Gongchao im Perlflussdelta*
International Streiks und Arbeiterkämpfe in Chinas Weltmarktfabriken
Von Ralf Ruckus
Die Zahl der Streiks von WanderarbeiterInnen hat in China in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Da China zweitgrößte Wirtschaftsmacht und Knotenpunkt vieler globaler Produktionsketten ist, haben diese Streiks Auswirkungen auf das soziale und politische Gefüge im Land und auch weltweit.
Anfang der 1990er Jahre startete die chinesische Regierung ein wirtschaftspolitisches und arbeitsrechtliches Reformprogramm, das den Übergang von der staatlichen Planwirtschaft zur staatlich gelenkten Marktwirtschaft beschleunigte. (Siehe ak 570) Mit dem Anstieg der Auslandsinvestitionen strömten Millionen WanderarbeiterInnen aus anderen Provinzen ins Perlflussdelta im südchinesischen Guangdong. Dort befindet sich eines der industriellen Zentren Chinas mit der Sonderwirtschaftszone Shenzhen und den Millionenstädten Shenzhen, Guangzhou, Foshan und Dongguan.
Die Bedingungen in den Fabriken waren durch Unfälle, niedrige Löhne, Lohnraub, Überstunden und hohe Arbeitsintensität geprägt. Schikanen und Übergriffe der Chefs bestimmten den Arbeitsalltag. WanderarbeiterInnen setzten sich mit Gewalt und verdeckten Widerstandsformen zur Wehr. 1993/4 kam es zu einer Streikwelle, vor allem in ausländischen Unternehmen wie dem japanischen Unternehmen Canon in Zhuhai. Das staatliche Migrationsregime wurde mit Kontrollen, Deportationen und polizeilicher Drangsalierung »Illegaler« durchgesetzt. 1995 trat das erste chinesische Arbeitsgesetz in Kraft, und die staatliche Arbeitsbehörde griff zunehmend in Arbeitskonflikte ein. Die Aktionen der ArbeiterInnen sollten in »von den Behörden kontrollierte Kanäle« geführt werden, wie der Sozialwissenschaftler Chris Chan schreibt. (1)
Der WTO-Beitritt Chinas Ende 2001 ließ die ausländischen Investitionen weiter steigen. Trotz der Lockerungen der inländischen Migrationsbeschränkungen waren nun in Industriezentren wie dem Perlflussdelta die Arbeitskräfte knapp. Viele MigrantInnen weigerten sich, die miesen Fabrikjobs zu übernehmen. In den Jahren 2003 bis 2007 nahm auch die Zahl wilder Streiks deutlich zu. Im Perlflussdelta kam es zu einer Streikwelle, wieder vor allem in ausländischen Unternehmen. Der Sozialwissenschaftler Jay Chen sieht hier einen »Wendepunkt« in der Entwicklung der Massenproteste. (2) Die Bedingungen in den Fabriken verbesserten sich langsam, die Arbeitsintensität sank etwas, es gab weniger Überstundenexzesse und weniger Gewalt gegen ArbeiterInnen. Die Löhne stiegen deutlich, abzulesen etwa an der regelmäßigen Erhöhung der staatlichen Mindestlöhne - in der Sonderwirtschaftszone Shenzhen zum Beispiel von 574 Yuan pro Monat im Jahr 2001 auf 1.000 Yuan 2008. Allerdings stiegen die Preise ebenfalls deutlich.
Fortschritte in der Streikorganisation
Die AutorInnen des Buches »Streiks im Perlflussdelta« (siehe Kasten auf Seite 23) beschreiben, wie die ArbeiterInnen Streiks mithilfe von Flugblättern und Handys vorbereiteten und Proteste in anderen Betrieben aufgriffen und nachahmten. Mitte der 2000er Jahre hatten die WanderarbeiterInnen auch gelernt, ihren Kampf nun nach außen hin auszuweiten. Sie riefen die Medien an, blockierten Autobahnen und ließen im Internet Berichte zirkulieren. Zudem nahmen nun nicht nur ProduktionsarbeiterInnen, sondern auch Vorgesetzte und Angestellte an Streiks teil. Die Behörden reagierten weiter mit der Verhaftung von StreikaktivistInnen und Polizeigewalt.
