Das regelt der Markt
Geschichte Vor 15 Jahren veröffentlichten Gerhard Schröder und Tony Blair ihr Grundsatzpapier für eine Politik der »Neuen Mitte« und des »Dritten Weges«
Von Jens Renner
Ein politisches Programm war es nicht, eher ein Manifest: das in seiner deutschen Fassung ca. 35.000 Zeichen umfassende Papier mit dem Titel »Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair«. Am 8. Juni 1999 wurde es in London von den beiden starken Männern der europäischen Sozialdemokratie vorgestellt, an den folgenden Tagen in vielen Zeitungen auszugsweise dokumentiert und wochenlang kontrovers diskutiert.
Die Reaktionen in Deutschland waren bezeichnend: Die Präsidenten der Unternehmerverbände BDA und BDI, Hundt und Henkel, signalisierten Zustimmung, die FDP sah das Copyright verletzt: »Nur zu oft hatte die FDP Ähnliches oder sogar Gleiches aufgeschrieben und war dafür von Sozialdemokraten als Neoliberale, Turbokapitalisten oder Polit-Yuppies beschimpft worden«, schrieb Guido Westerwelle, damals FDP-Generalsekretär, in einem Gastkommentar der taz. (17.6.1999) Der FDP-Vorsitzende Wolfgang Gerhardt wertete das Papier als »abrupte Abkehr von traditioneller sozialdemokratischer Politik in Deutschland«. Das sahen die Jusos genauso. Ihr Vorsitzender Benjamin Mikfeld bezeichnete den Text als »intellektuellen Offenbarungseid« und als »Aneinanderreihung von soziologischen Banalitäten und gemäßigt-neoliberalen Polemiken«. Die Kritik aus den Führungsetagen der meisten Gewerkschaften blieb verhalten - schließlich wollte man im »Bündnis für Arbeit, Bildung und Wettbewerbsfähigkeit« weiter juniorpartnerschaftlich mit der Schröder-Regierung zusammenarbeiten.
Im Schatten des NATO-Krieges gegen Jugoslawien
Zwar gab es für die Ausarbeitung des »Schröder-Blair-Papiers«, wie es allgemein genannt wurde, keinen konkreten Anlass. Der zeitliche Hintergrund ist dennoch für seine Einordnung wichtig. In den vier größten EU-Ländern - Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien - regierten damals SozialdemokratInnen. Blairs modernisierte Labour Party (»New Labour«) hatte schon im Mai 1997 die Wahlen triumphal gewonnen, Schröder war seit Herbst 1998 Kanzler einer rot-grünen Koalition. Am 11. März 1999 trat der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine ohne Begründung vom Amt des Finanzministers zurück. Zugleich legte er den Parteivorsitz und sein Bundestagsmandat nieder. Am 24. März begann der NATO-Krieg gegen Jugoslawien (auch Kosovokrieg genannt). Während in Deutschland das Trio Schröder, Fischer und Scharping ein informelles Kriegskabinett bildete, war die Kriegführung auf britischer Seite Chefsache. Am 28. Mai flog Blair nach Washington, um mit US-Präsident Clinton über eine Bodenoffensive in Serbien zu verhandeln. Dazu kam es nicht mehr: Anfang Juni ging der Krieg zu Ende, weil sich die serbische Seite dem »Friedensplan« der G8-Staaten unterwarf. Die Zahl der Todesopfer wird auf 10.000 geschätzt, mehrheitlich Kosovo-AlbanerInnen; bei NATO-Luftangriffen wurden auch immer wieder ZivilistInnnen getötet - von den Militärs zynisch als »Kollateralschäden« billigend in Kauf genommen.
