Größte Umverteilung seit der Nazibesatzung
International In Griechenland geht die Enteignung der Bevölkerung weiter - Widerstand gibt es nur vereinzelt
Von Jörg Nowak
Einer der wenigen Lichtblicke in Griechenland ist die Jingle-Melodie des SYRIZA-Radiosenders Sto Kokkino (»In Rot«), die in verschiedenen Versionen mehrmals die Stunde die Internationale hören lässt. Die großen Bewegungen sind erst einmal auf Sendepause, aber die Angriffe auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung gehen weiter: Inzwischen sind 27 Prozent erwerbslos, bei den 15-24-Jährigen sind es sogar 57 Prozent.
Seit 2008 ist die griechische Volkswirtschaft um fast 25 Prozent geschrumpft: von 233 auf 182 Milliarden Euro im Jahr 2013. Das Pro-Kopf-Einkommen ist von 17.374 Euro (2008) auf 12.354 Euro (2013) gesunken. Außer bei den Exporten bedeutet die Krise für Griechenland vor allem einen gewaltigen Schrumpfungsprozess. Es wird weniger investiert, weniger konsumiert und weniger importiert. 2013 hat sich der Niedergang der Ökonomie wenigstens etwas verlangsamt: Der Privatkonsum sank nur noch um 7,4 Prozent (2012: 8,5 Prozent), die Investitionen sanken um 10,5 Prozent (2012: 21,2 Prozent).
Mehrere GesprächspartnerInnen aus sozialen Bewegungen betonen im Rückblick auf die Platzbesetzungen vom Sommer 2011, dass damals massenhaft »ganz normale Leute« politisch aktiv geworden seien. Diese große und sehr breite Bewegung ist seinerzeit den griechischen Sommerferien zum Opfer gefallen, wenn es in den großen Städten unerträglich heiß wird und alle an die Strände flüchten.
Aus ihr sind jedoch zahlreiche Basisbewegungen entstanden, etwa die Nachbarschaftsversammlungen oder die Bewegung der illegalen Märkte, auf denen landwirtschaftliche ProduzentInnen ohne Zwischenhandel Lebensmittel verkaufen - so versorgen sie die Städte günstiger mit biologisch angebauten Nahrungsmitteln. Die illegalen Märkte werden inzwischen von der Polizei drangsaliert und zunehmend von GroßhändlerInnen unterwandert, da sie mehr als nur eine ökonomische Nische sind.
Salamitaktik im öffentlichen Dienst
Der Generalstreik im Februar 2012 war ein letzter Höhepunkt der breiten Proteste, etwa 600.000 DemonstrantInnen waren auf der Straße. Durch Neuwahlen im Mai und Juni 2012 wurde die Dynamik dieser Bewegung gebrochen, da nun alle auf die Wahlen fixiert waren. Viele hofften auf einen Sieg der Linkspartei SYRIZA. Seit 2012 hat die Partei einen eher sozialdemokratischen Kurs eingeschlagen, nicht zuletzt wegen des Zustroms ehemaliger Mitglieder und Funktionäre der sozialdemokratischen PASOK, die angesichts des langsamen Todes ihrer Partei und dem Scheitern des Ersatzprojekts Demokratische Linke (DIMAR) auf das nächste Pferd setzen. (Siehe ak 571) Inzwischen ist von Aktivität und Aufbruch nicht mehr viel zu spüren. Viele warten darauf, dass SYRIZA die Regierung übernimmt, vielleicht nach den Kommunal- und Europawahlen im Mai, oder auch erst nach den Präsidentschaftswahlen 2015.
Wichtige soziale Kämpfe wurden - abgesehen vom Kampf gegen die Nazis von Chrysi Avgi - im letzten Jahr vor allem im öffentlichen Sektor ausgefochten. Doch die meisten dieser Kämpfe bleiben für sich und schaffen es nicht, sich mit anderen zu verbinden. Der geplante Streik der regionalen Unterverbände der Lehrergewerkschaft OLME im Sommer 2013 wurde schlichtweg verboten, bevor er überhaupt begann. Nicht viele haben den LehrerInnen damals gegen das Verbot beigestanden.
Von Oktober bis Ende Dezember 2013 streikten die Beschäftigten von zehn Universitäten gegen die Privatisierung eines großen Teiles der Verwaltungen. An der Universität Athen und der Polytechnischen Universität gelang es Arbeiterkomitees, den Unibetrieb effektiv zu blockieren. Drei Monate konnte die Regierung niemanden kündigen, da sie keinen Zugang zu den Personaldaten hatte. Doch nachdem sie mit saftigen Strafen drohte, gab die Führung der Gewerkschaft klein bei.
