
Keine Hollywood-Gut-Böse-Einteilung
Die Krise des kapitalistischen Weltsystems spiegelt sich aber nicht nur in der ukrainischen Tragödie. Auch die weltweit zunehmenden geopolitischen Spannungen, etwa in Südostasien, sind auf die sich entfaltende Krisendynamik zurückzuführen. Die Staatsapparate reagieren auf die krisenbedingt zunehmenden Spannungen im Innern in der bekannten Art und Weise: mit forcierten Expansionsbemühungen nach außen. Es ist somit ein brandgefährlicher Krisenimperialismus, der auf globaler Ebene um sich greift - und der oberflächliche Ähnlichkeiten mit der Ära des Imperialismus des 19. Jahrhunderts aufweist.
Hierbei gibt es keinen qualitativen - wohl aber einen quantitativen - Unterschied zwischen Russland und dem Westen, der von Psychopathen wie dem Rechtsterroristen Alexander Muzychko geführte Nazibanden zur Durchsetzung seiner geopolitischen Ziele instrumentalisiert. Wenn das autoritäre Russland nun seine Intervention auf der Krim mit antifaschistischer Rhetorik legitimieren kann, dann sagt dieser Umstand eigentlich alles über die faschistisch durchsetzten Kräfte, die mit breiter Unterstützung des Westens in Kiew an die Macht kamen und nun eine massive Faschisierung der ukrainischen Gesellschaft einleiten.
Nichts wäre für die linke Gegenöffentlichkeit verkehrter, als die an Hollywoodfilme erinnernde Gut-Böse-Einteilung, die die öffentliche Berichterstattung über den Ukrainekonflikt maßgeblich prägt, einfach mit verkehrten Rollen (guter Putin, böser Westen) zu reproduzieren. Die im Medienmainstream betriebene Dämonisierung Russlands blamiert sich genauso wie die Glorifizierung des autoritären und homophoben Putins zu einem Antifaschisten oder »Antiimperialisten«. Staaten agieren zwar wie Subjekte auf der Weltbühne, sie fungierten aber noch nie als Subjekte menschlicher Emanzipation.
Von Tomasz Konicz erschien gerade das Ebook »Krisenideologie: Wahn und Wirklichkeit spätkapitalistischer Krisenverarbeitung« im Verlag Heinz Heise.