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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 593 / 15.4.2014

Mit dem Schuhkarton auf die Demo

International Erdogan gewinnt die Kommunalwahlen trotz Korruption und Gezi-Protesten

Von Fatma Umul

Seit dem 17. Dezember 2013 - seit die Korruptionsfälle der türkischen Regierung bekannt wurden - findet in den türkischen Medien tagtäglich eine neue Theaterinszenierung statt. Auf die Bühne darf, wer die Tragikomödie des Machtspiels affirmiert. Wer der staatlichen Inszenierung widerspricht, wird in die hintere Zuschauerreihe gedrängt und bekommt von der Regie die Rolle eines Verräters zugewiesen. Eine Umbesetzung des Ensembles bleibt zunächst aus.

Der viel zitierte Slogan der Geziparkproteste »Dies ist erst der Anfang - der Kampf geht weiter« lässt viele nach Veröffentlichung der offiziellen Ergebnisse der Kommunalwahlen vom 30. März 2014 fragen: »Was ist das eigentlich für ein Anfang?« Erdogan hielt in der Nacht der Kommunalwahlen, während die Stimmzettel ausgezählt wurden, die vierte Balkonrede seiner elfjährigen Regierungszeit. Neben dem übertriebenen Auftritt mit seiner Familie, inklusive seinem Sohn Bilal, gegen den Korruptionsvorwürfe erhoben werden, war vor allem die rhetorische Anspielung auf die »neue Türkei« auffällig: »Meine Schwestern und Brüder, ihr habt im Kampf um die Unabhängigkeit die neue Türkei verteidigt.«

Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 90 Prozent erhielt am Sonntag die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) 44,2 Prozent der Stimmen. Hinter ihr rangieren die Republikanische Volkspartei (CHP) mit 28,6 Prozent und die Partei der nationalen Bewegung (MHP) mit 15,9 Prozent. Die Partei für Frieden und Demokratie (BDP) - die Partei der kurdischen Befreiungsbewegung - ist mit 3,8 Prozent als letzte relevante Partei zu nennen. Grundsätzlich gilt: Wer die Kommunalwahlen in Istanbul gewinnt, kann auch bei den anstehenden Parlamentswahlen auf die meisten Stimmen zählen.

Nach den Protesten im Juni 2013 war die Hoffnung auf einen politischen Wechsel groß. Da es keine parteipolitische Alternative gab, diskutierten die TeilnehmerInnen der Proteste, ob die Demokratische Partei der Völker (HDP) mit dem Kandidaten S?rr? Süreyya Önder gewählt werden sollte oder ob man nach dem Prinzip des »kleineren Übels« strategisch den Kandidaten der CHP seine Stimme gibt, um die AKP zu schwächen und ihre Widerwahl zu verhindern. Önder hatte als Abgeordneter im türkischen Parlaments den Stopp der Bauarbeiten im Gezi-Park als Reaktion auf die Forderungen der ersten Proteste mit durchgesetzt. HDP, ein Ableger der BDP im westlichen Teil der Türkei, versteht sich als ein heterogener Zusammenschluss, in dem sich unter anderem auch LGBT-AktivistInnen finden. (1)

Äußerst fraglich bleibt, ob die Wahlergebnisse korrekt zustande gekommen sind. In der Wahlnacht gab es in mehreren Städten Elektrizitätsausfälle. Neben solchen Unregelmäßigkeiten wurden darüber hinaus Wahlzettel in Gräben aufgefunden, die dadurch der Zählung offensichtlich bewusst entzogen wurden.

Unregelmäßigkeiten bei der Stimmauszählung

Seit den Protesten im Juni letzten Jahressteigert Erdogan in seinen Reden die Drohungen gegen Oppositionelle. Wer sich den Zielen zum vermeintlichen Vorankommen der Türkei entgegensetzt, werde - so Erdogan in einer Rede am 27. März - »bis zum Ende verfolgt«. Das Vorankommen der Türkei als ein mächtiges Land, erklärt Erdogan, werde durch die Zinslobby, die internationale Presse, den Parallelstaat und die Terroristen verhindert. Zustimmung findet er damit bei vielen seiner WählerInnen, die bei Versammlungen voller Überzeugung seinen Namen und arabische Gebetsverse rufen.

Mit Parallelstaat meint Erdogan die Gülen-Gemeinde (türk.: Cemaat), die in der Türkei über eine lange Tradition verfügt. Diese wird meist als eine Bewegung dargestellt, die ein gemäßigtes Islamverständnis vertritt. Ihr Hauptfokus liegt auf Bildung. Demzufolge besitzt Cemaat sowohl in der Türkei als auch international zahlreiche Schulen und Kulturzentren. Fethullah Gülen, der in den USA lebt, gilt dort im interreligiösen Dialog als ein anerkannter Akteur.