Der globale Kriseneinbruch 2008/9 zog in China und insbesondere im Perflussdelta eine Entlassungswelle nach sich. Das Parteiregime verschob die geplanten Mindestlohnerhöhungen und modernisierte Gesetze und Schlichtungsmechanismen abermals, um die »staatliche Maschinerie« zur Kanalisierung der Kämpfe zu stärken. Das Kapital versuchte, die Krisenkosten auf die ArbeiterInnen abzuwälzen - und auf den Staat. Behörden sprangen wiederholt bei Firmenpleiten ein und zahlten Lohnrückstände. Die ArbeiterInnen reagierten mit defensiven Kämpfen gegen Verlagerungen, Entlassungen, Betriebsschließungen, Lohnraub usw.
Neue Kämpfe seit 2010
Durch die Erholung der Wirtschaft nach 2009 und die erneute Arbeitskräfteknappheit wendete sich das Blatt wieder, und die Position der ArbeiterInnen wurde gestärkt. 2010 rollte eine sechsmonatige Streikwelle über das Land. Ausgangspunkt war ein Streik von Honda-ArbeiterInnen in Foshan, die eine 30-prozentige Lohnerhöhung durchsetzen konnten. (Siehe ak 570) Die ArbeiterInnen waren nun »entschlossener« und zeigten insbesondere im Hondastreik »Solidarität und Beharrlichkeit«, wie die AutorInnen über die »Streiks im Perlflussdelta« schreiben. Die offensiven Streiks konnten eine allgemeine Erhöhung der Löhne durchsetzen. Hier und da wurden auch die Forderung laut, Gewerkschaften unter Arbeiterkontrolle zu stellen.
In den Jahren 2011 bis 2013 gingen die Streiks laut eines Berichts des China Labour Bulletin (CLB) unvermindert weiter, die Fabriklöhne stiegen zwischen 2010 und 2013 um weitere 50 Prozent. (3) Viele UnternehmerInnen versuchten, dies durch Streichungen von Überstunden und Zulagen, die Einführung von Arbeitszeitkonten und höhere Abzüge für Verpflegung und Unterkunft auszugleichen. Zudem weiteten sie die Leiharbeit aus, um flexibler auf Produktionsschwankungen reagieren zu können und die Belegschaften zu spalten. 2011 gab es 60 Millionen LeiharbeiterInnen in China.
Die Kampf- und Organisierungsfähigkeit der ArbeiterInnen hat sich in den letzten drei Jahren laut CLB durch die Nutzung der sozialen Medien weiter verbessert. Smartphones brachten Millionen ArbeiterInnen das Internet in die eigene Tasche, während neue Software wie das chinesische Twitter-Pendant Weibo das unmittelbare Versenden von Berichten, Fotos und Filmen über Proteste ermöglichte. Beides setzen ArbeiterInnen für die Organisierung ein wie auch dazu, Arbeitsbedingungen öffentlich zu skandalisieren, um so Staat und Kapital unter Druck zu setzen. Nebenbei untergraben diese Informationskanäle die Dominanz der staatlichen Medien.
Die Behörden halten sich aus den meisten Protesten raus, greifen jedoch weiter ein, wenn sie sich ausweiten. Laut CLB intervenierte die Polizei in 20 Prozent der untersuchten Streiks, meistens dann, wenn die ArbeiterInnen »auf die Straße gehen« oder »die soziale Ordnung stören«. Mitte 2012 und in der zweiten Jahreshälfte 2013 stieg die Zahl der Polizeiinterventionen und Verhaftungen von StreikaktivistInnen. 2012 gingen die Behörden auch verstärkt gegen NGOs vor, die ArbeiterInnen unterstützen.
Zusammenfassend schreiben Hao Ren und ihre Co-AutorInnen überraschend, dass viele Streiks, Demos und Straßenblockaden in den letzten Jahren weiterhin »spontan« gewesen seien. Jay Chen betont dagegen, dass »individueller Widerstand und kollektive Proteste« vielfach sorgfältig geplant und organisiert waren. »Auch Proteststrategien wurden dabei zunehmend optimiert.« Auch die Streikschilderungen im Buch von Hao Ren und Co. zeigen Vorbereitung, Solidarität, Bekanntmachung und Lernprozesse in den Kämpfen. Sie zeugen von den alltäglichen Widersprüchen, mit denen sich die ArbeiterInnen an Fließbändern, in Wohnheimen und Kantinen auseinandersetzen, und davon, wie die Arbeiterkooperation Grundlage nicht nur der Produktion ist, sondern sich auch als eigene widerständige Organisiertheit stetig weiterentwickelt.
Was folgt aus den Streiks?
