Die Machtfrage ist gestellt
International Westliche Schablonen passen nicht: Eindrücke aus der Ostukraine
Von Ulrich Heyden
Die Regierung in Kiew verliert die Kontrolle über den Ostteil der Ukraine. Dort läuft nun Ähnliches ab wie in Kiew zwischen Dezember 2013 und Februar 2014. Am 6. April besetzten DemonstrantInnen die Gebietsverwaltungen in Donezk und Charkow. In Donezk erklärte ein »Volksrat«, man werde bis zum 11. Mai ein Referendum über die Gründung einer »Donezk-Republik« durchführen. Diese Republik solle dann Teil Russlands werden.
Die Donezk-Republik gab es schon einmal. 1918 wurde sie als Teil Sowjetrusslands gegründet. Die schwarz-blau-rote Fahne dieser Republik tauchte in den letzten Wochen verstärkt auf prorussischen Demonstrationen in der Ostukraine auf. Seit März demonstrieren in den Städten des industriell geprägten Donbass-Gebietes, in Lugansk, Donezk und Charkow, an den Wochenenden fünf- bis zehntausend Menschen für eine enge Zusammenarbeit mit Russland und ein Referendum für eine Föderalisierung der Ukraine.
Das geforderte Referendum, welches der Ost- und Südukraine mehr Selbstbestimmung geben soll, wird die neue Regierung in Kiew nicht zulassen. Denn bei einem positiven Ergebnis würden die Stimmen noch lauter, die schon jetzt eine Vereinigung der Ostukraine mit Russland fordern. Zurzeit werden separatistische Aufrufe von den ukrainischen Sicherheitsbehörden streng verfolgt. Schon 20 SprecherInnen prorussischer Organisationen sitzen in Haft.
Der von den prorussischen Kräften gebildete »Volksrat« forderte Russland nun sogar auf, die Rechte der RussInnen durch die Entsendung einer Friedenstruppe zu schützen. Die »Kiewer Junta« verfolge AktivistInnen der prorussischen Bewegung; der freie Zugang zu Informationen sei nicht mehr gewährleistet; die russischen Fernsehkanäle seien abgestellt worden. In Charkow bildete sich ein alternatives Parlament, das ein Referendum über die Bildung einer »Republik Charkow« abhalten will.
Angst vor dem ukrainischen Nationalismus
Warum halten die Kundgebungen prorussischer Kräfte in der Ost- und Südukraine unvermindert an? Die neuen Machthaber in Kiew senden Signale, die alle Russischsprachigen skeptisch stimmen, wenn nicht in Alarmstimmung versetzen. Die ersten Maßnahmen des ukrainischen Parlaments nach dem Umsturz in Kiew richteten sich nicht darauf, die sozialen Probleme zu lösen, sondern die Gräben zwischen den Nationalitäten zu vertiefen.
Bereits zwei Tage nach dem Umsturz kippte die Werchowna Rada, das Parlament in Kiew, das 2012 unter Viktor Janukowitsch verabschiedete liberale Sprachengesetz. Dieses macht die Sprachen aller Nationalitäten, die in einer Region mehr als zehn Prozent der Bevölkerung stellen, neben dem Ukrainischen zur zusätzlichen Amtssprache. Kaum hatte die Rada das Gesetz gekippt, brach auf der Krim, in Odessa, Donezk und Charkow ein Proteststurm los. Dieser Proteststurm konnte auch nicht dadurch gestoppt werden, dass Übergangspräsident Aleksandr Turtschinow die Entscheidung des Parlaments vorläufig auf Eis legte.
Dass Regionen wie die Krim, die Ostukraine, Transnistrien, Abchasien oder Südossetien die Nähe Russlands suchen, hängt zum einen mit der Hoffnung auf eine bessere wirtschaftliche Entwicklung zusammen. Bisher fuhren Hunderttausende Arbeitsmigranten aus der Ukraine nach Russland, um dort Geld zu verdienen: Die Löhne in Russland sind doppelt so hoch wie in der Ukraine. Außerdem fürchten die russisch sprechenden Menschen außerhalb Russlands den Nationalismus in den 1991 neu entstandenen postsowjetischen Staaten.