Der gebildete Anteil derjenigen, die das gemäßigte Islamverständnis des bekannten Predigers teilen, ist sehr hoch. Das war für Erdogan ein Grund, warum er zu Beginn seiner ersten Amtszeit mit Gülen-AnhängerInnen zusammenarbeitete. Der hohe Anteil der akademischen AnhängerInnen führte dazu, dass viele Posten in Justizanstalten oder in Polizeieinrichtungen bekamen.

Cemaat besitzt in der Türkei neben Bildungseinrichtungen auch die Zeitung Zaman und den Fernsehsender Samanyolu TV. Der aktuelle Stimmanteil bei den Wahlen wird auf höchstens fünf Prozent geschätzt. Kritische Stimmen, die Cemaat analysieren, sehen in ihm einen Fanatiker, der zugleich sehr diplomatisch agiert.

Wer Korruptionsvorwürfen nachgeht, wird entlassen

Ein Blick auf die Ereignisse seit dem 17. Dezember, die die Öffentlichkeit in der Türkei aufrüttelten, könnte zu einem Verständnis der Entwicklungen in den letzten Monaten führen. Am 17. Dezember begannen die Razzien wegen Korruptionsverdacht, die vom Istanbuler Polizeidezernat Abteilung für organisiertes Terrorverbrechen und Schmuggel eingeleitet wurden. Der Befehl kam vom stellvertretendem Oberstaatsanwalt Zekeriya Öz, unter der Anleitung von Staatsanwalt Celal Kara. Zekeriya Öz war auch bei den Ergenekon-Prozessen tätig. (2) Zunächst einmal wurden 37 Menschen, darunter auch Söhne des Innenministers, des Umweltministers und des Wirtschaftsministers, festgenommen. Außer MitarbeiterInnen aus staatlichen Ministerien und Bauunternehmen wurden auch private Unternehmer und der Vorsitzende der Halk-Bank festgenommen.

Gegenwärtig laufen drei Verfahren. Im ersten Untersuchungsausschuss wird wegen korruptionsverdächtigem Geldtransfer, Pseudo-Export, Bestechung und Steuerhinterziehung ermittelt. Im zweiten Untersuchungsausschuss geht es um Beschädigung des Staatseigentums, Bestechung, Verletzung der Gesetze und der Beschlüsse der jeweiligen Gemeinderäte. Im dritten Untersuchungsausschuss wird der Frage nachgegangen, ob die Fatih-Gemeinde ihren Landbesitz im historischen Schutzgebiet für Bauvorhaben zugänglich gemacht hat und außerdem Baugenehmigungen in der Nähe der Marmaray trotz Einsturzgefahr (der U-Bahn unter dem Bosporus) erteilt hat.

Dass staatliche Bauunternehmen tief in die Korruption verstrickt sind, ist bereits lange ein offenes Geheimnis. Seit im Haus des Halk-Bank-Vorsitzenden in einem Schuhkarton 4,5 Millionen Dollar gefunden wurden, sind Schuhkartons zu einem gängigen Accessoire bei Demonstrationen geworden.

Auf den ersten Schock folgten kurz darauf zahlreiche Absetzungen und Neubesetzungen in den Ministerien und anderen Ämtern. Das war der Versuch Erdogans, die staatlichen Institutionen von Cemaat-AnhängerInnen zu säubern, auf die er sich noch zu Beginn seiner politischen Karriere hatte stützen können. Fünf PolizistInnen in leitenden Positionen wurden von den Untersuchungen abgezogen. Zahlreiche Staatsanwälte, die mit den Fällen betraut waren, wurden abgesetzt und festgenommen. Die Vorschriften für Organisation und Vorbereitung solcher Operationen wurden dahingehend geändert, dass zukünftig keine Aktionen ohne Wissen der verantwortlichen Stellen durchgeführt werden konnten. Mit dieser Regelung werden Untersuchungen, die die Machthabenden tangieren, vorbeugend verhindert. Außerdem wurden ab dem 22. Dezember die Pressestellen in Polizeipräsidien abgeschafft.

Ein Skandal folgte dem nächsten: Am 25. Dezember wurden weitere Korruptionsfälle aufgedeckt. Muammer Akkas, ebenfalls ein Staatswalt der Ergenekon-Prozesse, leitete den Prozess ein. Unter den 41 Verdächtigen ist auch Erdogans Sohn Bilal. Bekannt wurde, dass es dabei zu Konflikten zwischen der Staatsanwaltschaft als gesetzgebende Gewalt und der Polizei als ausführende Gewalt kam. Demzufolge wollten der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte die zweite Operation gegen Korruptionsverdächtige durchführen, aber die verantwortlichen Polizeipräsidien wehrten sich dagegen.

