Das Vaterland der Fußballschuhe?
WM in Brasilien Der Fußball und die Erfindung der brasilianischen Nation
Von Thomas Fatheuer
Bei einer Weltmeisterschaft geht es um mehr als um Fußball - das gilt ganz besonders für Brasilien. Da spielt nicht nur eine Mannschaft, sondern eine Nation - so wird es zumindest immer wieder behauptet. Das Narrativ Fußball - Nation mag zweifelhaft sein, aber sicherlich nicht ohne Wirkung.
Im Mai 2013 startete die brasilianische Regierung ihre Kampagne zur Männer-Fußball-WM unter dem Motto: »A pátria de chuteiras - das Vaterland der Fußballschuhe«. Der Ausdruck »pátria de chuteiras« suggeriert, Fußball sei (zumindest teilweise) für die Produktion nationaler Identitäten zuständig. Das Land Brasilien sei - so die These - erst zum Vaterland geworden, als es die Fußballschuhe anzog. Den Ausdruck vom Vaterland der Fußballschuhe prägte einst Nelson Rodrigues. Er ist einer der wichtigsten brasilianischen SchriftstellerInnen des 20. Jahrhunderts, der sowohl durch seine Fußballchroniken als auch durch seine Theaterstücke zu Ruhm gelangte.
Der »mulattische« Fußball und die »Rassendemokratie«
Nelson Rodrigues' Versuch, Brasilien durch und mit Fußball zu interpretieren, hat einen wichtigen Vorläufer. Bei der WM 1938 in Frankreich rückte Brasiliens Nationalmannschaft in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Weltfußballs, und der schwarze Stürmer Leonidas da Silva (»o diamante negro«, der schwarze Diamant) wurde zu einem ihrer großen Stars.
Gilberto Freyre, der als Autor des Buches »Herrenhaus und Sklavenhütte« zum vielleicht berühmtesten Interpreten Brasiliens wurde, beobachtete die WM in Frankreich aufmerksam. In der Tageszeitung Diário do Pernambuco veröffentlichte er daraufhin einen Artikel, der als Urtext gelesen werden kann für alle Versuche, Brasilien über den Fußball zu interpretieren.
Freyre feierte darin den Mut, ein »stark afrobrasilianisches Team« nach Paris geschickt zu haben. Er sah in der Präsenz der schwarzen Spieler gerade die Stärke des brasilianischen Fußballs und ein perfektes Abbild der gesellschaftlichen Entwicklung Brasiliens. »Unser Mulattenfußball mit seinen artistischen Blüten, dessen Effizienz - mehr im Angriff als in der Abwehr - auf brillante Weise beim Spiel gegen die Polen und die Tschechoslowaken demonstriert wurde, ist ein einzigartiger Ausdruck unserer sozialen und demokratischen Verfassung.« (1)
Nicht nur, dass Brasilien nun durch Schwarze und »Mulatten« vertreten wurde - die Auswahl Brasiliens spielte einen begeisternden Fußball, der durch den sozialen Ursprung der Mannschaft geprägt war. Freyre stellte den brasilianischen Stil dem europäischen gegenüber. Während der europäische Fußball durch wissenschaftliche Methoden und einen mechanisierten und untergeordneten Menschen geprägt sei, sei »der brasilianische eine Form des Tanzes, bei dem die menschliche Person herausragt und glänzt.« Der Text endet hymnisch: »Der mulattische, afrobrasilianische Stil des Fußballs ist eine Form des dionysischen Tanzes.«
Freyre spricht in seinem Text viele Grundthemen des brasilianischen Fußballs an - aber die besondere Betonung liegt auf der Bedeutung der afrobrasilianischen Herkunft der Spieler. Die Lobeshymne Freyres hatte 1938 eine ganz andere politische Brisanz als heute. Freyre kämpfte dafür, rassistische Interpretationen Brasiliens zu überwinden, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur allzu präsent waren. Mit Freyre wurde der Fußball zu einem zentralen Bestandteil eines neuen nationalen Mythos: der »democracia racial« (»Rassendemokratie«).
Hatten die rassistischen Konstruktionen und Interpretationen der Nation die Präsenz von Schwarzen und »MulattInnen« bislang als Grund für die Minderwertigkeit der Nation angesehen und die »Verweißung« der Bevölkerung als Heilmittel angepriesen, galt nun gerade die Vermischung der »Rassen« als etwas positives. Die Idee der »Rassendemokratie« blieb dennoch problematisch, da sie die reale Diskriminierung hinter einem Ideal verschwinden ließ.