Gekündigt wurde in allen Bereichen der Verwaltung, von EDV über Sicherheitsleute bis zu Sekretärinnen. Wie in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes sind die Beschäftigten zunächst für acht Monate in einer Warteschleife. In dieser Zeit erhalten sie etwa die Hälfte ihres Lohns, viele haben noch die Hoffnung, irgendwo untergebracht zu werden. Die meisten gehen aber von der Warteschleife direkt in die Arbeitslosigkeit, wie etwa die entlassenen LehrerInnen der technischen Schulen und die Putzfrauen aus den Ministerien, die im März demonstrierten, als ihre Wartezeit zu Ende ging.
Von Dezember 2013 bis Ende Februar 2014 waren fast alle ÄrztInnen im Streik, und es ist bezeichnend, dass es nur zaghafte Kontakte zwischen diesem Streik und dem der Uniangestellten gab. Die Regierung greift alle Gruppen nacheinander an, und sie wehren sich einzeln, da sie hoffen, für die eigene Berufsgruppe etwas herausschlagen zu können. Die LehrerInnen der weiterführenden Schulen wollten im Dezember 2013 ebenfalls streiken. Aber als deutlich wurde, dass die LehrerInnen in den Grundschulen, die vor zwei Jahren alleine lange und erfolglos gestreikt hatten, sich nicht beteiligen würden, brach der Streik schnell zusammen.
Die Veränderungen im Gesundheitswesen sind dramatisch. Am 1. März wurden alle Gesundheitszentren für die Nachbarschaften, die Polikliniken, geschlossen. 8.500 ÄrztInnen sind nun in der Warteschleife. Sie sollen in die öffentlichen Krankenhäuser versetzt werden, wo es tatsächlich Personalmangel gibt. Kranke sollen sich nun bei privaten ÄrztInnen behandeln lassen. Davon gibt es aber viel zu wenige, daher ist seit dem 1. März vollkommen unklar, wo man hingehen soll, wenn man krank ist.
Da die Ärztinnen und Ärzte der Polikliniken in der Regel noch eine eigene Praxis hatten, bedeutet die neue Regelung auch eine Lohnsenkung für sie. Das Betreiben einer eigenen Praxis wurde für öffentlich angestellte ÄrztInnen verboten, so dass sie nun mit 900 Euro netto auskommen müssen.
Ein großes Problem haben momentan viele der in freien Berufen Tätigen, also AnwältInnen, ArchitektInnen, IngenieurInnen, ÄrztInnen usw. Sie engagieren sich verstärkt in ihren Berufsvereinigungen, schreiben Petitionen und verhandeln mit den Ministerien. Ihr Beispiel macht deutlich, wie unterschiedliche Aspekte der Krise zusammen kommen. Viele können seit einigen Jahren ihre Beiträge zur Renten- und Gesundheitsversicherung nicht mehr zahlen und schulden daher dem Staat Geld. Das Steuerbüro (dem Finanzamt vergleichbar) wird zunehmend von der Troika aus IWF, EZB und EU-Kommission gedrängt, die Schulden einzutreiben. Das würde nicht nur bedeuten, dass diese Menschen aus den Versicherungen herausfallen, sondern hätte für viele zur Folge, dass ihr Wohnungseigentum versteigert wird. Vor allem aber können sie ohne diese Versicherung ihre Berufe nicht mehr ausüben. Daher hängt viel an diesen Versicherungsbeiträgen und der Frage, wie der Staat mit ihnen umgeht. Bei der Veränderung des Gesundheitssystems wurden auch die Spezialversicherungen dieser Berufsgruppen aufgelöst, aber es gibt noch keine neue Versicherung. Auch hier ist Kranksein schlichtweg nicht vorgesehen.
Angriff aufs Wohneigentum
Die griechische Regierung versucht weiterhin, an allen möglichen Stellen zu sparen, allerdings ist die Situation für sie teilweise unkalkulierbar geworden. Im letzten Jahr knüpfte sie die Stromversorgung an die Bezahlung der gestiegenen Steuer auf Wohneigentum. Wer die Steuer nicht zahlen konnte, dem wurde auch der Strom abgestellt. Wegen des massenhaften Widerstandes dagegen wurde beides inzwischen wieder entkoppelt: Die »No-pay«-Bewegung hat es geschafft, dass Tausende Leute weder Strom noch Eigentumssteuern gezahlt haben. Im Juni wird die jährliche Steuer auf Wohneigentum erneut fällig, und es ist vollkommen unklar, wie viele Menschen sie in diesem Jahr noch entrichten können.
Die Erhöhung der Steuern soll nicht nur die Einnahmebasis des Staates steigern, sondern hat nebenbei den Effekt, dass viele nach und nach ihr Wohneigentum nicht mehr halten können. Etwa 80 Prozent der griechischen Bevölkerung haben Wohneigentum - die Troika hat kürzlich verlauten lassen, dass dieser Wert auf etwa 45 Prozent sinken müsse.
