Die Welt verändern und die Macht übernehmen
Europa Ein Wahlsieg von SYRIZA könnte Antworten auf das strategische Dilemma der Bewegungen geben
Von Mario Neumann
Die herrschenden Akteure in Europa zeigen sich weiterhin unbeeindruckt von den massiven Protesten und Bewegungen der Subalternen. In dem Moment, in dem selbst die indirekte Einflussnahme der sozialen Bewegungen auf den Verlauf der herrschenden Politik an ein vorläufiges Ende gekommen ist, müssen sich jene strategisch neu erfinden. Gesucht wird eine orientierende Alternative: einerseits zur Einhegung und Domestizierung der Linken im Staat und andererseits zur letztlich folgenlosen Dauerbewegung der Bewegungen.
Ein strategisches Angebot an die europäische Linke kommt dabei aus Griechenland. Das Parteienbündnis SYRIZA möchte den nächsten Schritt unternehmen und bereitet derzeit eine künftige Linksregierung vor. Die Linke in Deutschland und Europa täte gut daran, sich auf der Höhe des Problems mit diesem Angebot zu befassen, statt auf altbekannte und unscharfe Deutungsmuster zurückzugreifen.
Nicht zuletzt, weil sie in den bevorstehenden Auseinandersetzungen eine Rolle spielen kann und muss. Die Europawahl ist hierfür eine nicht unwichtige Generalprobe auf die bestehenden Kräfteverhältnisse in Europa und kann in Griechenland die SYRIZA-Frage schon bald auf die Tagesordnung setzen.
Eindrucksvolle Kreisbewegungen
Massenbewegungen, Generalstreiks, Platzbesetzungen und solidarische Netzwerke auf der einen, die rücksichtslose und unbeeindruckte Fortsetzung der Austeritätsprogramme und des autoritären Umbaus der Gesellschaft auf der anderen Seite: So ließe sich der Verlauf der gesellschaftlichen Auseinandersetzung der letzten Jahre in Südeuropa, insbesondere in Griechenland, in Kurzform zusammenfassen.
Das aktuelle strategische Dilemma der europäischen Bewegungen ist schnell erzählt: Es gelingt weder, die »besetzten Plätze zu halten« (Kastner), noch im Jenseits der offiziellen Politik effektiv Gegenmacht aufzubauen und zu organisieren. Dadurch verbleiben die durchaus erfolgreichen Mobilisierungen der letzten Jahre auf der Ebene symbolischen Protests und adressieren implizit weiterhin die herrschenden Akteure. Diese sind jedoch nicht einmal mehr in ihrem instrumentellen Interesse an einer Einhegung der Bewegungen ansprechbar.
In dieser Situation führt kein Weg an einer Aktualisierung und Erweiterung der politischen Strategie auf das weitestgehend unerschlossene Terrain der »Hauptquartiere der Macht« (Candeias/Völpel) vorbei. Einerseits ist die indirekte Einflussnahme der sozialen Bewegungen auf staatliches Handeln versperrt, weswegen diese zwingend eine eigenständige Handlungs- und Durchsetzungsperspektive entwickeln müssen.
Ohne eine Option auf politischen Erfolg frustrieren diese Bewegungen auf Dauer große Teile ihrer Anhängerschaft genauso, wie es gescheiterte und scheiternde Linksregierungen tun. Andererseits verbietet sich die Fortsetzung eines bloß symbolischen Politikkonzepts und der letztlich erfolglosen Abwehrkämpfe schon allein aufgrund der durch die humanitäre Katastrophe gebotenen Dringlichkeit, deren fortwährende Missachtung ein wesentliches Markenzeichen der deutsch-europäischen Krisenpolitik geworden ist.
Wenn ein Teil der Linken sich aus Rücksichtnahme auf die Reinheit seiner Lehre dieser moralisch und politisch gebotenen Aufgabe nicht stellt und aus Angst um die Beschädigung des eigenen Fernziels gelähmt bleibt, wird sie sich niemals als glaubwürdige Ansprechpartnerin der Subalternen etablieren. Der politisch reflektierten Ersten Hilfe, auch einer möglichen Regierung, kommt unter den gegenwärtigen Bedingungen eine weitaus größere »revolutionäre« Symbolik zu, als dem ohnmächtigen und lähmenden Beharren auf quasi-religiösen Bildern einer »befreiten« Gesellschaft.