Zeitgleich mit der blutigen Machtdemonstration der NATO überraschten nun Blair und Schröder die Welt mit ihrem Grundsatzpapier. 15 Jahre danach springt seine inhaltliche Armut geradezu ins Auge. Zunächst erstaunt die in Abschnitt »I. Aus Erfahrung lernen« geübte Selbstkritik: Man habe in der Vergangenheit eine falsche Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit gehabt, »Rechte höher bewertet als Pflichten«, zu Lasten von Werten wie »persönliche Leistung und Erfolg, Unternehmergeist, Eigenverantwortung und Gemeinsinn«. (siehe Kasten) Hier ist - allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz - der Bruch mit bisherigen sozialdemokratischen Überzeugungen bereits sichtbar.
Die auf den folgenden Seiten »ohne ideologische Vorbedingungen« ausformulierten »neuen Konzepte« folgen dem Leitmotiv von der Freiheit der Märkte und des Unternehmertums: Politik muss Bedingungen schaffen, in denen »bestehende Unternehmen prosperieren und sich entwickeln und neue Unternehmen entstehen und wachsen können«; sie muss »einen neuen Unternehmergeist auf allen Ebenen der Gesellschaft fördern«, auf dass dem Kapital ein »robuster und wettbewerbsfähiger marktwirtschaftlicher Rahmen« garantiert werde. Wer auf den Verkauf seiner Arbeitskraft angewiesen ist, könne sich nur behaupten, wenn er oder sie »flexibel« sei. Sieben Mal auf einer knappen Seite wird das Zauberwort verwendet und auf ökonomische Nützlichkeit reduziert: Individuelle Flexibilität ist für Schröder und Blair nichts anders als »Anpassungsfähigkeit« an die Märkte und den technologischen Wandel.
Eine Interessenvertretung alten Stils ist in der schönen neuen Welt der modernisierten Sozialdemokratie nicht mehr zeitgemäß. Gewerkschaften müssen nicht mehr tun, als »den einzelnen gegen Willkür schützen und in Kooperation mit den Arbeitgebern den Wandel gestalten«. Das funktioniert auch im Niedriglohnsektor: »Der Arbeitsmarkt braucht einen Sektor mit niedrigen Löhnen ... Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit sind besser als gar keine Arbeit ...« Deshalb sind auch »Subventionen für geringfügige Beschäftigung« sinnvoll. Gezahlt werden sie an die Unternehmen; die übrigen »Leistungsempfänger« dagegen, auch Langzeitarbeitslose, muss der Staat »auf ihre Fähigkeit überprüfen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen«. Was fehlt, ist der Slogan »Sozial ist, was Arbeit schafft«. Den erfand Jahre später die FDP.
Alles andere als heiße Luft
Stellt sich die Frage, welche strategische Absicht Schröder, Blair und ihre Spin Doctors - maßgeblich beteiligt: Kanzleramtsminister Bodo Hombach - mit ihren Zumutungen verfolgten. Der Wiener Publizist Robert Misik kam in seinem taz-Kommentar (9.6.1999) der Wahrheit vermutlich nahe: Niemand solle glauben, »solche Schriften hätten keinen Einfluss auf die Wirklichkeit. Zuallererst wird die Wählerschaft bei der Stange gehalten, die - in Gesellschaften des rasanten Wandels, der verkürzten Produktzyklen - alten Parteien nur dann ihr Vertrauen garantiert, wenn diese ihre permanente Erneuerung glaubhaft machen.« Zweitens werde »die reformunlustige Parteibasis mit solchen Prinzipienerklärungen nach und nach dazu geprügelt, den Widerstand gegen eine Politik aufzugeben, die sie eigentlich für prinzipienlos hält.« Und drittens hätten die sozialdemokratischen Staatsführer mit ihrem Manifest die durch den laufenden Krieg erzeugte »Machtverschiebung zelebriert und zementiert« - »Ohne diesen Krieg hätte Schröder seine Dominanz in der SPD nicht so schnell abgesichert.«
Mobilisierend wirkte das Papier zunächst nicht - im Gegenteil: Am 13. Juni 1999, dem Tag der Wahlen zum Europäischen Parlament, verlor die SPD mehr als drei Millionen Stimmen gegenüber 1994 und kam nur noch auf 30,7 Prozent (1994: 32 Prozent). Mittelfristig aber hat es seine Wirkung entfaltet, weil es eine drastische Verschärfung vor allem der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ideologisch vorbereiten half. Die von Schröder im März 2003 proklamierte Agenda 2010 wurde auf den nachfolgenden Parteitagen der SPD und der Grünen mit überwältigenden Mehrheiten von 80 bzw. 90 Prozent für gut befunden. Jetzt nahm das, was Schröder und Blair noch in wolkige Formulierungen gehüllt hatten, konkrete Gestalt an. Federführend war allerdings kein Parteigremium oder Ministerium, sondern die Bertelsmann-Stiftung, deren »Wirtschaftspolitischer Forderungskatalog für die ersten 100 Tage der Regierung« zur Grundlage der Hartz-Reformen wurde. Die aber waren, wie wir wissen, alles andere als heiße Luft, sondern brachten knüppelharte Zwangsmaßnahmen, massenhafte Verarmung und eine allgemeine Senkung des Lohnniveaus - zum Wohle des nationalen Kapitals.
