Unchain the game!
WM in Brasilien Die Bolz-WM - eines der größten Alternativfußballfestivals Deutschlands
Von Christopher Vogel
Wenn am Abend des 13. Juli 2014 in Rio de Janeiro das Finale der FIFA-WM(TM) ausgespielt wird, stehen in Kassel die offiziellen BolzweltmeisterInnen schon fest. Zum achten Mal richtet der Freizeitsportclub Dynamo Windrad vom 4. bis zum 13. Juli eines der größten Alternativfußballfestivals Deutschlands aus. Immer parallel zur offiziellen Männer-Fußballweltmeisterschaft findet hier seit 1986 die sogenannte Bolz-WM statt.
Waren zu Beginn nur deutsche Teams am Start, entwickelte sich die Bolz-WM immer mehr zu einem globalen Fußballfest der anderen Art, das zeigt, was Fußballkultur auch sein kann. Dabei kann Dynamo Windrad auf eine lange Tradition in der Auseinandersetzung mit der vermutlich korruptesten Organisation der Welt und ihrer Verbände zurückschauen.
Antiimperialistische Grüße aus der DDR
1982 gründete sich in Kassel der FSC Dynamo Windrad. Nachdem sie jahrelang Freizeitfußball auf Kasseler Bolzplätzen gespielt hatte, beantragte die bunte Gruppe von (Kunst-)Studenten die Mitgliedschaft im Hessischen Fußballverband (HFV), um an ein städtisches Trainingsgelände zu kommen und in der Kreisklasse B anzutreten.
Doch der HFV lehnte die Mitgliedschaft ab. Offizielle Begründung: Der Name »Dynamo« erinnere zu sehr an die Gepflogenheiten des Ostblocks, man könne daher »bei allem Wohlwollen« keine Mitgliedschaft erteilen. Den Fehdehandschuh des stockkonservativen Verbandes nahmen die Dynamos gerne auf und klagten über mehrere Instanzen - erfolglos. So machte sich der Verein in der Tat auf, die Gepflogenheiten des Ostblocks kennenzulernen.
Ein Antrag auf Mitgliedschaft im DDR-Fußballverband scheiterte jedoch ebenso, auch wenn die DDR-Funktionäre ihre solidarischen, antiimperialistischen Grüße ausrichten ließen. Selbst das Angebot, nur Auswärtsspiele in Thüringen auszutragen und aufs Heimrecht zu verzichten, konnte den DDR-Verband nicht umstimmen. Es folgten Auslandsfahrten in die UdSSR, die DDR, nach Kuba und China.
Das erste Spiel im russischen Jaroslawl erfolgte gegen den damaligen Zweitligisten vor etwa 10.000 ZuschauerInnen. Diese erwarteten wohl, eine westdeutsche Mannschaft sei automatisch leistungsstark. Es muss Spielern, ZuschauerInnen und Funktionären schon merkwürdig vorgekommen sein, als sich die Kasseler Spieler, die alles andere als fit aussahen, beim Aufwärmen eine letzte Zigarette gönnten. Immerhin merkten die Sowjets recht schnell, dass kein Vergleich auf Augenhöhe zustande kommen würde, gewannen aber dennoch nur 5:3.
Doch auch in der UdSSR legten sich die Dynamos mit reaktionären Funktionären an. Den Empfang nach dem Spiel verließen sie, weil nur Funktionäre, aber keine Spieler zugelassen waren. Abends flogen sie aus einer Kneipe, nachdem sie »Sonderzug nach Pankow« angestimmt hatten. In der DDR entgleisten 1989 einem Parteisekretär jegliche Gesichtszüge, als er nach seiner Rede von einem Dynamo-Spieler gefragt wurde, wie es denn komme, dass gerade massenhaft BürgerInnen über Ungarn in den Westen machten, wenn doch alles so toll sei in der DDR.
Mit der Wiedervereinigung ging das Kapitel der Ost-West-Konfrontation auch für Dynamo Windrad zu Ende. Brüstete sich der HFV-Vorsitzende noch 1990, man habe völlig richtig daran getan, Dynamo Windrad die Mitgliedschaft zu verweigern, schickte der Verband 1991 kommentarlos einen Aufnahmebescheid, weil inzwischen ja Dynamo Dresden in der Bundesliga spielte.
Zur Bolz-WM treten Teams aus aller Welt an
Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks ließ auch bei Dynamo Windrad die Sinnkrise nicht lange auf sich warten. Jahrelang wurde diskutiert, ob der Verein sich auflösen solle, weil er ja nun im Establishment angekommen sei, und was denn überhaupt noch alternativ an Dynamo sei. Aus den StudentInnen waren Eltern, KünstlerInnen und andere Berufstätige geworden.
Doch anstelle der Auflösung setzten die Dynamos schließlich auf Expansion. Es gründeten sich neue Abteilungen abseits des Fußballs, wie Eltern-Kind-Turnen, Volleyball, Frauensport und Segeln. Heute hat Dynamo Windrad etwa 1.000 Mitglieder in 24 Abteilungen und zählt zu den größten Sportvereinen Kassels. Die inhaltliche Sinnkrise hat sich inzwischen auch relativiert: Es gibt eine eigene Halle für sozialpädagogische Sportangebote, Arbeit mit Flüchtlingen und immer wieder sportkulturelle Veranstaltungen.
Zur diesjährigen Bolz-WM werden nicht nur Teams aus Deutschland erwartet - darunter auch einige, bestehend aus Flüchtlingen, denen für die Teilnahme die Residenzpflicht gelockert wird. Teams aus England, Italien, Norwegen, Türkei, Bolivien und ein Straßenfußballprojekt aus Indien sind ebenfalls angemeldet. Die Teilnahme afrikanischer Teams scheitert trotz guter Kontakte seit Jahren an Visaschwierigkeiten.
Über die zehn Tage verteilt gibt es Turniere für Kinder, Jugendliche, Menschen mit Handicap und ein breites Kulturprogramm, wie z.B. eine Ausstellung zum Thema Arbeitersport in Deutschland bis 1933. Letzteres erfolgt als bewusste Rückbesinnung auf eine Zeit, in der linke SportlerInnen ihre eigenen Vereine gründeten, weil ihnen der offizielle Sportbetrieb zu reaktionär und leistungsbezogen war.
Die Frage, wie alternative Fußballkultur im 21. Jahrhundert abseits der FIFA/UEFA/DFB-Misere gelebt werden kann, beschäftigt die Dynamos in Kassel also noch immer. Fertige Antworten gibt es nicht, dafür vielfältige Versuche. So wird z.B. das Finale der Bolz-WM als dreiseitiges Spiel ausgetragen: drei Teams, drei Tore, ein Ball, auf einem Feld - gleichzeitig. Das beansprucht nicht nur intellektuell (während des Spiels müssen ständig Koalitionen eingegangen, aber auch wieder aufgekündigt werden), sondern sendet auch ein Signal an die Alternativfußballszene, dass Gewinnen nicht alles ist und Fußball mehr sein kann als elf gegen elf. Und so lautet das Motto der diesjährigen Bolz-WM auch folgerichtig: Unchain the game!
Christopher Vogel ist Rechtsaußen (!) bei den Alten Herren in der Kreisliga B Kassel und im Vorstand von Dynamo Windrad.
Infos zur Bolz-WM unter www.bolz-wm.de.