Allerdings bieten Solidarität, Selbstorganisation und Basisdemokratie auf der anderen Seite noch keine Antworten auf die strategische Frage einer dringend nötigen Durchsetzungsperspektive. Diese Aufgabenstellung mit dem Verweis auf zukunftsweisende, neue soziale Praxen zu überspringen und als bereits erledigt zu betrachten, ist ein gut gemeinter, aber politisch fataler Irrtum.
SYRIZA als Partei neuen Typs
Die Verbindung einer langfristig angelegten Transformationsperspektive mit konkreter Handlungsfähigkeit ist die wesentliche Aufgabe, vor der die Linke als gesellschaftlicher Akteur in Europa steht. Diese Aufgabe lässt sich weder mit blinder Praxis, noch rein theoriegeleitet bewältigen, sondern nur in einer wirklichen Bewegung der Köpfe und der Körper, die diese tragen.
Weite Teile der südeuropäischen Bewegungen stellen sich aktuell dieser Herausforderung. Neben den Versuchen der Initiierung eines konstituierenden Prozesses, der freilich perspektivisch ebenso der Ergänzung um eine Durchsetzungsperspektive bedürfte, steht dabei erneut die Eroberung der Staatsapparate auf der Agenda der Linken; dieses Mal allerdings nicht als etatistisch-sozialdemokratisches Alternativprojekt zu den Bewegungen, sondern als strategisch wichtiger nächster Schritt der gesellschaftlichen Linken.
Zentraler Akteur in diesem Spannungsfeld ist in Griechenland das Parteienbündnis der radikalen Linken: SYRIZA. Dessen Umfragewerte liegen derzeit - als landesweit stärkste Partei - bei ca. 28 Prozent, und es ist nicht auszuschließen, dass die Europawahl für vorgezogene Parlamentswahlen in Griechenland sorgen wird, die europäische Linke also schon bald einen neuen Bündnisfall zu bearbeiten hat.
Die erfreuliche Nachricht dabei ist, dass sowohl die Anatomie der Partei als auch die in ihrem Umfeld stattfindenden Debatten nicht darauf hindeuten, dass sich der klassische Irrtum linker Regierungsbeteiligung umstandslos wiederholt. Einiges deutet jedenfalls darauf hin, dass sich die Dynamik nicht im altbekannten Sinne entwickelt.
SYRIZA ist in ihrer Entstehung und inneren Zusammensetzung fraglos als Partei neuen Typs zu bezeichnen. Ihr spektrenübergreifender, post-identitärer Gründungsansatz verbindet sich spätestens seit Ausbruch der ökonomischen Krise mit einer organischen Beziehung zu den sozialen Bewegungen und einer emphatischen Begleitung der solidarischen Initiativen. Viele ihrer AktivistInnen sind keine klassischen Politprofessionellen und entstammen ursprünglich den sozialen Bewegungen; die Partei agiert mit diesen auf Augenhöhe und reklamiert weder einen Führungsanspruch noch die Vorrangigkeit des Feldes staatlicher Politik.
Eine mögliche linke Regierung wird von SYRIZA auch nicht als Endpunkt gesellschaftlicher Mobilisierung, sondern als nächster Schritt in einem umfassenden Transformationsprozess konzipiert. Der gesellschaftliche Charakter linker Politik soll auch im Falle der Regierungsverantwortung erhalten bleiben.
SYRIZA verfolgt darüber hinaus eine europapolitische Agenda und verwirft Ideen vom »Sozialismus in einem Land«. Diese Konzeption ermöglicht zumindest prinzipiell eine oppositionelle und konfrontative Regierungspolitik und eine Politisierung der politischen Ohnmacht nationaler Regierungen. Sie stellt somit eine Dynamisierung des politischen Konflikts in Europa und nicht dessen Stillstellung in Aussicht.
Taktik ist nicht alles
Dabei setzt man bei SYRIZA taktisch auf mindestens vier Faktoren: erstens auf den möglichen Dominoeffekt einer offensiven Zurückweisung der Troika-Forderungen in anderen südeuropäischen Ländern, zweitens auf die politische Unterstützung der europäischen Linken für einen »europäischen New Deal«, drittens auf das Faustpfand eines griechischen Austritts aus der Währungsunion, der eine machtvolle Verhandlungsoption und eine Neuverhandlung der Schulden in Aussicht stellen soll, und viertens auf die ungebrochene Stärke der griechischen Bewegungen.