Die Rede vom Straßenköterkomplex
Erst 1950 fand wieder eine WM statt - dieses Mal in Brasilien. Sie endete mit einer dramatischen Niederlage Brasiliens im entscheidenden Spiel gegen Uruguay vor 200.000 ZuschauerInnen im Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro. Die Misserfolge des brasilianischen Wunderfußballs auch in den folgenden Jahren provozierten Nelson Rodrigues zu einer der wichtigsten Interpretationen Brasiliens im 20. Jahrhundert.
Im Rückblick auf eine 2:4-Niederlage Brasiliens gegen England am 9. Mai 1956 in London entwickelte Rodrigues seine Theorie des Straßenköterkomplexes: »Unter dem Straßenköterkomplex verstehe ich das Unterlegenheitsgefühl, in dem sich der Brasilianer aus freien Stücken gegenüber dem Rest der Welt einrichtet. Und zwar auf allen Gebieten, vor allem aber beim Fußball. (...) Warum haben wir in Wembley verloren? Weil die brasilianische Mannschaft vor dem blonden, sommersprossigen englischen Kader kuschte und winselte. (...) Der Brasilianer muss sich klar werden, dass er kein Straßenköter ist. (...) Ich wiederhole: Straßenköter sein oder nicht, das ist die Frage.«
Nun, die Antwort ist bekannt: Brasilien überwand den Straßenköterkomplex in Schweden und Chile. Im Endspiel von 1958 triumphierte die Seleção mit 5:2 über Gastgeber Schweden. Nelson Rodrigues schrieb euphorisch: »Brasilien hat sich selbst entdeckt. (...) Der Sieg wird alle unsere Beziehungen mit der Welt beeinflussen. (...) Der Brasilianer hielt sich immer für einen unheilbaren Halunken und beneidete den Engländer. Heute, mit unserer untadeligen Disziplin, haben wir bewiesen: Der wahre Engländer, der einzige Engländer ist der Brasilianer.«
Aber wie das so ist mit Komplexen - sie lassen sich kaum ein für alle Mal erledigen. Mit seiner Diagnose hatte Rodrigues die Nation auf die Couch gelegt - und sie ließ sich das anscheinend gern gefallen, denn keine andere Charakterisierung Brasiliens war so einflussreich. Selbst die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff bezog sich noch des Öfteren auf den »Straßenköterkomplex«, um im April 2013 zu verkünden, Brasilien habe diesen nun endgültig überwunden und sei auch politisch und ökonomisch zu einem »Siegerland« geworden. Als sie das in ihrer Rede zur Eröffnung des Confederations Cup in Brasília im Juni 2013 wiederholte, während im ganzen Land die Proteste eskalierten, kamen jedoch wieder Zweifel auf, ob Brasilien denn nun wirklich ein »Siegerland« sei.
Aber zurück zu Freyre. Mit seiner Beschwörung des »flamboyanten Mulattentums« der Mannschaft von 1938 legte er den Grundstein für den wirkmächtigen Mythos, demzufolge der brasilianische Fußball grundlegend anders sei als der europäische. Was Freyre noch als dionysischen Tanz bezeichnete, wurde später zum »futebol-arte«, zum Kunstfußball.
Seitdem durchzieht eine leidenschaftliche Debatte die brasilianische Gesellschaft: Kann Brasilien durch diesen anderen Fußball erfolgreich sein oder hilft nur die gnadenlose Anpassung an den europäischen Stil, den »futebol de resultados« (Ergebnisfußball)? Kann sich im Fußball eine andere Identität ausdrücken, die gerade auf der Differenz beruht? Die VerteidigerInnen des futebol-arte wollen dies, hoffen dies.
Es ist eine populäre Debatte, in der nicht nur Fragen des Fußballs, sondern Grundfragen nationaler Identität verhandelt werden. Und immer wieder tauchen Spieler auf, die die Hoffnung auf einen Fußball der puren Lust neu beleben: Man schaue sich nur einige Videos von Neymar an, dem brasilianischen Fußballprofi, der beim FC Barcelona unter Vertrag steht.