Auf welchem Weg und wann dies geschehen könnte, ist eine der großen Fragen. Zurzeit gibt es pro Woche etwa 50 Zwangsräumungen in Griechenland. Bei insgesamt zehn Millionen EinwohnerInnen ist das noch eine sehr kleine Zahl - in Berlin (ca. 3,5 Millionen EinwohnerInnen) sind es 100 Zwangsräumungen pro Woche. 2013 wurden in Griechenland etwa 90.000 Immobilien versteigert.
Wohneigentum ist auch die Existenzgrundlage für die große Menge der kleinen Selbstständigen. Wenn das Wohneigentum massiv enteignet wird, kann es zu einer neuen Welle des sozialen und politischen Widerstands kommen, da es für die griechische Bevölkerung den letzten materiellen Rückhalt bildet. Das weiß aber auch die Regierung, und bisher gibt es auf diesem Gebiet keinen Frontalangriff.
Die Immobilienpreise im Zentrum Athens sind um etwa 50 Prozent gefallen, und viele Wohnungen stehen leer. Anders als in Berlin oder Hamburg wird gerade gar nicht investiert auf dem Wohnungsmarkt. Möglicherweise spekulieren die InvestorInnen darauf, dass die Preise noch weiter sinken. Dann könnten die verschuldeten griechische Banken sich einen Teil der Wohnungen über Versteigerungen aneignen, woraufhin die GroßinvestorInnen dann diese Banken mitsamt der Immobilien kaufen könnten - so jedenfalls eine Einschätzung, die man in Griechenland immer wieder hört.
Einen Bereich, in dem kräftig investiert wird, gibt es jedoch: der Verkauf öffentlichen Landes. Besonders Grundstücke mit touristischem Wert werden an Private verkauft, die dort Golfplätze, Konferenz- und Einkaufszentren oder Hotels errichten - oder wie auf dem Gelände des ehemaligen NATO-Flughafen in der Nähe von Athen alles gleichzeitig. Organisiert wird »der größte Eigentumstransfer seit der Nazibesatzung«, wie ein Kollege von Solidarity 4 All (1) das nennt, von der Privatisierungsagentur TAIPED, die wie seinerzeit die Treuhand in Deutschland alles mögliche verscherbelt.
Perspektiven der Linken
Für die Lage der Linken steht symbolisch die Situation der Stadtteilversammlungen. In jedem Stadtteil gibt es drei Versammlungen: eine der Kommunistischen Partei KKE, die eine Basis in der Arbeiterklasse hat und mit niemandem sonst zusammenarbeitet; eine der AnarchistInnen, die sich in Griechenland nicht zur Linken zählen und daher ebenfalls zum größten Teil alleine agieren; eine dritte, in der vor allem ehemalige KP-Mitglieder sowie Leute von SYRIZA und der linksradikalen Partei Antarsya aktiv sind.
Aus der Sicht eines Kollegen von Solidarity 4 All wird die Schwäche der sozialen Bewegungen erst dann richtig deutlich werden, wenn SYRIZA an der Regierung ist und unabhängig von SYRIZA Proteste organisiert werden müssen, um auf diese linke Regierung einzuwirken. Andererseits seien aber selbst die Forderungen des rechten SYRIZA-Flügels in keiner Weise akzeptabel für die Troika. Aber auch aus seiner Sicht sei es wichtiger, dass SYRIZA die gesellschaftlichen Organisationen des Widerstands stärke als Spannungen zwischen der EU und den Banken auszubalancieren. Doch das sei zurzeit die Hauptaktivität der Parteiführung.
Derzeit ist die Stimmung von gespanntem Warten geprägt. Die tätlichen Angriffe der Chrysi Avgi haben nach der Verhaftungswelle im Herbst aufgehört, ihre Wählerzahl hat aber nur wenig abgenommen. An der Infrastruktur für die Verhinderung von Zwangsräumungen arbeitet Solidarity 4 All derzeit mit vielen Stadtteilversammlungen und politischen Gruppen - es gibt eine Telefonnummer für Rechtsberatung und eine für die Meldung von Versteigerungen oder Räumungen. Und einen erfolgreichen Testlauf gab es auch. Anfang März verhinderten 500 Menschen zum ersten Mal eine Versteigerung, indem sie den Eingang zum Gericht blockierten.
Jörg Nowak schrieb in ak 589 über Streiks in der indischen Automobilindustrie.
Anmerkung:
1) Solidarity 4 All ist eine von SYRIZA finanzierte Organisation, die Informationen für selbstverwaltete Projekte bereitstellt.