Alle vier Faktoren sind instabil und als Machtquellen äußerst schwer einzuplanen. Insofern sind alle Prognosen über den möglichen Verlauf auf Sand gebaut und werden sich im Handgemenge beweisen und verändern müssen. Klar ist jedoch, dass alle Hoffnungen auf die erfolgreiche Umsetzung eines sozialistischen Regierungsprogramms enttäuscht werden müssen. Die imaginierte Zentralität der staatlichen Politik für gesellschaftliche Veränderung muss mit Recht bestritten werden. Substantielle gesellschaftliche Veränderungen lassen sich nicht aus der Position einer nationalen Regierung, erst recht nicht unter den derzeitigen Machtverhältnissen in Europa, quasi als Regierungsprogramm umsetzen.
Dem entsprechend wäre es aber auch aus Perspektive einer staatskritischen Linken falsch, eine mögliche Regierungsübernahme SYRIZAs an diesem Maßstab zu messen. Wenn der Staat nicht als neutrales Instrument der Gesellschaftsplanung zur Verfügung steht und in ökonomischen Abhängigkeiten steht, heißt dies nicht automatisch auch, dass sich alle politische Initiative in seinem Jenseits abspielen muss. Vielmehr geht es um eine Perspektive auf den produktiven Umgang mit gesellschaftlichen Widersprüchen im Staatsapparat.
Die einzig realistische und gleichsam interessante Perspektive ist die eines »erfolgreichen Scheiterns« (Candeias/Völpel) linker Regierungspolitik. Was aber könnte eine linke Regierung für die Bewegungen und die außerparlamentarische Linke bedeuten, wenn nicht die Einlösung eines Wahlprogramms?
Jenseits der Wahlversprechen
Die Wahl von SYRIZA würde zuallererst eine Ermächtigung der griechischen Bevölkerung ausdrücken, sich nicht der aktiv hergestellten Alternativlosigkeit des gegenwärtigen Kapitalismus zu unterwerfen, sondern den neoliberalen Zauber der politischen Nicht-Auseinandersetzung zu brechen. Die Wahl wäre damit eine wirkliche Wahl: An der Stelle der fortgesetzten Befolgung scheinbar alternativloser kapitalistischer Naturgesetze stünde ein Votum für die unabgeschlossene Suche einer wirklichen, im besten und aktuellen Sinne politikunfähigen Alternative, frei nach der guten, alten Formel »Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche«. In Form eines Platzhalters könnte so eine SYRIZA-Regierung im Zusammenspiel mit den gesellschaftlichen Bewegungen die Frage einer anderen Gesellschaft neu ins Spiel bringen und die latenten Legitimationskrisen des kapitalistischen Zombies neu befeuern.
Gleichzeitig ist der symbolisch wichtige Schritt von einer Praxis des Widerstands zu einer Strategie des Siegeszugs im Hier und Jetzt begrüßenswert. SYRIZA stellt die Machtfrage jenseits des romantisierten Aufstands, nämlich in der Perspektive einer Opposition in Regierung. Der mögliche Wahlerfolg von SYRIZA wäre aus dieser Perspektive von Bedeutung, um den Horizont eines sich in Entwicklung befindenden, substanziell gesellschaftlichen Antagonismus' in Europa um die Ebene der parlamentarischen und institutionellen Auseinandersetzung zu erweitern.
Dieser Antagonismus artikuliert einerseits den Klassenstandpunkt der Subalternen, von dem aus »Krisenlösung« nur die Verbesserung der Lebensbedingungen der Lohnabhängigen bedeuten kann. Andererseits steht er für ein Aufbegehren gegen das Herrschaftsprojekt des There is no alternative und eine Neubestimmung der zunehmend ausgehöhlten parlamentarischen Demokratie in Richtung gesellschaftlicher Selbstbestimmung.
Sollte es SYRIZA gelingen, diese Perspektive von unten auch in die machtpolitischen Auseinandersetzungen um Europa einzubringen, anstatt die systemischen Zwänge von oben an die eigene Bevölkerung weiterzugeben, wird dieser tabuisierte Konflikt endlich auch Gegenstand der politischen Auseinandersetzung in Europa sein müssen. Das Begehren nach substanzieller gesellschaftlicher Veränderung auch in den Institutionen der EU zu einem Machtfaktor zu machen, kann einen neuen Aktionsraum für die Bewegungen öffnen und schafft den Korridor für eine Ausweitung des effektiven Bruchs mit den bestehenden Verhältnissen.