Der Dritte Weg
Die »wissenschaftliche« Vorarbeit zur Politik des Dritten Weges lieferte der englische Soziologe Anthony Giddens. Sein Buch »The Third Way. The Renewal of Social Democracy« erschien 1998 und ein Jahr später auch auf Deutsch. Kernthesen wie »keine Rechte ohne Verpflichtungen« oder »mehr Markt, weniger Staat« wurden in das Schröder-Blair-Papier übernommen.
Rechte nicht höher bewerten als Pflichten
In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt und die soziale Demokratie mit Konformität und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit Kreativität, Diversität und herausragender Leistung. Einseitig wurde die Arbeit immer höher mit Kosten belastet.
Der Weg zur sozialen Gerechtigkeit war mit immer höheren öffentlichen Ausgaben gepflastert, ohne Rücksicht auf Ergebnisse oder die Wirkung der hohen Steuerlast auf Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung oder private Ausgaben. Qualitätvolle soziale Dienstleistungen sind ein zentrales Anliegen der Sozialdemokraten, aber soziale Gerechtigkeit lässt sich nicht an der Höhe der öffentlichen Ausgaben messen. Der wirkliche Test für die Gesellschaft ist, wie effizient diese Ausgaben genutzt werden und inwieweit sie die Menschen in die Lage versetzen, sich selbst zu helfen.
Die Ansicht, dass der Staat schädliches Marktversagen korrigieren müsse, führte allzu oft zur überproportionalen Ausweitung von Verwaltung und Bürokratie im Rahmen sozialdemokratischer Politik. Wir haben Werte, die den Bürgern wichtig sind - wie persönliche Leistung und Erfolg, Unternehmergeist, Eigenverantwortung und Gemeinsinn -, zu häufig zurückgestellt hinter universelles Sicherungsstreben.
Allzu oft wurden Rechte höher bewertet als Pflichten. Aber die Verantwortung des einzelnen in Familie, Nachbarschaft und Gesellschaft kann nicht an den Staat delegiert werden. Geht der Gedanke der gegenseitigen Verantwortung verloren, so führt dies zum Verfall des Gemeinsinns, zu mangelnder Verantwortung gegenüber Nachbarn, zu steigender Kriminalität und Vandalismus und einer Überlastung des Rechtssystems.
Die Fähigkeit der nationalen Politik zur Feinsteuerung der Wirtschaft hinsichtlich der Schaffung von Wachstum und Arbeitsplätzen wurde über-, die Bedeutung des einzelnen und der Wirtschaft bei der Schaffung von Wohlstand unterschätzt. Die Schwächen der Märkte wurden über-, ihre Stärken unterschätzt.
Aus Abschnitt I (»Aus Erfahrung lernen«) des Schröder-Blair-Papiers vom 8. Juni 1999.