Das gilt auch für die Krim und die Ostukraine. Solange die ukrainischen NationalistInnen nur in der Westukraine das Sagen hatten, hielt man es mit ihnen in einem Staat gerade noch aus. Doch jetzt, wo die faschistische Swoboda-Partei in Kiew den Generalstaatsanwalt, einen Vizepremier sowie den Landwirtschafts- und Ökologie-Minister stellt und der Leiter des Sicherheitsrates Mitglied des Swoboda-Vorläufers Sozialnationale Partei der Ukraine ist, läuten bei den russischsprachigen BewohnerInnen der Süd- und Ostukraine die Alarmglocken.
Unterwegs in Donezk und Charkow
Auf dem zentralen Freiluftmarkt der ostukrainischen Stadt Donezk ist in diesen Tagen wenig los. Weil der Marktbetrieb schlecht läuft, hat die Marktverwaltung die monatlichen Standgebühren für die Händler von umgerechnet 330 auf 300 Euro gesenkt.
»In diesen Zeiten halten die Menschen ihr Geld zusammen«, meint Wladislaw, ein Händler. Kein Wunder, denn um die Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu bekommen, hat die ukrainische Regierung massive Sparprogramme angekündigt. Die Gaspreise für PrivatkundInnen sollen am 1. Mai in einem ersten Schritt um 50 Prozent erhöht werden. Einkommensschwachen BürgerInnen sollen Geburtsprämien und Ermäßigungen bei den Wohnnebenkosten gestrichen werden. LehrerInnen sollen auf Zuschläge verzichten, erzählt Nina, eine Lehrerin, die ich auf einer prorussischen Kundgebung vor dem Lenin-Denkmal treffe. Durch die Streichung der Zuschläge werde sie in Zukunft statt 2.500 Grivna nur noch 2.000 Grivna (130 Euro) im Monat verdienen. Außerdem werde ihre Stundenzahl von 18 auf 24 Stunden erhöht, ohne Gehaltsausgleich.
Doch das ist noch nicht alles. Die ukrainische Regierung versucht, die Bevölkerung zu Spenden für die Armee anzuhalten. Per SMS wurden alle BürgerInnen aufgefordert, sich damit einverstanden zu erklären, dass vier Grivna (0,26 Euro) für die Streitkräfte von ihrem Handy-Konto abgebucht werden. LehrerInnen werden angehalten, einen Tageslohn für die Staatskasse zu spenden.
Viele Betriebe, die nach Russland exportieren, haben Absatzprobleme. Wenn sich die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtere, dann würden noch mehr Menschen zu den prorussischen Demonstrationen kommen, meint Marinta Charkowa, Chefredakteurin der Donezker Wirtschaftszeitung, Krjasch.
Beim Besuch der ostukrainischen Städte Charkow und Donezk fällt vor allem auf, dass die von westlichen Medien gepflegten Schablonen pro Russland oder pro Maidan bzw. Russen gegen Ukrainer nicht passen. Auch hier gibt es Menschen, die den Maidan unterstützen. Das ist aber eine Minderheit, vor allem aus Angehörigen der Mittelschicht. Die Mehrheit der Bevölkerung ist für eine enge Zusammenarbeit mit Russland, denn dorthin geht auch der Großteil des Exports.
Charkow hat eine ukrainische Bevölkerungsmehrheit. Trotzdem ist die Stimmung prorussisch. Auch in Donezk trifft man immer wieder Menschen mit ukrainischen Eltern, die aber von sich sagen, sie würden überwiegend Russisch sprechen und Russland als ihre Schutzmacht ansehen. Dass die Menschen in der Ostukraine sich mehr mit Russland verbunden fühlen, hat historische Gründe. In der Industrieregion Donbass wird überwiegend Russisch gesprochen. Zur Sowjetzeit kamen Arbeitskräfte aus der gesamten Sowjetunion in das an Kohlevorkommen reiche Industriezentrum Donbass. Es bildete sich ein multinationales Proletariat, bestehend aus Russen, Ukrainern, Tataren, Armeniern, Griechen, Juden und Deutschen.