Der Traum vom »futebol-arte«
Trotzdem ist Vorsicht geboten - auch der futebol-arte steht unter Erfolgsdruck, und sicherlich ist die angenommene Dichotomie eine grobe Vereinfachung. Vielleicht ist auch der futebol-arte eine Konstruktion, die eher in der Theorie als in der Praxis existiert. Der futebol-arte ist ein Traum vom Fußball - und gerade als Traum und Idee erweist er sich als »reiche Sinnquelle«, wie der Philosoph und Soziologe Pablo Alabarces schreibt. Und er erzählt nicht nur einen Traum vom Fußball, sondern eben auch den Traum von Identitäten, die sich auf die Kreativität des Körpers, auf das Dribbeln, auf Musikalität begründen. Er ist etwas anderes als der kapitalistische Geist des Erfolges, auch wenn er mit ihm in der Praxis untrennbar verbunden ist.
Dem Traum vom Kunstfußball droht die größte Gefahr daher vielleicht nicht von seinem alten und wohlbekannten Widerpart, dem Ergebnisfußball. Wie der futebol-arte zu einer Marketingstrategie werden kann, zeigte Nike vor der WM 2006 durch seine Kampagne »Joga Bonito«. Eingeleitet von dem Fußballrebellen Éric Cantona (!) konnte man in den Clips die blendend aufgelegten schwarzen brasilianischen Stars Ronaldo, Ronaldinho und Robinho bei ihren Späßen bewundern.
Die Idee des futebol-arte passt in eine Zeit, in der sich die großen Erzählungen der Nation, des Vaterlandes und der Identität auflösen. Aus den imaginierten Gemeinschaften der Nation drohen - so der argentinisch-mexikanische Kulturwissenschaftler Néstor García Canclini - Interpretationsgemeinschaften von KonsumentInnen zu werden. Identitäten werden immer mehr durch den Konsum bestimmt und sind abhängig davon, was man besitzt. Der futebol-arte wird kombiniert mit einem Nationalismus des Marktes, der Vergnügen statt großer nationaler Erzählungen verspricht.
Vor jeder Männer-Fußballweltmeisterschaft nutzen das brasilianische Fernsehen und insbesondere die Werbung die grüngelben Farben der Flagge und des Teams. So zieht heute das Vaterland die Fußballschuhe an. Keiner verkörpert dies wohl mehr als Neymar: Aufgrund seiner genialen Dribblings ist er der Hoffnungsträger des futebol-arte und gleichzeitig ein idealer Werbeträger.
Das Wunschbild der Nation vermischt sich vor der WM mit den Bildern der Werbung, die das nationale Pathos ohne Scham reklamiert. Auf die Spitze getrieben hat diesen neuen Nationalismus des Marktes die argentinische Biermarke Quilmes in ihren berühmten Clips. (3) Die mit dem »jogo bonito« (schönen Spiel) aufgeladene nationalistische Propaganda repräsentiert kein nationales Projekt mehr.
Und so treffen die Worte des Argentiniers Pablo Alabarces auch auf Brasilien zu: »Die ökonomischen, politischen, sozialen und historischen Probleme unserer Gesellschaft lassen sich nur auf der Ebene des Realen lösen. Diese Weisheit behält ihre Gültigkeit ... trotz der Werbekampagne der Brauerei Quilmes. Die Krise, die Nation, unsere gemeinsame Zukunft werden nicht im Fußballstadion geklärt. Schon gar nicht im Fernsehen. Aber möglicherweise auf den Straßen und in der Politik.« (3) Genau das haben Millionen BrasilianerInnen im Juni 2013 gezeigt, aber offen bleibt doch die Frage, ob in dem Traum vom anderen, schönen Fußball auch der Traum von einer anderen, besseren Welt aufgehoben ist.
Thomas Fatheuer ist Mitherausgeber des jüngst im VSA-Verlag erschienenen Buchs »Fußball in Brasilien: Widerstand und Utopie«.
Anmerkungen:
1) Auf portugiesisch findet sich der Artikel mit dem Titel »Football mulato« unter oglobo.globo.com.
2) Die Werbeclips von Quilmes, in denen auch mal Gott auftritt, sind berühmt für ihre pathetische Erhöhung der argentinischen Nationalmannschaft. Quilmes gehört inzwischen zur brasilianisch-belgischen Gruppe Anheuser-Busch InBev, dem größten Bierkonzern der Welt.
3) Pablo Alabarces: Für Messi sterben? Der Fußball und die Erfindung der argentinischen Nation. Berlin 2010, S. 272.