Es bleibt abzuwarten, ob sich das organische und konfliktive Verhältnis von Bewegung und Partei auch in einer von SYRIZA geführten Regierung aufrechterhalten lässt. Dies wird sich nicht zuletzt daran entscheiden, ob SYRIZA die Grenzen des Nationalstaats und der politischen Form auch in der Regierung erfolgreich politisieren kann und ob die Bewegungen einen Modus finden, eine linke Regierung vor sich herzutreiben, ohne sie unnötig zu provozieren.
Eine zentrale Frage wird außerdem sein, gelingt es SYRIZA, die Bewegungen und ihre beachtlichen Initiativen, in denen andere soziale Verhältnisse und neue Modelle der solidarischen, nicht-staatlichen sozialen Infrastruktur vorweg genommen werden, nachhaltig zu stärken und zu unterstützen - und ob hier eine fruchtbare Interaktion in Gang kommt.
Auch eine Veränderung der Staatsapparate, ihre Öffnung in die Zivilgesellschaft sowie solidarische und kreative Übergangslösungen für das Problem der ökonomischen Abhängigkeiten - jenseits einer künstlichen Beatmung des fordistischen Sozialstaats - stehen auf der Agenda. Wenn allerdings stattdessen falsche Hoffnungen und Heilserwartungen an die Regierungstätigkeit geweckt werden, führt deren Enttäuschung in die Resignation oder, schlimmer noch, zu einer Stärkung der faschistischen Bewegungen.
Bei alledem ist eins klar: Es gibt keinen Masterplan und er könnte auch nicht eingehalten werden. Das europäische Kräfteverhältnis wird maßgeblich über den Fortgang der politischen Entwicklung entscheiden - vor und nach der Wahl. Insofern steht für die Linke einiges auf dem Spiel, wenn SYRIZA die Kampfzone ausweiten und den Konflikt in Europa vertiefen sollte. Der Verlauf dieser Auseinandersetzung wird sich auch an der Stärke der Bewegungen und der Linken im Rest von Europa entscheiden.
Europa brennt, Deutschland pennt
Die Einsicht in den Herrschafts- und Klassencharakter der parlamentarischen Demokratie gehört in vielen Ländern Südeuropas mittlerweile zum Allgemeinwissen. Es stellt sich dort also nicht mehr die Aufgabe, diesen Herrschaftscharakter bürgerlicher Demokratie nachzuweisen und sich ihr zu verweigern, sondern den Widerstand der Bewegungen auch in ihr politisch zu organisieren.
Auf diesem Niveau der Aufgabenstellung müsste sich die deutsche Linke, die sich hier bisher vor allem durch erstaunliches Desinteresse hervortut, in den Konflikt rund um SYRIZA einbringen. Dabei geht es nicht um ein »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«. SYRIZA muss und wird von den Bewegungen und der außerparlamentarischen Linken kritisiert werden. Wer hier allerdings nur die Wiederaufführung des parlamentarischen Theaters erblickt, sollte ein wenig mehr politisches Fingerspitzengefühl entwickeln.
Zur Wahl steht keine Partei des Politikbetriebs, sondern eine Organisation der gesellschaftlichen Linken. Diese wird - wie bei den letzten Wahlen - massiven Angriffen der herrschenden Akteure und Klassen ausgesetzt sein. Ihre Erfolgschancen hängen nicht zuletzt davon ab, ob sich das europäische Kräfteverhältnis zuungunsten der Troika und der deutschen Hegemonie in Europa verschiebt.
Die Linke in Europa muss sich daher klar sein, dass sie Teil dieser realen Auseinandersetzung ist. Für deren Verlauf sind die Europawahlen, die europaweiten Aktionstage im Vorfeld, der Jugendarbeitslosigkeitsgipfel in Turin und die Blockade der EZB-Eröffnung im Herbst bei Weitem nicht die Einzigen, aber auch nicht die unwichtigsten nächsten Stimmungstests.
Mario Neumann lebt in Berlin und ist organisiert in der Interventionistischen Linken (IL).