Niemand will Krieg gegen Russland
Auf den Straßen von Charkow treffe ich Menschen, die wegen ihrer Herkunft und Sprache »prorussisch« gestimmt sind, die Vereinigung der Krim mit Russland aber trotzdem bedauern. Die Bereitschaft, die Krim militärisch zurück zu erobern, tendiert in der Bevölkerung der Ostukraine allerdings gegen Null. Viele UkrainerInnen haben Verwandte in Russland und können sich einfach nicht vorstellen, dass die Soldaten der beiden Länder aufeinander schießen. Die mangelnde Kampfbereitschaft sah man auch auf der Krim, wo der Großteil der 17.000 ukrainischen Soldaten zur russischen Armee überlief oder sich als Zivilisten auf der Krim niederließ, anstatt in die Ukraine überzusiedeln.
Eine weitverbreitete Meinung in der Ostukraine ist, dass man den Streit über die Krim friedlich lösen müsse. Swetlana, eine 55jährige Frau, die ich in der Bahnhofshalle von Charkow treffe, meint, das mit der Krim werde sich schon einrenken. So wie man nach Ägypten in den Urlaub fahre, so werde man in Zukunft auf die Krim fahren.
Der Maidan ist für die meisten Menschen in der Ostukraine nichts anderes als ein Staatsstreich ukrainischer NationalistInnen. Sie verbinden damit wirtschaftliche Unsicherheit und Fremdbestimmung. Mitleid für die Opfer von Polizeigewalt auf dem Maidan gibt es in der Ostukraine so gut wie nicht. Es kursieren auch die irrsinnigsten Gerüchte. So erzählen Menschen allen Ernstes, den AktivistInnen auf dem Maidan seien Drogen ins Essen gemischt worden, weshalb sie wochenlang in der Kälte ausharren konnten.
Während es für die Maidan-Aktivisten in der Ostukraine kein Mitleid gibt, werden an Denkmälern immer wieder rote Nelken niedergelegt zum Gedenken an die bei den Straßenschlachten in Kiew umgekommenen Polizisten der Berkut-Spezialeinheit. Sie werden als Helden verehrt. Oft rufen die Menschen auf Demonstrationen nicht nur »Russland, Russland« sondern auch »Berkut, Berkut«.
Die Menschen in der Ostukraine sind der Meinung, dass der nach Russland geflohene Präsident Viktor Janukowitsch zwar wie alle anderen Präsidenten vor ihm auch in die eigene Tasche gewirtschaftet habe. »Er hat aber auch dem Volk etwas gegeben, sagt die Lehrerin Nina. Außerdem habe er die Löhne erhöht und für eine stabile Entwicklung gesorgt. Nach dem Umsturz, so die verbreitete Meinung, lebe man nun in Unsicherheit.
Der Protest in der Ostukraine richtet nicht nur gegen die neue Regierung in Kiew, sondern auch gegen die Anfang März als Gouverneure in Charkow, Donezk und Dnjepropetrowsk eingesetzten Unternehmer Igor Baluta und die Oligarchen Sergej Taruta und Igor Kolomoiski.
Unterdessen versucht auch der Rechte Sektor, in der Ostukraine Fuß zu fassen. An Fernstraßen haben prorussische AktivistInnen deshalb Verkehrskontrollen eingerichtet. Sie sollen Alarm schlagen, sobald sich Autos mit AnhängerInnen des Rechten Sektor oder Kolonnen des ukrainischen Militärs nähern.
Immer wieder kommt es auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen dem Rechten Sektor und prorussischen AktivistInnen. Am 14. März wurden in Charkow die beiden jungen Männer, Artjom Schudow und Aleksej Scharow, die das Lenin-Denkmal auf dem zentralen Platz der Stadt beschützt hatten, von Mitgliedern des Rechten Sektors erschossen; fünf weitere Personen, darunter ein Polizist, wurden durch Schüsse verletzt. Auch in Donezk hat es bereits einen Toten gegeben. Am 13. März wurde ein örtlicher Aktivist der rechtsradikalen Partei Swoboda durch einen Messerstich getötet. Prorussische AktivistInnen behaupten, das Swoboda-Mitglied sei von den Rechts-Aktivisten ermordet worden, um den Hass auf die prorussischen Kräfte anzustacheln.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat erklärt, Russland werde die ukrainischen Grenzen respektieren. Doch in der Ostukraine trifft man sehr viele Menschen, die nichts dagegen hätten, wenn russische Truppen in das Gebiet einmarschieren. Von der Regierung in Kiew erwarten große Teile der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine keinen Schutz mehr.
Ulrich Heyden arbeitet als Journalist in Moskau. Anfang April bereiste er die Ostukraine.