Die betroffenen Minister erklärten ihren Rücktritt und forderten Erdogan ebenfalls dazu auf. Erdogan wechselte stattdessen aufgrund der zahlreichen Rücktritte sein halbes Kabinett aus und wechselte ihm nicht geneigte BeamtInnen aus. In Ankara wurden am 6. Januar 2014 in einer Nacht 350 PolizistInnen ausgetauscht. In den folgenden Tagen wurden in verschiedenen Städten 15 Polizeichefs sowie 20 StaatsanwältInnen und RichterInnen, die an Korruptionsprozessen arbeiten, entlassen. Gleichzeitig startete Erdogan eine aggressive Propaganda gegen den in Pennsylvania ansässigen Fethullah Gülen, den er als Drahtzieher hinter allem ausmachte.

Twitter und Youtube sollen schweigen

Um sich im Land Ruhe zu verschaffen, wurde ein Internetgesetz eingeführt, mit dem dem Ministerium für Kommunikation autonome Handlungsmöglichkeiten übertragen wurden. Danach können staatliche Behörden unter anderem im Falle von unangemessenen Inhalten im Internet innerhalb von vier Stunden diese aus dem Verkehr ziehen und die AutorInnen verfolgen. Alternative Zugangsmöglichkeiten werden ebenfalls verhindert.

Am 20. März verkündete Erdogan die Schließung von Twitter anhand eines Gerichtsbeschlusses. Internationale Kritik gehe ihn nichts an, schrie er in die Massen, die ihm auf einer seiner Wahlveranstaltungen zujubelten. Mittlerweile musste der Twitterzugang aufgrund eines Gerichtsbeschlusses wieder geöffnet werden.

Als unter dem Youtube-Account »der Oberdieb« zahlreiche Tonaufnahmen von Gesprächen zwischen Ministern veröffentlicht wurden, wollte Erdogan auch diesen Sumpf austrocknen. Ins Netz gestellt wurde unter anderem ein Gespräch zwischen Erdogan und seinem Sohn, datiert vom Tag der ersten Razzia, in dem er seinen Sohn auffordert, »das Geld« von zuhause an einen anderen Ort zu bringen. Es folgten weitere Veröffentlichungen, darunter auch Gespräche im Außenministerium über einen möglichen Angriff auf Syrien. Für die Abhörskandale kennt Erdogan nur ein einziges Erklärungsmuster - Gülen Cemaat. Der Zugang zu Youtube wurde mit einem Verweis auf die nationale Sicherheit verwehrt.

Sowohl innenpolitisch als auch auf der Bühne der internationalen Politik gelingt es Erdogan, Anklang zu finden und gleichzeitig jegliche Kritik abzuwehren. Wenn er in Deutschland aufgrund des Polizeiterrors während der Proteste kritisiert wird oder dahingehend eine Frage gestellt bekommt, verweist er im Gegenzug auf die Vorgehensweisen der deutschen PolizistInnen bei Occupy Frankfurt oder bei den Ereignissen im Dezember in Hamburg.

Die Liste der Skandale wird immer länger; was die Proteste jedoch tatsächlich bewirkt haben, bleibt zunächst ungewiss. Der Anstieg der Wahlbeteiligung in den letzten Jahren von circa 77 Prozent auf fast 100 Prozent unter den türkischen StaatsbürgerInnen wird als ein Erfolg der Proteste rezipiert. Der Kolumnenverfasser Taflan Kandemir schreibt, ein Gewinn sei es, dass trotz alledem eine Generation existiere, die jegliche Kategorisierung ablehne. Der einzige Fehler, den die Gezi-Protestierenden gemacht hätten, sei gewesen, zu glauben, in neun Monaten an einer seit zehn Jahren währenden politischen Macht rütteln zu können.

Die Journalistin Pinar Ögünç spricht den meisten, die die Ergebnisse der Wahlen als den Beginn einer Ein-Mann-Autorität ohne Schranken deuten, aus der Seele: »Seit dem 17. Dezember lebt die Türkei in einer anderen Welt. Man weiß auch nicht mehr, worüber man sich zuerst aufregen soll. Es ist sehr ermüdend, so als würde man endlich zu Hause ankommen wollen.«

Fatma Umul schrieb in ak 590 über Istanbul-Yeldegirmeni, wo ein besetztes Haus zu einem Begegnungsort der Nachbarschaft geworden ist.

Anmerkungen:

1) Das Kürzel LGBT steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transpersonen.

2) Ergenekon ist eine Untergrundorganisation. Die Regierung wirft ihr vor, den Sturz der Regierung betrieben zu haben. (Siehe ak 543)