Die Bedeutung von Streiks und Streikwellen liegt darin, dass sie dieser widerständigen Organisiertheit einen Schub geben können. Streikende können erkennen, dass ihre Probleme von vielen geteilt werden. Das holt sie aus der Isolation, der Konkurrenz und dem Elend und eröffnet Wege zu kollektiven und solidarischen Aktionen.
Diese Prozesse lassen sich in China in den letzten Jahren beobachten. Die Streikerfahrungen zirkulieren, die besten Taktiken werden diskutiert, AktivistInnen bilden sich heraus und geben Kampfimpulse weiter. In den Kämpfen geht es um ökonomische Forderungen, aber auch um nicht erfüllte Erwartungen, die tägliche Schufterei, die erfahrene Ungerechtigkeit und Entwürdigung. Der Streik und andere Formen der Auflehnung sind nicht zuletzt seit der Streikwelle 2010 breiter akzeptiert, nicht nur unter WanderarbeiterInnen: Einige gehen gar in die Fabrik, um von den ArbeiterInnen zu lernen oder ihre Kämpfe zu unterstützen. (4)
Das China Labour Bulletin schreibt, dass die ArbeiterInnen in China »in zunehmendem Maße realisieren, dass sie es auch alleine und ohne Gewerkschaft schaffen können«. Aber sie hätten eine »größere Chance auf eine machtvolle, einheitliche und dauerhafte Präsenz am Arbeitsplatz, wenn sie die Gewerkschaft für sich zurückerobern können«. Die Reform und Übernahme der Gewerkschaften als Voraussetzung für eine dauerhafte Verbesserung der Lage der ArbeiterInnen? In den letzten Jahrzehnten haben Gewerkschaften immer wieder zur Spaltung und Schwächung der Arbeiterkämpfe und zur Verschärfung der Ausbeutung beigetragen, nicht nur in China, sondern zum Beispiel auch in Indien.
Vor allem wilde Streiks können Zeichen der Selbstaktivität der Arbeiterklasse sein und diese voranbringen, wenn sie innere Spaltungen überwinden und sich jenseits von sozialpartnerschaftlichen Ritualen als Bewegung etablieren. »Streiks kamen leichter zustande, wenn ArbeiterInnen bereits vorher heimliche Absprachen getroffen und Aktionen gemacht hatten - vor allem als verdeckte Bummelstreiks«, schreiben Hao Ren und Co. »Von großem Vorteil ist es, wenn es Kader gibt, die den Streik aus dem Hintergrund führen können. Das gilt auch, wenn ein Streik organisiert ist und ein Kern von ArbeiterInnen dahintersteht. So ist es möglich, die Unterdrückung des Streiks durch den Kapitalisten zu verhindern und den Kampf organisiert weiterzuführen.«
Gerade in der Kapitalkonzentration des Perlflussdeltas geht es um die Formierung von Widerstandskernen, die sich der Repression entziehen und nicht an einer legalen und kapitalismustauglichen Arbeiterbewegung mitbasteln, sondern sich auf die Entwicklung von Kampffähigkeit, Störpotenzial und gesellschaftlich wirksamer Veränderungsmacht konzentrieren.
Ralf Ruckus schreibt und übersetzt im Rahmen des Kollektivs gongchao.org Texte zu Wanderarbeiterkämpfen, Geschlechterverhältnissen und Klassenzusammensetzung in China.
* Gongchao (sprich: gung tschao) steht im Chinesischen für Streik, Streikbewegung oder -welle, Arbeitermobilisierung oder -bewegung.
Anmerkungen:
1) Siehe Chris King-Chi Chan: Contesting Class Organisation: Migrant Workers Strikes in China's Pearl River Delta, 1978-2010, in: International Labor and Working Class History (Ausgabe 83, Frühjahr 2013).
2) Chih-Jou Jay Chen: Die Zunahme von Arbeitskonflikten in China: Ein Vergleich von ArbeiterInnenprotesten in verschiedenen Sektoren, in: Eggers, Georg, u.a.: Arbeitskämpfe in China. Berichte von der Werkbank der Welt, Wien 2013, Seiten 78-105.
3) www.clb.org.hk/en.
4) Siehe z.B. den Film »Die neue Generation - Fabrikarbeiter in Südchina« von einem Filmemacher aus einer Wanderarbeiterfamilie, der selbst in der Fabrik arbeitete und dort den Alltag dokumentierte. Den Film gibt es auf de.labournet.tv.